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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Motz.
hüten; "er kann nicht darauf beschränkt bleiben, durch Etats und Ver-
waltungsnormen nur die Zukunft nach seinen Ansichten zu regeln; auch
kann es ihm nicht helfen, die Vergangenheit nach todten Zahlen zu
meistern."*) --

Nach diesen Erwiderungen konnte die Entscheidung nicht zweifelhaft
sein. Schön's Ernennung wurde vom Kronprinzen und von Witzleben
warm empfohlen; doch er hatte sich selbst unmöglich gemacht, indem er die
Grundlagen der neuen Verwaltungsordnung wieder in Frage zu stellen
unternahm, und es bedurfte kaum noch der geheimen Warnungen Witt-
genstein's um den Ostpreußen zu beseitigen. Der König entschied sich für
Motz. Er ahnte in jenem Augenblicke selber nicht, wie segensreich dieser
Entschluß auf den Ganz der deutschen Geschichte einwirken sollte: Schön
hätte Deutschlands Handelseinheit nimmermehr begründet, seine preußische
Selbstgenügsamkeit fand für Motz's Zollvereinspläne nur Worte schnöden
Tadels.

Motz stand in seinem fünfzigsten Jahre, als er am 1. Juli 1825 sein
Amt übernahm, der einzige Staatsmann in einem Cabinet von Geschäfts-
männern. Auch dieser Kurhesse war einst, wie Eichhorn, durch den Glanz
der fridericianischen Zeiten aus seiner kleinstaatlichen Heimath in den
preußischen Staatsdienst hinübergeführt worden. Eine ungleich glänzendere
und doch nicht minder gediegene Natur als der stille gelehrte Maassen,
thatkräftig, wagelustig, voll kecken Selbstvertrauens, das sich oft in beißen-
den Sarkasmen äußerte, hatte der rüstige Naturalist in einer wechsel-
reichen praktischen Laufbahn alle Bücherweisheit verachten gelernt und doch
verstanden die lebendigen Ideen der Zeit sich anzueignen. Noch als Mi-
nister konnte er jüngere Freunde um ihre "gebräunte Landrathsfarbe"
beneiden. Das waren seine frohesten Tage gewesen, da er als junger
Landrath auf dem Eichsfelde bald zu Pferd bald mit der Jagdflinte auf
der Schulter seinen Kreis durchstreifte und die Bauern auf ihren Höfen
besuchte, selten mit Befehlen eingreifend, immer bereit dem geringen Manne
zu zeigen, wie man sich selber helfen könne, denn "Selbstthätigkeit ent-
spricht dem energischen Charakter des preußischen Volks." Dort gewöhnte
er sich den Bauernstand als den Kern der Nation zu schätzen: "lieber
die drückendsten Luxusauflagen, lieber wie Pitt alle Elemente besteuern,
als den Schweiß des Landmanns belasten." Der Friede von Tilsit zwang
ihn in die Dienste des verhaßten Königreichs Westphalen zu treten; er
leitete das Steuerwesen im Harzdepartement, erschien zweimal als Depu-
tirter bei dem Gaukelspiele des Kasseler Landtags und beobachtete voll froher

*) Denkschriften über die Finanzverwaltung: von Schönberg 16. Dec., Motz 17. Dec.,
Vincke 18. Dec., Schön 22. Dec. Motz an Lottum über den Etat, 21. Dec. 1824.
Motz, Denkschrift über die Provinzialminister (ohne Datum, offenbar aus derselben Zeit).
Witzleben's Tagebuch, 3., 31. Dec. 1824, 10. Jan. 1825. Vgl. Beilage 13.

Motz.
hüten; „er kann nicht darauf beſchränkt bleiben, durch Etats und Ver-
waltungsnormen nur die Zukunft nach ſeinen Anſichten zu regeln; auch
kann es ihm nicht helfen, die Vergangenheit nach todten Zahlen zu
meiſtern.“*)

Nach dieſen Erwiderungen konnte die Entſcheidung nicht zweifelhaft
ſein. Schön’s Ernennung wurde vom Kronprinzen und von Witzleben
warm empfohlen; doch er hatte ſich ſelbſt unmöglich gemacht, indem er die
Grundlagen der neuen Verwaltungsordnung wieder in Frage zu ſtellen
unternahm, und es bedurfte kaum noch der geheimen Warnungen Witt-
genſtein’s um den Oſtpreußen zu beſeitigen. Der König entſchied ſich für
Motz. Er ahnte in jenem Augenblicke ſelber nicht, wie ſegensreich dieſer
Entſchluß auf den Ganz der deutſchen Geſchichte einwirken ſollte: Schön
hätte Deutſchlands Handelseinheit nimmermehr begründet, ſeine preußiſche
Selbſtgenügſamkeit fand für Motz’s Zollvereinspläne nur Worte ſchnöden
Tadels.

Motz ſtand in ſeinem fünfzigſten Jahre, als er am 1. Juli 1825 ſein
Amt übernahm, der einzige Staatsmann in einem Cabinet von Geſchäfts-
männern. Auch dieſer Kurheſſe war einſt, wie Eichhorn, durch den Glanz
der fridericianiſchen Zeiten aus ſeiner kleinſtaatlichen Heimath in den
preußiſchen Staatsdienſt hinübergeführt worden. Eine ungleich glänzendere
und doch nicht minder gediegene Natur als der ſtille gelehrte Maaſſen,
thatkräftig, wageluſtig, voll kecken Selbſtvertrauens, das ſich oft in beißen-
den Sarkasmen äußerte, hatte der rüſtige Naturaliſt in einer wechſel-
reichen praktiſchen Laufbahn alle Bücherweisheit verachten gelernt und doch
verſtanden die lebendigen Ideen der Zeit ſich anzueignen. Noch als Mi-
niſter konnte er jüngere Freunde um ihre „gebräunte Landrathsfarbe“
beneiden. Das waren ſeine froheſten Tage geweſen, da er als junger
Landrath auf dem Eichsfelde bald zu Pferd bald mit der Jagdflinte auf
der Schulter ſeinen Kreis durchſtreifte und die Bauern auf ihren Höfen
beſuchte, ſelten mit Befehlen eingreifend, immer bereit dem geringen Manne
zu zeigen, wie man ſich ſelber helfen könne, denn „Selbſtthätigkeit ent-
ſpricht dem energiſchen Charakter des preußiſchen Volks.“ Dort gewöhnte
er ſich den Bauernſtand als den Kern der Nation zu ſchätzen: „lieber
die drückendſten Luxusauflagen, lieber wie Pitt alle Elemente beſteuern,
als den Schweiß des Landmanns belaſten.“ Der Friede von Tilſit zwang
ihn in die Dienſte des verhaßten Königreichs Weſtphalen zu treten; er
leitete das Steuerweſen im Harzdepartement, erſchien zweimal als Depu-
tirter bei dem Gaukelſpiele des Kaſſeler Landtags und beobachtete voll froher

*) Denkſchriften über die Finanzverwaltung: von Schönberg 16. Dec., Motz 17. Dec.,
Vincke 18. Dec., Schön 22. Dec. Motz an Lottum über den Etat, 21. Dec. 1824.
Motz, Denkſchrift über die Provinzialminiſter (ohne Datum, offenbar aus derſelben Zeit).
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[455/0471] Motz. hüten; „er kann nicht darauf beſchränkt bleiben, durch Etats und Ver- waltungsnormen nur die Zukunft nach ſeinen Anſichten zu regeln; auch kann es ihm nicht helfen, die Vergangenheit nach todten Zahlen zu meiſtern.“ *) — Nach dieſen Erwiderungen konnte die Entſcheidung nicht zweifelhaft ſein. Schön’s Ernennung wurde vom Kronprinzen und von Witzleben warm empfohlen; doch er hatte ſich ſelbſt unmöglich gemacht, indem er die Grundlagen der neuen Verwaltungsordnung wieder in Frage zu ſtellen unternahm, und es bedurfte kaum noch der geheimen Warnungen Witt- genſtein’s um den Oſtpreußen zu beſeitigen. Der König entſchied ſich für Motz. Er ahnte in jenem Augenblicke ſelber nicht, wie ſegensreich dieſer Entſchluß auf den Ganz der deutſchen Geſchichte einwirken ſollte: Schön hätte Deutſchlands Handelseinheit nimmermehr begründet, ſeine preußiſche Selbſtgenügſamkeit fand für Motz’s Zollvereinspläne nur Worte ſchnöden Tadels. Motz ſtand in ſeinem fünfzigſten Jahre, als er am 1. Juli 1825 ſein Amt übernahm, der einzige Staatsmann in einem Cabinet von Geſchäfts- männern. Auch dieſer Kurheſſe war einſt, wie Eichhorn, durch den Glanz der fridericianiſchen Zeiten aus ſeiner kleinſtaatlichen Heimath in den preußiſchen Staatsdienſt hinübergeführt worden. Eine ungleich glänzendere und doch nicht minder gediegene Natur als der ſtille gelehrte Maaſſen, thatkräftig, wageluſtig, voll kecken Selbſtvertrauens, das ſich oft in beißen- den Sarkasmen äußerte, hatte der rüſtige Naturaliſt in einer wechſel- reichen praktiſchen Laufbahn alle Bücherweisheit verachten gelernt und doch verſtanden die lebendigen Ideen der Zeit ſich anzueignen. Noch als Mi- niſter konnte er jüngere Freunde um ihre „gebräunte Landrathsfarbe“ beneiden. Das waren ſeine froheſten Tage geweſen, da er als junger Landrath auf dem Eichsfelde bald zu Pferd bald mit der Jagdflinte auf der Schulter ſeinen Kreis durchſtreifte und die Bauern auf ihren Höfen beſuchte, ſelten mit Befehlen eingreifend, immer bereit dem geringen Manne zu zeigen, wie man ſich ſelber helfen könne, denn „Selbſtthätigkeit ent- ſpricht dem energiſchen Charakter des preußiſchen Volks.“ Dort gewöhnte er ſich den Bauernſtand als den Kern der Nation zu ſchätzen: „lieber die drückendſten Luxusauflagen, lieber wie Pitt alle Elemente beſteuern, als den Schweiß des Landmanns belaſten.“ Der Friede von Tilſit zwang ihn in die Dienſte des verhaßten Königreichs Weſtphalen zu treten; er leitete das Steuerweſen im Harzdepartement, erſchien zweimal als Depu- tirter bei dem Gaukelſpiele des Kaſſeler Landtags und beobachtete voll froher *) Denkſchriften über die Finanzverwaltung: von Schönberg 16. Dec., Motz 17. Dec., Vincke 18. Dec., Schön 22. Dec. Motz an Lottum über den Etat, 21. Dec. 1824. Motz, Denkſchrift über die Provinzialminiſter (ohne Datum, offenbar aus derſelben Zeit). Witzleben’s Tagebuch, 3., 31. Dec. 1824, 10. Jan. 1825. Vgl. Beilage 13.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/471>, abgerufen am 22.11.2024.