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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Mark Meißen.
mal aus der Trümmerwelt Mitteldeutschlands eine lebenskräftige Staaten-
bildung aufstieg, schlug das Haus Sachsen seinen eigenen Bau in Stücke --
fast im selben Augenblicke, da Albrecht Achill die Untheilbarkeit der hohen-
zollerschen Kurlande für alle Zukunft sicherte.

Seit die Albertiner von den Ernestinern sich trennten und die Mark
Meißen des Kurhuts verlustig ging, sank dies alte Hauptland der Wet-
tiner für einige Jahrzehnte wieder in die Reihe der kleinen Territorien
herab und verharrte unter seinem gestrengen Herzog Georg noch lange
bei der alten Kirche, derweil die ernestinischen Gebiete die Heimath der Re-
formation wurden. Da wendet sich plötzlich das Blatt. Eine unwider-
stehliche Bewegung im Volke drängt auch das albertinische Sachsen in
das evangelische Lager hinüber, und in den kurzen zwölf Jahren seiner
dämonischen Heldenlaufbahn erhebt Herzog Moritz dies der Reformation
kaum gewonnene Land zur führenden Macht des deutschen Protestantis-
mus -- ein durch und durch politischer Kopf, der mit der Federkraft seiner
kühnen Entschlüsse in dem Zeitalter der zaudernden Betefürsten wildfremd
erscheint, gewaltig als Kriegsmann und aller hispanischen Lügenkünste
Meister -- und trotzdem nur der größte aller deutschen Kleinfürsten, der
begabteste Vertreter des ideenlosen Particularismus; denn kein Schimmer
eines großen nationalen oder kirchlichen Gedankens durchleuchtet die Irr-
gänge dieser Hauspolitik, die mit vollendeter Schlauheit doch blos den
armseligen Zweck verfolgt, Land und Leute zusammenzuraffen wo es auch
sei und dem wohlabgerundeten Kleinstaate die ungestörte Selbständigkeit
zu sichern. Durch den Verrath an der Sache seiner Glaubensgenossen
erwirbt sich der Judas von Meißen, wie das erbitterte protestantische Volk
ihn nennt, den Kurhut und die werthvollsten Besitzungen der Ernestiner.
Durch einen zweiten Verrath giebt er die lothringischen Bisthümer den
Franzosen preis, entreißt den Spaniern die Früchte des schmalkaldischen
Krieges, rettet dem Protestantismus das Dasein und demüthigt die kaiser-
liche Gewalt also, daß ihr von der alten Majestät nur noch der Name
bleibt; aber niemals erhebt sich sein Ehrgeiz zu dem Plane, ein evange-
lisches Kaiserthum oder irgend eine neue nationale Rechtsordnung auf den
Trümmern des zerstörten alten Reiches aufzurichten. Dann endet er in
einer wilden Fehde, die er selber durch seine Rebellion hervorgerufen,
urplötzlich wie ein Wandelstern. Das Tagewerk seines Lebens war gethan,
denn es hieße verzweifeln an der göttlichen Führung der Menschenge-
schicke, wenn Einer wähnen wollte, sie rufe den Mann des Schicksals vor
der Zeit von hinnen.

Unter Moritz's Nachfolger wurde der neue albertinische Kurstaat auf
kurze Zeit das bestverwaltete aller deutschen Territorien und auf lange
hinaus der Heerd der protestantischen Gelehrsamkeit. Zwei große Univer-
sitäten, die drei Fürstenschulen und zahlreiche kleinere Lehranstalten ver-
breiteten bis tief in die Massen hinein wissenschaftliche Bildung; Craco's

Die Mark Meißen.
mal aus der Trümmerwelt Mitteldeutſchlands eine lebenskräftige Staaten-
bildung aufſtieg, ſchlug das Haus Sachſen ſeinen eigenen Bau in Stücke —
faſt im ſelben Augenblicke, da Albrecht Achill die Untheilbarkeit der hohen-
zollerſchen Kurlande für alle Zukunft ſicherte.

Seit die Albertiner von den Erneſtinern ſich trennten und die Mark
Meißen des Kurhuts verluſtig ging, ſank dies alte Hauptland der Wet-
tiner für einige Jahrzehnte wieder in die Reihe der kleinen Territorien
herab und verharrte unter ſeinem geſtrengen Herzog Georg noch lange
bei der alten Kirche, derweil die erneſtiniſchen Gebiete die Heimath der Re-
formation wurden. Da wendet ſich plötzlich das Blatt. Eine unwider-
ſtehliche Bewegung im Volke drängt auch das albertiniſche Sachſen in
das evangeliſche Lager hinüber, und in den kurzen zwölf Jahren ſeiner
dämoniſchen Heldenlaufbahn erhebt Herzog Moritz dies der Reformation
kaum gewonnene Land zur führenden Macht des deutſchen Proteſtantis-
mus — ein durch und durch politiſcher Kopf, der mit der Federkraft ſeiner
kühnen Entſchlüſſe in dem Zeitalter der zaudernden Betefürſten wildfremd
erſcheint, gewaltig als Kriegsmann und aller hispaniſchen Lügenkünſte
Meiſter — und trotzdem nur der größte aller deutſchen Kleinfürſten, der
begabteſte Vertreter des ideenloſen Particularismus; denn kein Schimmer
eines großen nationalen oder kirchlichen Gedankens durchleuchtet die Irr-
gänge dieſer Hauspolitik, die mit vollendeter Schlauheit doch blos den
armſeligen Zweck verfolgt, Land und Leute zuſammenzuraffen wo es auch
ſei und dem wohlabgerundeten Kleinſtaate die ungeſtörte Selbſtändigkeit
zu ſichern. Durch den Verrath an der Sache ſeiner Glaubensgenoſſen
erwirbt ſich der Judas von Meißen, wie das erbitterte proteſtantiſche Volk
ihn nennt, den Kurhut und die werthvollſten Beſitzungen der Erneſtiner.
Durch einen zweiten Verrath giebt er die lothringiſchen Bisthümer den
Franzoſen preis, entreißt den Spaniern die Früchte des ſchmalkaldiſchen
Krieges, rettet dem Proteſtantismus das Daſein und demüthigt die kaiſer-
liche Gewalt alſo, daß ihr von der alten Majeſtät nur noch der Name
bleibt; aber niemals erhebt ſich ſein Ehrgeiz zu dem Plane, ein evange-
liſches Kaiſerthum oder irgend eine neue nationale Rechtsordnung auf den
Trümmern des zerſtörten alten Reiches aufzurichten. Dann endet er in
einer wilden Fehde, die er ſelber durch ſeine Rebellion hervorgerufen,
urplötzlich wie ein Wandelſtern. Das Tagewerk ſeines Lebens war gethan,
denn es hieße verzweifeln an der göttlichen Führung der Menſchenge-
ſchicke, wenn Einer wähnen wollte, ſie rufe den Mann des Schickſals vor
der Zeit von hinnen.

Unter Moritz’s Nachfolger wurde der neue albertiniſche Kurſtaat auf
kurze Zeit das beſtverwaltete aller deutſchen Territorien und auf lange
hinaus der Heerd der proteſtantiſchen Gelehrſamkeit. Zwei große Univer-
ſitäten, die drei Fürſtenſchulen und zahlreiche kleinere Lehranſtalten ver-
breiteten bis tief in die Maſſen hinein wiſſenſchaftliche Bildung; Craco’s

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[489/0505] Die Mark Meißen. mal aus der Trümmerwelt Mitteldeutſchlands eine lebenskräftige Staaten- bildung aufſtieg, ſchlug das Haus Sachſen ſeinen eigenen Bau in Stücke — faſt im ſelben Augenblicke, da Albrecht Achill die Untheilbarkeit der hohen- zollerſchen Kurlande für alle Zukunft ſicherte. Seit die Albertiner von den Erneſtinern ſich trennten und die Mark Meißen des Kurhuts verluſtig ging, ſank dies alte Hauptland der Wet- tiner für einige Jahrzehnte wieder in die Reihe der kleinen Territorien herab und verharrte unter ſeinem geſtrengen Herzog Georg noch lange bei der alten Kirche, derweil die erneſtiniſchen Gebiete die Heimath der Re- formation wurden. Da wendet ſich plötzlich das Blatt. Eine unwider- ſtehliche Bewegung im Volke drängt auch das albertiniſche Sachſen in das evangeliſche Lager hinüber, und in den kurzen zwölf Jahren ſeiner dämoniſchen Heldenlaufbahn erhebt Herzog Moritz dies der Reformation kaum gewonnene Land zur führenden Macht des deutſchen Proteſtantis- mus — ein durch und durch politiſcher Kopf, der mit der Federkraft ſeiner kühnen Entſchlüſſe in dem Zeitalter der zaudernden Betefürſten wildfremd erſcheint, gewaltig als Kriegsmann und aller hispaniſchen Lügenkünſte Meiſter — und trotzdem nur der größte aller deutſchen Kleinfürſten, der begabteſte Vertreter des ideenloſen Particularismus; denn kein Schimmer eines großen nationalen oder kirchlichen Gedankens durchleuchtet die Irr- gänge dieſer Hauspolitik, die mit vollendeter Schlauheit doch blos den armſeligen Zweck verfolgt, Land und Leute zuſammenzuraffen wo es auch ſei und dem wohlabgerundeten Kleinſtaate die ungeſtörte Selbſtändigkeit zu ſichern. Durch den Verrath an der Sache ſeiner Glaubensgenoſſen erwirbt ſich der Judas von Meißen, wie das erbitterte proteſtantiſche Volk ihn nennt, den Kurhut und die werthvollſten Beſitzungen der Erneſtiner. Durch einen zweiten Verrath giebt er die lothringiſchen Bisthümer den Franzoſen preis, entreißt den Spaniern die Früchte des ſchmalkaldiſchen Krieges, rettet dem Proteſtantismus das Daſein und demüthigt die kaiſer- liche Gewalt alſo, daß ihr von der alten Majeſtät nur noch der Name bleibt; aber niemals erhebt ſich ſein Ehrgeiz zu dem Plane, ein evange- liſches Kaiſerthum oder irgend eine neue nationale Rechtsordnung auf den Trümmern des zerſtörten alten Reiches aufzurichten. Dann endet er in einer wilden Fehde, die er ſelber durch ſeine Rebellion hervorgerufen, urplötzlich wie ein Wandelſtern. Das Tagewerk ſeines Lebens war gethan, denn es hieße verzweifeln an der göttlichen Führung der Menſchenge- ſchicke, wenn Einer wähnen wollte, ſie rufe den Mann des Schickſals vor der Zeit von hinnen. Unter Moritz’s Nachfolger wurde der neue albertiniſche Kurſtaat auf kurze Zeit das beſtverwaltete aller deutſchen Territorien und auf lange hinaus der Heerd der proteſtantiſchen Gelehrſamkeit. Zwei große Univer- ſitäten, die drei Fürſtenſchulen und zahlreiche kleinere Lehranſtalten ver- breiteten bis tief in die Maſſen hinein wiſſenſchaftliche Bildung; Craco’s

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/505>, abgerufen am 22.11.2024.