Ein mächtiger Bundesgenosse erstand der bureaukratischen Selbstge- nügsamkeit in der Staatslehre der herrschenden Pilosophenschule. Fast noch überschwänglicher als die Beamten selbst pries Hegel den Staat der Intelligenz. Er fand in dem preußischen Beamtenthum das alte Ideal der Philosophen, die Herrschaft der Wissenden verwirklicht, und nach Schülerart des Meisters Gedanken übertreibend, erwies der Jurist Sietze in den tollen Dithyramben seiner preußischen Staats- und Rechtsgeschichte (1829) geradezu die begriffsmäßige Vollkommenheit der preußischen Ver- fassung. Da war Preußen "eine Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes um den Weltchoral zu leiten", das preußische Recht die Frucht des Selbstbewußtseins von Europa, die Verkörperung des göttlichen Wortes; zum Schluß die Weissagung: "Preußen wird alle Völker beherrschen, nicht durch Ketten, aber durch seinen Geist." So wunderliche Verirrungen trieb das Stillleben dieses literarischen Zeitalters hervor: der rüstige Staat, der durch den Schrecken seiner siegreichen Waffen als Störenfried der alten Staatengesellschaft emporgekommen war, sollte als weltbürgerlicher Schulmeister seine Tage friedlich beschließen! Diese harmlose Ansicht von Preußens historischem Berufe begann auch im Auslande bereits Anklang zu finden. Die liberalen Redner der französischen Kammer pflegten den preußischen Staat, obgleich er ihnen sonst kaum der Beachtung werth schien, als das Musterland ernster wissenschaftlicher Bildung zu feiern. Royer Collard gestand: "Ihr habt die Freiheit des Unterrichts, wir die Freiheit der Presse," und V. Cousin, den die Thorheit der Dema- gogenverfolger eine Zeit lang in Berlin festgehalten hatte, hielt nach der Heimkehr, der erlittenen Unbill hochherzig vergessend, begeisterte Vorträge über die Wunder der Hegel'schen Philosophie und des preußischen Schul- wesens. --
Die Preußen blickten mit Stolz auf ihren Staat und stimmten aus vollem Herzen ein, als Spontini's mächtige Hymne Borussia zuerst auf dem Hallischen Musikfeste 1829 erklang. Und doch hatte diese Nation schon längst das Alter erreicht, das der Kämpfe eines freien öffentlichen Lebens bedarf, um seine Cultur gesund zu erhalten. Die gerühmte Bildung des Staates der Intelligenz zeigte der schwächlichen, krankhaften Züge genug. Welch einen seltsamen Anblick boten doch die Zustände der Hauptstadt mit ihrer Fülle edler geistiger Kräfte und ihrem abgeschmackten, kindisch un- reifen Philisterthum. Selbst nach deutschen Begriffen war Berlin, obwohl der Verkehr beständig wuchs, noch immer eine arme Stadt. Eine Spiegel- scheibe in einem Fenster des königlichen Palastes, ein Geschenk des russischen Kaisers, war die einzige in der Residenz und wurde ebenso andächtig be- wundert wie das neue Muschelgrotten-Zimmer in Fuchs' Conditorei unter den Linden oder die überaus bescheidenen Gaslaternen, die seit 1826 in den Hauptstraßen leuchteten. Von dem socialen Unfrieden der Groß- städte blieben diese fleißigen Hunderttausende noch ganz verschont; denn
Die Blüthezeit der Bureaukratie.
Ein mächtiger Bundesgenoſſe erſtand der bureaukratiſchen Selbſtge- nügſamkeit in der Staatslehre der herrſchenden Piloſophenſchule. Faſt noch überſchwänglicher als die Beamten ſelbſt pries Hegel den Staat der Intelligenz. Er fand in dem preußiſchen Beamtenthum das alte Ideal der Philoſophen, die Herrſchaft der Wiſſenden verwirklicht, und nach Schülerart des Meiſters Gedanken übertreibend, erwies der Juriſt Sietze in den tollen Dithyramben ſeiner preußiſchen Staats- und Rechtsgeſchichte (1829) geradezu die begriffsmäßige Vollkommenheit der preußiſchen Ver- faſſung. Da war Preußen „eine Rieſenharfe, ausgeſpannt im Garten Gottes um den Weltchoral zu leiten“, das preußiſche Recht die Frucht des Selbſtbewußtſeins von Europa, die Verkörperung des göttlichen Wortes; zum Schluß die Weiſſagung: „Preußen wird alle Völker beherrſchen, nicht durch Ketten, aber durch ſeinen Geiſt.“ So wunderliche Verirrungen trieb das Stillleben dieſes literariſchen Zeitalters hervor: der rüſtige Staat, der durch den Schrecken ſeiner ſiegreichen Waffen als Störenfried der alten Staatengeſellſchaft emporgekommen war, ſollte als weltbürgerlicher Schulmeiſter ſeine Tage friedlich beſchließen! Dieſe harmloſe Anſicht von Preußens hiſtoriſchem Berufe begann auch im Auslande bereits Anklang zu finden. Die liberalen Redner der franzöſiſchen Kammer pflegten den preußiſchen Staat, obgleich er ihnen ſonſt kaum der Beachtung werth ſchien, als das Muſterland ernſter wiſſenſchaftlicher Bildung zu feiern. Royer Collard geſtand: „Ihr habt die Freiheit des Unterrichts, wir die Freiheit der Preſſe,“ und V. Couſin, den die Thorheit der Dema- gogenverfolger eine Zeit lang in Berlin feſtgehalten hatte, hielt nach der Heimkehr, der erlittenen Unbill hochherzig vergeſſend, begeiſterte Vorträge über die Wunder der Hegel’ſchen Philoſophie und des preußiſchen Schul- weſens. —
Die Preußen blickten mit Stolz auf ihren Staat und ſtimmten aus vollem Herzen ein, als Spontini’s mächtige Hymne Boruſſia zuerſt auf dem Halliſchen Muſikfeſte 1829 erklang. Und doch hatte dieſe Nation ſchon längſt das Alter erreicht, das der Kämpfe eines freien öffentlichen Lebens bedarf, um ſeine Cultur geſund zu erhalten. Die gerühmte Bildung des Staates der Intelligenz zeigte der ſchwächlichen, krankhaften Züge genug. Welch einen ſeltſamen Anblick boten doch die Zuſtände der Hauptſtadt mit ihrer Fülle edler geiſtiger Kräfte und ihrem abgeſchmackten, kindiſch un- reifen Philiſterthum. Selbſt nach deutſchen Begriffen war Berlin, obwohl der Verkehr beſtändig wuchs, noch immer eine arme Stadt. Eine Spiegel- ſcheibe in einem Fenſter des königlichen Palaſtes, ein Geſchenk des ruſſiſchen Kaiſers, war die einzige in der Reſidenz und wurde ebenſo andächtig be- wundert wie das neue Muſchelgrotten-Zimmer in Fuchs’ Conditorei unter den Linden oder die überaus beſcheidenen Gaslaternen, die ſeit 1826 in den Hauptſtraßen leuchteten. Von dem ſocialen Unfrieden der Groß- ſtädte blieben dieſe fleißigen Hunderttauſende noch ganz verſchont; denn
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Die Blüthezeit der Bureaukratie.
Ein mächtiger Bundesgenoſſe erſtand der bureaukratiſchen Selbſtge-
nügſamkeit in der Staatslehre der herrſchenden Piloſophenſchule. Faſt
noch überſchwänglicher als die Beamten ſelbſt pries Hegel den Staat der
Intelligenz. Er fand in dem preußiſchen Beamtenthum das alte Ideal
der Philoſophen, die Herrſchaft der Wiſſenden verwirklicht, und nach
Schülerart des Meiſters Gedanken übertreibend, erwies der Juriſt Sietze
in den tollen Dithyramben ſeiner preußiſchen Staats- und Rechtsgeſchichte
(1829) geradezu die begriffsmäßige Vollkommenheit der preußiſchen Ver-
faſſung. Da war Preußen „eine Rieſenharfe, ausgeſpannt im Garten
Gottes um den Weltchoral zu leiten“, das preußiſche Recht die Frucht
des Selbſtbewußtſeins von Europa, die Verkörperung des göttlichen Wortes;
zum Schluß die Weiſſagung: „Preußen wird alle Völker beherrſchen,
nicht durch Ketten, aber durch ſeinen Geiſt.“ So wunderliche Verirrungen
trieb das Stillleben dieſes literariſchen Zeitalters hervor: der rüſtige Staat,
der durch den Schrecken ſeiner ſiegreichen Waffen als Störenfried der
alten Staatengeſellſchaft emporgekommen war, ſollte als weltbürgerlicher
Schulmeiſter ſeine Tage friedlich beſchließen! Dieſe harmloſe Anſicht von
Preußens hiſtoriſchem Berufe begann auch im Auslande bereits Anklang
zu finden. Die liberalen Redner der franzöſiſchen Kammer pflegten den
preußiſchen Staat, obgleich er ihnen ſonſt kaum der Beachtung werth
ſchien, als das Muſterland ernſter wiſſenſchaftlicher Bildung zu feiern.
Royer Collard geſtand: „Ihr habt die Freiheit des Unterrichts, wir
die Freiheit der Preſſe,“ und V. Couſin, den die Thorheit der Dema-
gogenverfolger eine Zeit lang in Berlin feſtgehalten hatte, hielt nach der
Heimkehr, der erlittenen Unbill hochherzig vergeſſend, begeiſterte Vorträge
über die Wunder der Hegel’ſchen Philoſophie und des preußiſchen Schul-
weſens. —
Die Preußen blickten mit Stolz auf ihren Staat und ſtimmten aus
vollem Herzen ein, als Spontini’s mächtige Hymne Boruſſia zuerſt auf dem
Halliſchen Muſikfeſte 1829 erklang. Und doch hatte dieſe Nation ſchon
längſt das Alter erreicht, das der Kämpfe eines freien öffentlichen Lebens
bedarf, um ſeine Cultur geſund zu erhalten. Die gerühmte Bildung des
Staates der Intelligenz zeigte der ſchwächlichen, krankhaften Züge genug.
Welch einen ſeltſamen Anblick boten doch die Zuſtände der Hauptſtadt mit
ihrer Fülle edler geiſtiger Kräfte und ihrem abgeſchmackten, kindiſch un-
reifen Philiſterthum. Selbſt nach deutſchen Begriffen war Berlin, obwohl
der Verkehr beſtändig wuchs, noch immer eine arme Stadt. Eine Spiegel-
ſcheibe in einem Fenſter des königlichen Palaſtes, ein Geſchenk des ruſſiſchen
Kaiſers, war die einzige in der Reſidenz und wurde ebenſo andächtig be-
wundert wie das neue Muſchelgrotten-Zimmer in Fuchs’ Conditorei unter
den Linden oder die überaus beſcheidenen Gaslaternen, die ſeit 1826 in
den Hauptſtraßen leuchteten. Von dem ſocialen Unfrieden der Groß-
ſtädte blieben dieſe fleißigen Hunderttauſende noch ganz verſchont; denn
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/441>, abgerufen am 24.11.2024.
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