Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. landtage verlangte, da stieß sie nicht nur in Sachsen und Neuvorpommern,wo das alte Zunftwesen noch fortdauerte, auf zähen Widerstand; auch die Stände von Preußen, Altpommern, Posen, Westphalen erhoben heftige Beschwerden wider den Unsegen der Gewerbefreiheit. In Westphalen schürte der hochconservative Schriftsteller H. Schultz die zünftlerische Be- wegung. Am Lautesten klagte die Mark; Marwitz und der feudale Adel kämpften Schulter an Schulter mit den Berliner Stadtverordneten und ihrem ständischen Wortführer Kaufmann Knoblauch. Alle diese Unzu- friedenen beriefen sich zuversichtlich auf ihre persönliche Erfahrung, die sie nach der alten Unart des politischen Dilettantismus kurzweg zur allge- meinen Regel erhoben, und meinten damit die Schulweisheit des grünen Tisches überwunden zu haben; sie klagten über die unerträgliche Ueber- füllung des Gewerbs, während in Wahrheit die Zahl der Handwerker in den ersten zehn Friedensjahren nicht schneller als die Bevölkerung ge- stiegen war und erst seit 1825 etwas rascher wuchs. Der ganze Zug der Zeit ging wider die Gewerbefreiheit. Die romantische Dichtung, die histo- rische Rechtslehre und neuerdings auch Hegel's Philosophie weckten den Deutschen wieder die Freude an dem vielgestaltigen Genossenschaftswesen ihrer Vorzeit; die Aufhebung der Zünfte erschien jetzt Manchem nur wie ein bureaukratischer Gewaltstreich wider die germanische Freiheit. In den kleinen Staaten des Nordwestens wurde das Zunftwesen III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. landtage verlangte, da ſtieß ſie nicht nur in Sachſen und Neuvorpommern,wo das alte Zunftweſen noch fortdauerte, auf zähen Widerſtand; auch die Stände von Preußen, Altpommern, Poſen, Weſtphalen erhoben heftige Beſchwerden wider den Unſegen der Gewerbefreiheit. In Weſtphalen ſchürte der hochconſervative Schriftſteller H. Schultz die zünftleriſche Be- wegung. Am Lauteſten klagte die Mark; Marwitz und der feudale Adel kämpften Schulter an Schulter mit den Berliner Stadtverordneten und ihrem ſtändiſchen Wortführer Kaufmann Knoblauch. Alle dieſe Unzu- friedenen beriefen ſich zuverſichtlich auf ihre perſönliche Erfahrung, die ſie nach der alten Unart des politiſchen Dilettantismus kurzweg zur allge- meinen Regel erhoben, und meinten damit die Schulweisheit des grünen Tiſches überwunden zu haben; ſie klagten über die unerträgliche Ueber- füllung des Gewerbs, während in Wahrheit die Zahl der Handwerker in den erſten zehn Friedensjahren nicht ſchneller als die Bevölkerung ge- ſtiegen war und erſt ſeit 1825 etwas raſcher wuchs. Der ganze Zug der Zeit ging wider die Gewerbefreiheit. Die romantiſche Dichtung, die hiſto- riſche Rechtslehre und neuerdings auch Hegel’s Philoſophie weckten den Deutſchen wieder die Freude an dem vielgeſtaltigen Genoſſenſchaftsweſen ihrer Vorzeit; die Aufhebung der Zünfte erſchien jetzt Manchem nur wie ein bureaukratiſcher Gewaltſtreich wider die germaniſche Freiheit. In den kleinen Staaten des Nordweſtens wurde das Zunftweſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0392" n="376"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.</fw><lb/> landtage verlangte, da ſtieß ſie nicht nur in Sachſen und Neuvorpommern,<lb/> wo das alte Zunftweſen noch fortdauerte, auf zähen Widerſtand; auch die<lb/> Stände von Preußen, Altpommern, Poſen, Weſtphalen erhoben heftige<lb/> Beſchwerden wider den Unſegen der Gewerbefreiheit. In Weſtphalen<lb/> ſchürte der hochconſervative Schriftſteller H. Schultz die zünftleriſche Be-<lb/> wegung. Am Lauteſten klagte die Mark; Marwitz und der feudale Adel<lb/> kämpften Schulter an Schulter mit den Berliner Stadtverordneten und<lb/> ihrem ſtändiſchen Wortführer Kaufmann Knoblauch. 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Rau, der die Lehren Adam<lb/> Smith’s zuerſt in Süddeutſchland einbürgerte, hielt die Vorzüge des<lb/> Zunftweſens noch für überwiegend. Dazu die allgemeine Furcht dieſes<lb/> verarmten Geſchlechts vor dem Geſpenſte der Uebervölkerung. Jener freudige<lb/> Glaube an den ewigen Fortſchritt der Menſchheit, der das achtzehnte<lb/> Jahrhundert ſo muthig und ſo leichtſinnig ſtimmte, war unter den Stürmen<lb/> der Revolution längſt verflogen. Der aufgeklärte Abſolutismus hatte einſt<lb/> der Rekruten und Steuerzahler nie genug haben können; dieſe neue, durch<lb/> tauſend Drangſale heimgeſuchte Zeit fragte beſorgt, wie alle die Neuge-<lb/> borenen ihr Brod finden ſollten. Malthus’ Bevölkerungslehre fand, durch<lb/> den Kieler Hegewiſch in Deutſchland eingeführt, zahlreiche Gläubige und<lb/> ward von der kleinbürgerlichen Aengſtlichkeit vielfach mißverſtanden: ſtatt<lb/> durch die Entfeſſelung der wirthſchaftlichen Kräfte freien Raum zu ſchaffen<lb/> für ein unternehmendes junges Geſchlecht, ſollte der Staat vielmehr die<lb/> vorhandenen Hausſtände in ihrem Erwerbe ſchützen, die Eheſchließung er-<lb/> ſchweren und ſich der Nahrungsloſen allenfalls durch die Auswanderung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [376/0392]
III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
landtage verlangte, da ſtieß ſie nicht nur in Sachſen und Neuvorpommern,
wo das alte Zunftweſen noch fortdauerte, auf zähen Widerſtand; auch die
Stände von Preußen, Altpommern, Poſen, Weſtphalen erhoben heftige
Beſchwerden wider den Unſegen der Gewerbefreiheit. In Weſtphalen
ſchürte der hochconſervative Schriftſteller H. Schultz die zünftleriſche Be-
wegung. Am Lauteſten klagte die Mark; Marwitz und der feudale Adel
kämpften Schulter an Schulter mit den Berliner Stadtverordneten und
ihrem ſtändiſchen Wortführer Kaufmann Knoblauch. Alle dieſe Unzu-
friedenen beriefen ſich zuverſichtlich auf ihre perſönliche Erfahrung, die
ſie nach der alten Unart des politiſchen Dilettantismus kurzweg zur allge-
meinen Regel erhoben, und meinten damit die Schulweisheit des grünen
Tiſches überwunden zu haben; ſie klagten über die unerträgliche Ueber-
füllung des Gewerbs, während in Wahrheit die Zahl der Handwerker in
den erſten zehn Friedensjahren nicht ſchneller als die Bevölkerung ge-
ſtiegen war und erſt ſeit 1825 etwas raſcher wuchs. Der ganze Zug der
Zeit ging wider die Gewerbefreiheit. Die romantiſche Dichtung, die hiſto-
riſche Rechtslehre und neuerdings auch Hegel’s Philoſophie weckten den
Deutſchen wieder die Freude an dem vielgeſtaltigen Genoſſenſchaftsweſen
ihrer Vorzeit; die Aufhebung der Zünfte erſchien jetzt Manchem nur wie
ein bureaukratiſcher Gewaltſtreich wider die germaniſche Freiheit.
In den kleinen Staaten des Nordweſtens wurde das Zunftweſen
nach dem Sturze der Fremdherrſchaft überall wiederhergeſtellt, zur Freude
der großen Mehrzahl des ſeßhaften Bürgerſtandes. Auch der ſüddeutſche
Liberalismus bekannte ſich noch nicht zu den wirthſchaftlichen Theorien der
franzöſiſchen Revolution, weil der gewaltige Bahnbrecher der Gewerbe-
freiheit, die Großinduſtrie noch kaum in das Oberland eingedrungen war.
Rotteck warnte nachdrücklich vor der ſchwindelhaften Pfuſcherarbeit des
freien Gewerbes, und ſelbſt der junge C. H. Rau, der die Lehren Adam
Smith’s zuerſt in Süddeutſchland einbürgerte, hielt die Vorzüge des
Zunftweſens noch für überwiegend. Dazu die allgemeine Furcht dieſes
verarmten Geſchlechts vor dem Geſpenſte der Uebervölkerung. Jener freudige
Glaube an den ewigen Fortſchritt der Menſchheit, der das achtzehnte
Jahrhundert ſo muthig und ſo leichtſinnig ſtimmte, war unter den Stürmen
der Revolution längſt verflogen. Der aufgeklärte Abſolutismus hatte einſt
der Rekruten und Steuerzahler nie genug haben können; dieſe neue, durch
tauſend Drangſale heimgeſuchte Zeit fragte beſorgt, wie alle die Neuge-
borenen ihr Brod finden ſollten. Malthus’ Bevölkerungslehre fand, durch
den Kieler Hegewiſch in Deutſchland eingeführt, zahlreiche Gläubige und
ward von der kleinbürgerlichen Aengſtlichkeit vielfach mißverſtanden: ſtatt
durch die Entfeſſelung der wirthſchaftlichen Kräfte freien Raum zu ſchaffen
für ein unternehmendes junges Geſchlecht, ſollte der Staat vielmehr die
vorhandenen Hausſtände in ihrem Erwerbe ſchützen, die Eheſchließung er-
ſchweren und ſich der Nahrungsloſen allenfalls durch die Auswanderung
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