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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
bereit hielt, aber auch jede tüchtige Kraft mit großherzigem Wohlwollen
und eindringendem Verständniß unterstützte. Verwöhnt durch die leichte
Anmuth der Pariser Salons wollte er sich in die Grobheit, in die dürftige
Enge der Heimath lange nicht finden und seufzte noch nach Jahren:
"Berlin, ik hev di dick en satt, du bist en blivst en Barenstadt." Aber
vom Tage seiner Heimkehr an war er eine sociale Macht. Er lenkte
die Blicke des Königs auf alles Neue und Lebendige, was sich in Kunst
und Wissenschaft regte. Er brachte die verwahrloste, durch den Ueber-
muth der Speculation fast erdrückte Naturforschung zuerst wieder zu
Ehren. Sobald er im Mendelssohn'schen Garten, in seinem vielbewun-
derten eisenfreien Kupferhäuschen seine magnetischen Beobachtungen be-
gann, schaarte sich ein Kreis junger Talente -- Encke, Dirichlet, Dove
-- um den Meister; Karl Ritter, der junge Baeyer und die anderen Ge-
nossen der neuen Geographischen Gesellschaft arbeiteten ihm in die Hände,
auf allen Gebieten der exakten Forschung erwachte ein rühriger Wetteifer.
Unvergeßlich war der Eindruck, als er gleich in seinem ersten Berliner Winter
in der Singakademie die öffentlichen Vorlesungen über physische Weltbe-
schreibung hielt, aus denen nachher der "Kosmos" hervorging, und mit
genialer Sicherheit, die Träumereien der Naturphilosophen fein und scharf
zurückweisend, das Programm der rein empirischen Naturbeobachtung auf-
stellte, welche bald alle Lebensgewohnheiten des neuen Jahrhunderts von
Grund aus umgestalten sollte. So kühn war die gelehrte Zunft in Deutsch-
land noch niemals auf den Markt hinausgetreten, und nur einem Manne
von Humboldt's Weltruhm konnte dies Wagniß gelingen. Er zeigte den
Deutschen zum ersten male, daß die strenge Fachwissenschaft gemeinver-
ständlich zu den Besten der Nation zu reden vermochte -- zur selben
Zeit, da Leopold Ranke mit seinem historischen Erstlingswerke den gleichen
Versuch unternahm.

Auch die Stellung der Gelehrten in der Gesellschaft ward durch
Humboldt gehoben -- was in diesem Lande der höfisch-bureaukratischen
Ranggliederung doch nicht unwichtig war. Schon im Jahre 1822 hatte
Oken, der sich hier auf seinem eigensten Gebiete ungleich glücklicher be-
währte als in der Politik, einen deutschen Naturforschertag nach Leipzig
berufen; auf die erste Versammlung, der nur dreizehn Mitglieder bei-
wohnten, waren seitdem mehrere gefolgt, und als für den Herbst 1828
ein neuer Congreß nach Berlin ausgeschrieben wurde, nahm ihn Hum-
boldt unter den Mantel seines großen Namens. Der Wissenschaft brachten
solche Wandervereine unmittelbar zwar nur wenig Vortheil -- denn in
der Forschung wie in der Kunst gehen alle schöpferischen Thaten von ein-
zelnen lichten Köpfen aus -- aber in einer Zeit, da das Reisen noch so
sehr erschwert war, boten sie manchem tüchtigen Gelehrten, der in der welt-
fremden Abgeschiedenheit seiner kleinen Universität versauerte, die einzig
mögliche Gelegenheit, aus der Kleinstädterei herauszuwachsen und mit

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
bereit hielt, aber auch jede tüchtige Kraft mit großherzigem Wohlwollen
und eindringendem Verſtändniß unterſtützte. Verwöhnt durch die leichte
Anmuth der Pariſer Salons wollte er ſich in die Grobheit, in die dürftige
Enge der Heimath lange nicht finden und ſeufzte noch nach Jahren:
„Berlin, ik hev di dick en ſatt, du biſt en blivſt en Barenſtadt.“ Aber
vom Tage ſeiner Heimkehr an war er eine ſociale Macht. Er lenkte
die Blicke des Königs auf alles Neue und Lebendige, was ſich in Kunſt
und Wiſſenſchaft regte. Er brachte die verwahrloſte, durch den Ueber-
muth der Speculation faſt erdrückte Naturforſchung zuerſt wieder zu
Ehren. Sobald er im Mendelsſohn’ſchen Garten, in ſeinem vielbewun-
derten eiſenfreien Kupferhäuschen ſeine magnetiſchen Beobachtungen be-
gann, ſchaarte ſich ein Kreis junger Talente — Encke, Dirichlet, Dove
— um den Meiſter; Karl Ritter, der junge Baeyer und die anderen Ge-
noſſen der neuen Geographiſchen Geſellſchaft arbeiteten ihm in die Hände,
auf allen Gebieten der exakten Forſchung erwachte ein rühriger Wetteifer.
Unvergeßlich war der Eindruck, als er gleich in ſeinem erſten Berliner Winter
in der Singakademie die öffentlichen Vorleſungen über phyſiſche Weltbe-
ſchreibung hielt, aus denen nachher der „Kosmos“ hervorging, und mit
genialer Sicherheit, die Träumereien der Naturphiloſophen fein und ſcharf
zurückweiſend, das Programm der rein empiriſchen Naturbeobachtung auf-
ſtellte, welche bald alle Lebensgewohnheiten des neuen Jahrhunderts von
Grund aus umgeſtalten ſollte. So kühn war die gelehrte Zunft in Deutſch-
land noch niemals auf den Markt hinausgetreten, und nur einem Manne
von Humboldt’s Weltruhm konnte dies Wagniß gelingen. Er zeigte den
Deutſchen zum erſten male, daß die ſtrenge Fachwiſſenſchaft gemeinver-
ſtändlich zu den Beſten der Nation zu reden vermochte — zur ſelben
Zeit, da Leopold Ranke mit ſeinem hiſtoriſchen Erſtlingswerke den gleichen
Verſuch unternahm.

Auch die Stellung der Gelehrten in der Geſellſchaft ward durch
Humboldt gehoben — was in dieſem Lande der höfiſch-bureaukratiſchen
Ranggliederung doch nicht unwichtig war. Schon im Jahre 1822 hatte
Oken, der ſich hier auf ſeinem eigenſten Gebiete ungleich glücklicher be-
währte als in der Politik, einen deutſchen Naturforſchertag nach Leipzig
berufen; auf die erſte Verſammlung, der nur dreizehn Mitglieder bei-
wohnten, waren ſeitdem mehrere gefolgt, und als für den Herbſt 1828
ein neuer Congreß nach Berlin ausgeſchrieben wurde, nahm ihn Hum-
boldt unter den Mantel ſeines großen Namens. Der Wiſſenſchaft brachten
ſolche Wandervereine unmittelbar zwar nur wenig Vortheil — denn in
der Forſchung wie in der Kunſt gehen alle ſchöpferiſchen Thaten von ein-
zelnen lichten Köpfen aus — aber in einer Zeit, da das Reiſen noch ſo
ſehr erſchwert war, boten ſie manchem tüchtigen Gelehrten, der in der welt-
fremden Abgeſchiedenheit ſeiner kleinen Univerſität verſauerte, die einzig
mögliche Gelegenheit, aus der Kleinſtädterei herauszuwachſen und mit

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[432/0448] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. bereit hielt, aber auch jede tüchtige Kraft mit großherzigem Wohlwollen und eindringendem Verſtändniß unterſtützte. Verwöhnt durch die leichte Anmuth der Pariſer Salons wollte er ſich in die Grobheit, in die dürftige Enge der Heimath lange nicht finden und ſeufzte noch nach Jahren: „Berlin, ik hev di dick en ſatt, du biſt en blivſt en Barenſtadt.“ Aber vom Tage ſeiner Heimkehr an war er eine ſociale Macht. Er lenkte die Blicke des Königs auf alles Neue und Lebendige, was ſich in Kunſt und Wiſſenſchaft regte. Er brachte die verwahrloſte, durch den Ueber- muth der Speculation faſt erdrückte Naturforſchung zuerſt wieder zu Ehren. Sobald er im Mendelsſohn’ſchen Garten, in ſeinem vielbewun- derten eiſenfreien Kupferhäuschen ſeine magnetiſchen Beobachtungen be- gann, ſchaarte ſich ein Kreis junger Talente — Encke, Dirichlet, Dove — um den Meiſter; Karl Ritter, der junge Baeyer und die anderen Ge- noſſen der neuen Geographiſchen Geſellſchaft arbeiteten ihm in die Hände, auf allen Gebieten der exakten Forſchung erwachte ein rühriger Wetteifer. Unvergeßlich war der Eindruck, als er gleich in ſeinem erſten Berliner Winter in der Singakademie die öffentlichen Vorleſungen über phyſiſche Weltbe- ſchreibung hielt, aus denen nachher der „Kosmos“ hervorging, und mit genialer Sicherheit, die Träumereien der Naturphiloſophen fein und ſcharf zurückweiſend, das Programm der rein empiriſchen Naturbeobachtung auf- ſtellte, welche bald alle Lebensgewohnheiten des neuen Jahrhunderts von Grund aus umgeſtalten ſollte. So kühn war die gelehrte Zunft in Deutſch- land noch niemals auf den Markt hinausgetreten, und nur einem Manne von Humboldt’s Weltruhm konnte dies Wagniß gelingen. Er zeigte den Deutſchen zum erſten male, daß die ſtrenge Fachwiſſenſchaft gemeinver- ſtändlich zu den Beſten der Nation zu reden vermochte — zur ſelben Zeit, da Leopold Ranke mit ſeinem hiſtoriſchen Erſtlingswerke den gleichen Verſuch unternahm. Auch die Stellung der Gelehrten in der Geſellſchaft ward durch Humboldt gehoben — was in dieſem Lande der höfiſch-bureaukratiſchen Ranggliederung doch nicht unwichtig war. Schon im Jahre 1822 hatte Oken, der ſich hier auf ſeinem eigenſten Gebiete ungleich glücklicher be- währte als in der Politik, einen deutſchen Naturforſchertag nach Leipzig berufen; auf die erſte Verſammlung, der nur dreizehn Mitglieder bei- wohnten, waren ſeitdem mehrere gefolgt, und als für den Herbſt 1828 ein neuer Congreß nach Berlin ausgeſchrieben wurde, nahm ihn Hum- boldt unter den Mantel ſeines großen Namens. Der Wiſſenſchaft brachten ſolche Wandervereine unmittelbar zwar nur wenig Vortheil — denn in der Forſchung wie in der Kunſt gehen alle ſchöpferiſchen Thaten von ein- zelnen lichten Köpfen aus — aber in einer Zeit, da das Reiſen noch ſo ſehr erſchwert war, boten ſie manchem tüchtigen Gelehrten, der in der welt- fremden Abgeſchiedenheit ſeiner kleinen Univerſität verſauerte, die einzig mögliche Gelegenheit, aus der Kleinſtädterei herauszuwachſen und mit

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/448>, abgerufen am 22.11.2024.