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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Uebertritt der Herzogin von Köthen.
Lutherlande ihr Lager auf; die verrufene Freistätte des deutschen Schmug-
gelhandels wurde für drei Jahrzehnte zugleich die Hochburg der clericalen
Umtriebe im Nordosten. König Friedrich Wilhelm antwortete seiner
Schwester mit schonungsloser Aufrichtigkeit: "Ich muß Ihnen ganz frei
heraussagen, daß meines Dafürhaltens nie ein unglücklicherer, unseligerer
Entschluß von Ihnen gefaßt werden konnte." Dann stellte er ihr Alles
vor, was ihm seine feste evangelische Ueberzeugung eingab, und schloß:
"Heraus mußte es. Habe ich Unrecht, so helfe mir Gott!" Bald darauf
erschien diese Antwort in den Zeitungen, mit Genehmigung des Königs.
Ihn kümmerte es nicht, daß die katholischen Blätter und der anhaltische
Hofrath v. Schütz in einer eigenen Gegenschrift über seine Härte klagten.
Er wollte vor der Welt ein Zeugniß ablegen von der unveränderten Ge-
sinnung seines Hauses, das sich bisher des Convertitenwesens streng er-
wehrt hatte; auch drängte es ihn, die gehässigen Gerüchte zu widerlegen,
welche ihn selber katholischer Neigungen bezichtigten. Mit Absicht hatte
er in seinen Brief die Versicherung eingeflochten, daß die erneuerte alte
evangelische Agende der unirten Landeskirche auf dem Boden der reinen
biblischen Lehre stehe; denn eben durch diese Agende sowie durch die katho-
lischen Heirathen im königlichen Hause waren neuerdings manche ängst-
liche Protestanten an der Glaubenstreue des frommen Monarchen irr
geworden. --

Unauslöschlich hafteten in Friedrich Wilhelm's Seele die religiösen
Eindrücke, die er einst nach der ersten Einnahme von Paris in England
empfangen hatte; mit Rührung gedachte er der tiefen Stille des Sabbaths,
der dichten Schaaren der Kirchgänger in den Straßen Londons, der feier-
lichen Würde des anglicanischen Gottesdienstes. Die tiefdunklen Schatten-
seiten der englischen Kirchlichkeit blieben dem Fürsten, der dort in der
Fremde nur die Oberfläche des Lebens kennen lernte, freilich verborgen;
er bemerkte nicht, wie viel herzlose Werkheiligkeit sich hinter dieser Andacht
verbirgt, noch wie viel geheime Sünden die unnatürliche Strenge der
englischen Sonntagsfeier hervorruft. Als er dann heimkehrte, gehobenen
Herzens, voll demüthiger Dankbarkeit gegen die Gnade Gottes, die er so
sichtbar über sich und seinem Volke hatte walten sehen, da erschrak er
über seine spärlich besuchten deutschen Kirchen und fühlte sich erkältet durch
die dürftige Nüchternheit ihres Cultus, der im Zeitalter der Aufklärung
allmählich allen Adel der Form, Alles was die Gemüther erbaut und er-
hebt, so gänzlich abgestreift hatte, daß eine Predigt über einige moralische
Gemeinplätze oft den ganzen Inhalt des Gottesdienstes ausmachte. Der
alte Rationalismus wollte, wie einer seiner Führer selbstzufrieden sagte,
"den Interessen der Menschheit und des Staates dienen mit schonender
Berücksichtigung des im Volke noch nicht erstorbenen Christenglaubens".
Unter der langjährigen Herrschaft dieser sittlich achtungswerthen, aber
durchaus unkirchlichen Richtung waren mit dem Dogma auch die Cultus-

Uebertritt der Herzogin von Köthen.
Lutherlande ihr Lager auf; die verrufene Freiſtätte des deutſchen Schmug-
gelhandels wurde für drei Jahrzehnte zugleich die Hochburg der clericalen
Umtriebe im Nordoſten. König Friedrich Wilhelm antwortete ſeiner
Schweſter mit ſchonungsloſer Aufrichtigkeit: „Ich muß Ihnen ganz frei
herausſagen, daß meines Dafürhaltens nie ein unglücklicherer, unſeligerer
Entſchluß von Ihnen gefaßt werden konnte.“ Dann ſtellte er ihr Alles
vor, was ihm ſeine feſte evangeliſche Ueberzeugung eingab, und ſchloß:
„Heraus mußte es. Habe ich Unrecht, ſo helfe mir Gott!“ Bald darauf
erſchien dieſe Antwort in den Zeitungen, mit Genehmigung des Königs.
Ihn kümmerte es nicht, daß die katholiſchen Blätter und der anhaltiſche
Hofrath v. Schütz in einer eigenen Gegenſchrift über ſeine Härte klagten.
Er wollte vor der Welt ein Zeugniß ablegen von der unveränderten Ge-
ſinnung ſeines Hauſes, das ſich bisher des Convertitenweſens ſtreng er-
wehrt hatte; auch drängte es ihn, die gehäſſigen Gerüchte zu widerlegen,
welche ihn ſelber katholiſcher Neigungen bezichtigten. Mit Abſicht hatte
er in ſeinen Brief die Verſicherung eingeflochten, daß die erneuerte alte
evangeliſche Agende der unirten Landeskirche auf dem Boden der reinen
bibliſchen Lehre ſtehe; denn eben durch dieſe Agende ſowie durch die katho-
liſchen Heirathen im königlichen Hauſe waren neuerdings manche ängſt-
liche Proteſtanten an der Glaubenstreue des frommen Monarchen irr
geworden. —

Unauslöſchlich hafteten in Friedrich Wilhelm’s Seele die religiöſen
Eindrücke, die er einſt nach der erſten Einnahme von Paris in England
empfangen hatte; mit Rührung gedachte er der tiefen Stille des Sabbaths,
der dichten Schaaren der Kirchgänger in den Straßen Londons, der feier-
lichen Würde des anglicaniſchen Gottesdienſtes. Die tiefdunklen Schatten-
ſeiten der engliſchen Kirchlichkeit blieben dem Fürſten, der dort in der
Fremde nur die Oberfläche des Lebens kennen lernte, freilich verborgen;
er bemerkte nicht, wie viel herzloſe Werkheiligkeit ſich hinter dieſer Andacht
verbirgt, noch wie viel geheime Sünden die unnatürliche Strenge der
engliſchen Sonntagsfeier hervorruft. Als er dann heimkehrte, gehobenen
Herzens, voll demüthiger Dankbarkeit gegen die Gnade Gottes, die er ſo
ſichtbar über ſich und ſeinem Volke hatte walten ſehen, da erſchrak er
über ſeine ſpärlich beſuchten deutſchen Kirchen und fühlte ſich erkältet durch
die dürftige Nüchternheit ihres Cultus, der im Zeitalter der Aufklärung
allmählich allen Adel der Form, Alles was die Gemüther erbaut und er-
hebt, ſo gänzlich abgeſtreift hatte, daß eine Predigt über einige moraliſche
Gemeinplätze oft den ganzen Inhalt des Gottesdienſtes ausmachte. Der
alte Rationalismus wollte, wie einer ſeiner Führer ſelbſtzufrieden ſagte,
„den Intereſſen der Menſchheit und des Staates dienen mit ſchonender
Berückſichtigung des im Volke noch nicht erſtorbenen Chriſtenglaubens“.
Unter der langjährigen Herrſchaft dieſer ſittlich achtungswerthen, aber
durchaus unkirchlichen Richtung waren mit dem Dogma auch die Cultus-

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[395/0411] Uebertritt der Herzogin von Köthen. Lutherlande ihr Lager auf; die verrufene Freiſtätte des deutſchen Schmug- gelhandels wurde für drei Jahrzehnte zugleich die Hochburg der clericalen Umtriebe im Nordoſten. König Friedrich Wilhelm antwortete ſeiner Schweſter mit ſchonungsloſer Aufrichtigkeit: „Ich muß Ihnen ganz frei herausſagen, daß meines Dafürhaltens nie ein unglücklicherer, unſeligerer Entſchluß von Ihnen gefaßt werden konnte.“ Dann ſtellte er ihr Alles vor, was ihm ſeine feſte evangeliſche Ueberzeugung eingab, und ſchloß: „Heraus mußte es. Habe ich Unrecht, ſo helfe mir Gott!“ Bald darauf erſchien dieſe Antwort in den Zeitungen, mit Genehmigung des Königs. Ihn kümmerte es nicht, daß die katholiſchen Blätter und der anhaltiſche Hofrath v. Schütz in einer eigenen Gegenſchrift über ſeine Härte klagten. Er wollte vor der Welt ein Zeugniß ablegen von der unveränderten Ge- ſinnung ſeines Hauſes, das ſich bisher des Convertitenweſens ſtreng er- wehrt hatte; auch drängte es ihn, die gehäſſigen Gerüchte zu widerlegen, welche ihn ſelber katholiſcher Neigungen bezichtigten. Mit Abſicht hatte er in ſeinen Brief die Verſicherung eingeflochten, daß die erneuerte alte evangeliſche Agende der unirten Landeskirche auf dem Boden der reinen bibliſchen Lehre ſtehe; denn eben durch dieſe Agende ſowie durch die katho- liſchen Heirathen im königlichen Hauſe waren neuerdings manche ängſt- liche Proteſtanten an der Glaubenstreue des frommen Monarchen irr geworden. — Unauslöſchlich hafteten in Friedrich Wilhelm’s Seele die religiöſen Eindrücke, die er einſt nach der erſten Einnahme von Paris in England empfangen hatte; mit Rührung gedachte er der tiefen Stille des Sabbaths, der dichten Schaaren der Kirchgänger in den Straßen Londons, der feier- lichen Würde des anglicaniſchen Gottesdienſtes. Die tiefdunklen Schatten- ſeiten der engliſchen Kirchlichkeit blieben dem Fürſten, der dort in der Fremde nur die Oberfläche des Lebens kennen lernte, freilich verborgen; er bemerkte nicht, wie viel herzloſe Werkheiligkeit ſich hinter dieſer Andacht verbirgt, noch wie viel geheime Sünden die unnatürliche Strenge der engliſchen Sonntagsfeier hervorruft. Als er dann heimkehrte, gehobenen Herzens, voll demüthiger Dankbarkeit gegen die Gnade Gottes, die er ſo ſichtbar über ſich und ſeinem Volke hatte walten ſehen, da erſchrak er über ſeine ſpärlich beſuchten deutſchen Kirchen und fühlte ſich erkältet durch die dürftige Nüchternheit ihres Cultus, der im Zeitalter der Aufklärung allmählich allen Adel der Form, Alles was die Gemüther erbaut und er- hebt, ſo gänzlich abgeſtreift hatte, daß eine Predigt über einige moraliſche Gemeinplätze oft den ganzen Inhalt des Gottesdienſtes ausmachte. Der alte Rationalismus wollte, wie einer ſeiner Führer ſelbſtzufrieden ſagte, „den Intereſſen der Menſchheit und des Staates dienen mit ſchonender Berückſichtigung des im Volke noch nicht erſtorbenen Chriſtenglaubens“. Unter der langjährigen Herrſchaft dieſer ſittlich achtungswerthen, aber durchaus unkirchlichen Richtung waren mit dem Dogma auch die Cultus-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/411>, abgerufen am 24.11.2024.