III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
den rohen Soldatenpöbel der alten Zeit hatte die allgemeine Wehrpflicht hinausgefegt, und das Proletariat der Fabriken war erst im Werden.
Um die Kämpfe des Völkerlebens bekümmerte sich nur ein kleiner Kreis von Beamten und Gelehrten; der echte Berliner betrachtete den politi- schen Stumpfsinn geradezu als einen Vorzug seiner "intellectuellen Bildung" und spottete mit jener selbstgenügsamen Ironie, die an der Spree für geistreich galt, über die politische Leidenschaftlichkeit anderer Nationen. Die Censoren hatten gute Tage, da die drei einzigen politischen Blätter mit einander um den Preis saftloser Langweiligkeit wetteiferten; nur die Staats- zeitung brachte zuweilen einmal einen gründlichen Artikel über die Elb- schifffahrt oder die Klassensteuer aus der Feder eines Geheimen Raths. Der Besprechung preußischer Zustände ging das Leibblatt des Bürgers, die Vossische ebenso sorgsam aus dem Wege wie die etwas vornehmere Spener'sche Zeitung. Als beim Einzuge der Braut des Kronprinzen an zwanzig Menschen im Gedränge umgekommen waren, wagte kein Berliner Blatt auch nur der Thatsache zu gedenken, denn wie leicht konnte sich die Polizeibehörde dadurch beleidigt fühlen. Nur die Lokal-Satire, die überall im deutschen Stillleben blühte, und der Theaterklatsch erregten die Theilnahme der großstädtischen Leserwelt; und wie kläglich war selbst diese belletristische Plauderei in der Berliner Presse vertreten. Weder der Herausgeber des "Gesellschafters" F. W. Gubitz, ein kreuzbraver Mann, der in einem langen Schriftstellerleben niemals einen einfachen, fehler- freien deutschen Satz fertig brachte, noch der schreibselige Ludwig Rellstab, der gefürchtete aber gänzlich harmlose Feuilletonist der Vossischen Zeitung, konnte sich mit den Kritikern des Stuttgarter Morgenblattes irgend ver- gleichen.
Einige Jahre lang trieb auch Saphir in Berlin sein Wesen, ein ungarischer Jude ohne Geist, ohne Geschmack, sogar ohne die gewöhn- lichsten Schulkenntnisse, aber von unverwüstlicher Frechheit, ein Meister in der Verfertigung jener faulen Wortwitze, welche nicht zufällig den Namen Kalauer erhalten haben, da der Märker allein unter allen Ger- manen sie genießbar findet. Mit Saphir zog die geschäftliche, allein auf Geldgewinn berechnete journalistische Betriebsamkeit, die in England und Frankreich längst heimisch war, zuerst in Berlin ein. In zwei Zeitschriften zugleich, dem Curier und der Schnellpost witzelte er über "Theater, Mode, Eleganz und Lokalität" der Hauptstadt, fast noch geistloser als unsere heutigen Witzblätter, und buhlte mit allen Mitteln der Marktschreierei um die Gunst "seiner lieben, goldenen Pränumeranten." Da er vor dem könig- lichen Hause und den Behörden in tiefster Unterthänigkeit erstarb, so er- laubte ihm die Censur nach Belieben gegen Dichter und Künstler, Sänger und Schauspieler seine Klopffechterkünste zu treiben. Das Publicum aber ließ sich von ihm Alles bieten, sogar diese Verse: "Die Dichtkunst weibisch ist, das wißt Ihr. Drum Poe-sie sie heißt, nicht Poe-er." Er war der
III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
den rohen Soldatenpöbel der alten Zeit hatte die allgemeine Wehrpflicht hinausgefegt, und das Proletariat der Fabriken war erſt im Werden.
Um die Kämpfe des Völkerlebens bekümmerte ſich nur ein kleiner Kreis von Beamten und Gelehrten; der echte Berliner betrachtete den politi- ſchen Stumpfſinn geradezu als einen Vorzug ſeiner „intellectuellen Bildung“ und ſpottete mit jener ſelbſtgenügſamen Ironie, die an der Spree für geiſtreich galt, über die politiſche Leidenſchaftlichkeit anderer Nationen. Die Cenſoren hatten gute Tage, da die drei einzigen politiſchen Blätter mit einander um den Preis ſaftloſer Langweiligkeit wetteiferten; nur die Staats- zeitung brachte zuweilen einmal einen gründlichen Artikel über die Elb- ſchifffahrt oder die Klaſſenſteuer aus der Feder eines Geheimen Raths. Der Beſprechung preußiſcher Zuſtände ging das Leibblatt des Bürgers, die Voſſiſche ebenſo ſorgſam aus dem Wege wie die etwas vornehmere Spener’ſche Zeitung. Als beim Einzuge der Braut des Kronprinzen an zwanzig Menſchen im Gedränge umgekommen waren, wagte kein Berliner Blatt auch nur der Thatſache zu gedenken, denn wie leicht konnte ſich die Polizeibehörde dadurch beleidigt fühlen. Nur die Lokal-Satire, die überall im deutſchen Stillleben blühte, und der Theaterklatſch erregten die Theilnahme der großſtädtiſchen Leſerwelt; und wie kläglich war ſelbſt dieſe belletriſtiſche Plauderei in der Berliner Preſſe vertreten. Weder der Herausgeber des „Geſellſchafters“ F. W. Gubitz, ein kreuzbraver Mann, der in einem langen Schriftſtellerleben niemals einen einfachen, fehler- freien deutſchen Satz fertig brachte, noch der ſchreibſelige Ludwig Rellſtab, der gefürchtete aber gänzlich harmloſe Feuilletoniſt der Voſſiſchen Zeitung, konnte ſich mit den Kritikern des Stuttgarter Morgenblattes irgend ver- gleichen.
Einige Jahre lang trieb auch Saphir in Berlin ſein Weſen, ein ungariſcher Jude ohne Geiſt, ohne Geſchmack, ſogar ohne die gewöhn- lichſten Schulkenntniſſe, aber von unverwüſtlicher Frechheit, ein Meiſter in der Verfertigung jener faulen Wortwitze, welche nicht zufällig den Namen Kalauer erhalten haben, da der Märker allein unter allen Ger- manen ſie genießbar findet. Mit Saphir zog die geſchäftliche, allein auf Geldgewinn berechnete journaliſtiſche Betriebſamkeit, die in England und Frankreich längſt heimiſch war, zuerſt in Berlin ein. In zwei Zeitſchriften zugleich, dem Curier und der Schnellpoſt witzelte er über „Theater, Mode, Eleganz und Lokalität“ der Hauptſtadt, faſt noch geiſtloſer als unſere heutigen Witzblätter, und buhlte mit allen Mitteln der Marktſchreierei um die Gunſt „ſeiner lieben, goldenen Pränumeranten.“ Da er vor dem könig- lichen Hauſe und den Behörden in tiefſter Unterthänigkeit erſtarb, ſo er- laubte ihm die Cenſur nach Belieben gegen Dichter und Künſtler, Sänger und Schauſpieler ſeine Klopffechterkünſte zu treiben. Das Publicum aber ließ ſich von ihm Alles bieten, ſogar dieſe Verſe: „Die Dichtkunſt weibiſch iſt, das wißt Ihr. Drum Poe-ſie ſie heißt, nicht Poe-er.“ Er war der
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III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
den rohen Soldatenpöbel der alten Zeit hatte die allgemeine Wehrpflicht
hinausgefegt, und das Proletariat der Fabriken war erſt im Werden.
Um die Kämpfe des Völkerlebens bekümmerte ſich nur ein kleiner
Kreis von Beamten und Gelehrten; der echte Berliner betrachtete den politi-
ſchen Stumpfſinn geradezu als einen Vorzug ſeiner „intellectuellen Bildung“
und ſpottete mit jener ſelbſtgenügſamen Ironie, die an der Spree für
geiſtreich galt, über die politiſche Leidenſchaftlichkeit anderer Nationen. Die
Cenſoren hatten gute Tage, da die drei einzigen politiſchen Blätter mit
einander um den Preis ſaftloſer Langweiligkeit wetteiferten; nur die Staats-
zeitung brachte zuweilen einmal einen gründlichen Artikel über die Elb-
ſchifffahrt oder die Klaſſenſteuer aus der Feder eines Geheimen Raths.
Der Beſprechung preußiſcher Zuſtände ging das Leibblatt des Bürgers,
die Voſſiſche ebenſo ſorgſam aus dem Wege wie die etwas vornehmere
Spener’ſche Zeitung. Als beim Einzuge der Braut des Kronprinzen an
zwanzig Menſchen im Gedränge umgekommen waren, wagte kein Berliner
Blatt auch nur der Thatſache zu gedenken, denn wie leicht konnte ſich
die Polizeibehörde dadurch beleidigt fühlen. Nur die Lokal-Satire, die
überall im deutſchen Stillleben blühte, und der Theaterklatſch erregten
die Theilnahme der großſtädtiſchen Leſerwelt; und wie kläglich war ſelbſt
dieſe belletriſtiſche Plauderei in der Berliner Preſſe vertreten. Weder der
Herausgeber des „Geſellſchafters“ F. W. Gubitz, ein kreuzbraver Mann,
der in einem langen Schriftſtellerleben niemals einen einfachen, fehler-
freien deutſchen Satz fertig brachte, noch der ſchreibſelige Ludwig Rellſtab,
der gefürchtete aber gänzlich harmloſe Feuilletoniſt der Voſſiſchen Zeitung,
konnte ſich mit den Kritikern des Stuttgarter Morgenblattes irgend ver-
gleichen.
Einige Jahre lang trieb auch Saphir in Berlin ſein Weſen, ein
ungariſcher Jude ohne Geiſt, ohne Geſchmack, ſogar ohne die gewöhn-
lichſten Schulkenntniſſe, aber von unverwüſtlicher Frechheit, ein Meiſter
in der Verfertigung jener faulen Wortwitze, welche nicht zufällig den
Namen Kalauer erhalten haben, da der Märker allein unter allen Ger-
manen ſie genießbar findet. Mit Saphir zog die geſchäftliche, allein auf
Geldgewinn berechnete journaliſtiſche Betriebſamkeit, die in England und
Frankreich längſt heimiſch war, zuerſt in Berlin ein. In zwei Zeitſchriften
zugleich, dem Curier und der Schnellpoſt witzelte er über „Theater, Mode,
Eleganz und Lokalität“ der Hauptſtadt, faſt noch geiſtloſer als unſere
heutigen Witzblätter, und buhlte mit allen Mitteln der Marktſchreierei um
die Gunſt „ſeiner lieben, goldenen Pränumeranten.“ Da er vor dem könig-
lichen Hauſe und den Behörden in tiefſter Unterthänigkeit erſtarb, ſo er-
laubte ihm die Cenſur nach Belieben gegen Dichter und Künſtler, Sänger
und Schauſpieler ſeine Klopffechterkünſte zu treiben. Das Publicum aber
ließ ſich von ihm Alles bieten, ſogar dieſe Verſe: „Die Dichtkunſt weibiſch
iſt, das wißt Ihr. Drum Poe-ſie ſie heißt, nicht Poe-er.“ Er war der
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/442>, abgerufen am 24.11.2024.
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