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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Kurfürst Wilhelm I.
des Nestors der deutschen Fürsten wollte man Alles dankbar hinnehmen.
Aber selbst die hessische Treue begann zu verzweifeln, als der alte "Sie-
benschläfer" die Geschichte der jüngsten sieben Jahre mit einem Federzuge
zu vernichten suchte. Alles sollte zurückkehren auf den Stand vom 1. Nov.
1806, die damals beurlaubten Regimenter sich in ihren alten Garnisonen
sofort versammeln, die Staatsdiener ihre alten Aemter wieder übernehmen;
der Major ward wieder Leutnant, der Rath Assessor -- wenn der Kur-
fürst nicht vorzog ihm gegen die Zahlung neuer Taxen seine neue Würde
zu bestätigen. Der Code Napoleon und die gesammte westphälische Gesetz-
gebung verschwanden mit einem Schlage; tausende von Mündigen wurden
entmündigt, weil die Volljährigkeit fortan wieder mit dem fünfundzwan-
zigsten Jahre statt des einundzwangigsten beginnen sollte. Als die Truppen
zu Neujahr 1816 aus dem französischen Festungskriege heimkehrten, mußten
sie alsbald die alten 15 Zoll langen Zöpfe wieder anlegen; 1 Zoll Abstand
vom Kopfe, 13 Zoll gewickelt, 1 Zoll Haardollen, so lautete der Befehl.

Wenn sich nur in dem Aberwitz dieser Restauration mindestens die
Ehrlichkeit des Fanatismus gezeigt hätte! Der legitimistische Feuereifer
dieses Fürsten aber vertrug sich sehr wohl mit kaufmännischer Berechnung.
Wie er die Domänenkäufer beraubte aber die neuen Erwerbungen König
Jeromes für sich behielt, so führte er auch die althessischen Steuern wieder
ein und ließ daneben die schwersten der westphälischen Abgaben fortbe-
stehen. Die westphälische Staatsschuld wurde für nichtig erklärt, doch von
der althessischen Schuld wollte der alte Herr auch nur ein Drittel aner-
kennen, weil sein Verwalter Jerome ihren Betrag gewaltsam herabgesetzt
hatte. Welch ein Gegensatz zu der peinlichen Ehrlichkeit des Königs von
Preußen!*) Das Zunftwesen lebte wieder auf, desgleichen die Frohnden
und die bäuerlichen Lasten, aber die Patrimonialgerichte blieben aufgehoben,
weil der Kurfürst seiner Ritterschaft mißtraute. Die jungen Männer,
deren Väter nicht den höheren Rangklassen angehörten, durften wieder
wie vormals nur mit besonderer landesherrlicher Erlaubniß studiren.

Die Staatsdiener, die unter der Fremdherrschaft doch mit einiger Sicher-
heit auf den Bezug ihrer Gehalte hatten rechnen können, sahen sich jetzt dem
Geize des Landesherrn wieder schutzlos preisgegeben. In der Armee ward
es bald zur Regel, daß die Beförderten ihren bisherigen Gehalt beibe-
hielten; es gab Generale mit Rittmeistersgehalt, kein einziger General
empfing was ihm gebührte. Durch diese Begaunerung seiner eigenen Be-
amten gelangte der Landesvater nach vier Jahren so weit, daß er in jedem
Monat über 36,000 Thlr. an Gehalten ersparte und in seiner unergründ-
lichen Kammerkasse verschwinden ließ.**) Nun gar die Verabschiedeten
nagten fast allesammt am Hungertuche. Wenn es galt einen verdienten

*) Vgl. o. III. 72.
**) Hänlein's Berichte, 22. Jan. 1816, 6. Nov. 1817.

Kurfürſt Wilhelm I.
des Neſtors der deutſchen Fürſten wollte man Alles dankbar hinnehmen.
Aber ſelbſt die heſſiſche Treue begann zu verzweifeln, als der alte „Sie-
benſchläfer“ die Geſchichte der jüngſten ſieben Jahre mit einem Federzuge
zu vernichten ſuchte. Alles ſollte zurückkehren auf den Stand vom 1. Nov.
1806, die damals beurlaubten Regimenter ſich in ihren alten Garniſonen
ſofort verſammeln, die Staatsdiener ihre alten Aemter wieder übernehmen;
der Major ward wieder Leutnant, der Rath Aſſeſſor — wenn der Kur-
fürſt nicht vorzog ihm gegen die Zahlung neuer Taxen ſeine neue Würde
zu beſtätigen. Der Code Napoleon und die geſammte weſtphäliſche Geſetz-
gebung verſchwanden mit einem Schlage; tauſende von Mündigen wurden
entmündigt, weil die Volljährigkeit fortan wieder mit dem fünfundzwan-
zigſten Jahre ſtatt des einundzwangigſten beginnen ſollte. Als die Truppen
zu Neujahr 1816 aus dem franzöſiſchen Feſtungskriege heimkehrten, mußten
ſie alsbald die alten 15 Zoll langen Zöpfe wieder anlegen; 1 Zoll Abſtand
vom Kopfe, 13 Zoll gewickelt, 1 Zoll Haardollen, ſo lautete der Befehl.

Wenn ſich nur in dem Aberwitz dieſer Reſtauration mindeſtens die
Ehrlichkeit des Fanatismus gezeigt hätte! Der legitimiſtiſche Feuereifer
dieſes Fürſten aber vertrug ſich ſehr wohl mit kaufmänniſcher Berechnung.
Wie er die Domänenkäufer beraubte aber die neuen Erwerbungen König
Jeromes für ſich behielt, ſo führte er auch die altheſſiſchen Steuern wieder
ein und ließ daneben die ſchwerſten der weſtphäliſchen Abgaben fortbe-
ſtehen. Die weſtphäliſche Staatsſchuld wurde für nichtig erklärt, doch von
der altheſſiſchen Schuld wollte der alte Herr auch nur ein Drittel aner-
kennen, weil ſein Verwalter Jerome ihren Betrag gewaltſam herabgeſetzt
hatte. Welch ein Gegenſatz zu der peinlichen Ehrlichkeit des Königs von
Preußen!*) Das Zunftweſen lebte wieder auf, desgleichen die Frohnden
und die bäuerlichen Laſten, aber die Patrimonialgerichte blieben aufgehoben,
weil der Kurfürſt ſeiner Ritterſchaft mißtraute. Die jungen Männer,
deren Väter nicht den höheren Rangklaſſen angehörten, durften wieder
wie vormals nur mit beſonderer landesherrlicher Erlaubniß ſtudiren.

Die Staatsdiener, die unter der Fremdherrſchaft doch mit einiger Sicher-
heit auf den Bezug ihrer Gehalte hatten rechnen können, ſahen ſich jetzt dem
Geize des Landesherrn wieder ſchutzlos preisgegeben. In der Armee ward
es bald zur Regel, daß die Beförderten ihren bisherigen Gehalt beibe-
hielten; es gab Generale mit Rittmeiſtersgehalt, kein einziger General
empfing was ihm gebührte. Durch dieſe Begaunerung ſeiner eigenen Be-
amten gelangte der Landesvater nach vier Jahren ſo weit, daß er in jedem
Monat über 36,000 Thlr. an Gehalten erſparte und in ſeiner unergründ-
lichen Kammerkaſſe verſchwinden ließ.**) Nun gar die Verabſchiedeten
nagten faſt alleſammt am Hungertuche. Wenn es galt einen verdienten

*) Vgl. o. III. 72.
**) Hänlein’s Berichte, 22. Jan. 1816, 6. Nov. 1817.
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[523/0539] Kurfürſt Wilhelm I. des Neſtors der deutſchen Fürſten wollte man Alles dankbar hinnehmen. Aber ſelbſt die heſſiſche Treue begann zu verzweifeln, als der alte „Sie- benſchläfer“ die Geſchichte der jüngſten ſieben Jahre mit einem Federzuge zu vernichten ſuchte. Alles ſollte zurückkehren auf den Stand vom 1. Nov. 1806, die damals beurlaubten Regimenter ſich in ihren alten Garniſonen ſofort verſammeln, die Staatsdiener ihre alten Aemter wieder übernehmen; der Major ward wieder Leutnant, der Rath Aſſeſſor — wenn der Kur- fürſt nicht vorzog ihm gegen die Zahlung neuer Taxen ſeine neue Würde zu beſtätigen. Der Code Napoleon und die geſammte weſtphäliſche Geſetz- gebung verſchwanden mit einem Schlage; tauſende von Mündigen wurden entmündigt, weil die Volljährigkeit fortan wieder mit dem fünfundzwan- zigſten Jahre ſtatt des einundzwangigſten beginnen ſollte. Als die Truppen zu Neujahr 1816 aus dem franzöſiſchen Feſtungskriege heimkehrten, mußten ſie alsbald die alten 15 Zoll langen Zöpfe wieder anlegen; 1 Zoll Abſtand vom Kopfe, 13 Zoll gewickelt, 1 Zoll Haardollen, ſo lautete der Befehl. Wenn ſich nur in dem Aberwitz dieſer Reſtauration mindeſtens die Ehrlichkeit des Fanatismus gezeigt hätte! Der legitimiſtiſche Feuereifer dieſes Fürſten aber vertrug ſich ſehr wohl mit kaufmänniſcher Berechnung. Wie er die Domänenkäufer beraubte aber die neuen Erwerbungen König Jeromes für ſich behielt, ſo führte er auch die altheſſiſchen Steuern wieder ein und ließ daneben die ſchwerſten der weſtphäliſchen Abgaben fortbe- ſtehen. Die weſtphäliſche Staatsſchuld wurde für nichtig erklärt, doch von der altheſſiſchen Schuld wollte der alte Herr auch nur ein Drittel aner- kennen, weil ſein Verwalter Jerome ihren Betrag gewaltſam herabgeſetzt hatte. Welch ein Gegenſatz zu der peinlichen Ehrlichkeit des Königs von Preußen! *) Das Zunftweſen lebte wieder auf, desgleichen die Frohnden und die bäuerlichen Laſten, aber die Patrimonialgerichte blieben aufgehoben, weil der Kurfürſt ſeiner Ritterſchaft mißtraute. Die jungen Männer, deren Väter nicht den höheren Rangklaſſen angehörten, durften wieder wie vormals nur mit beſonderer landesherrlicher Erlaubniß ſtudiren. Die Staatsdiener, die unter der Fremdherrſchaft doch mit einiger Sicher- heit auf den Bezug ihrer Gehalte hatten rechnen können, ſahen ſich jetzt dem Geize des Landesherrn wieder ſchutzlos preisgegeben. In der Armee ward es bald zur Regel, daß die Beförderten ihren bisherigen Gehalt beibe- hielten; es gab Generale mit Rittmeiſtersgehalt, kein einziger General empfing was ihm gebührte. Durch dieſe Begaunerung ſeiner eigenen Be- amten gelangte der Landesvater nach vier Jahren ſo weit, daß er in jedem Monat über 36,000 Thlr. an Gehalten erſparte und in ſeiner unergründ- lichen Kammerkaſſe verſchwinden ließ. **) Nun gar die Verabſchiedeten nagten faſt alleſammt am Hungertuche. Wenn es galt einen verdienten *) Vgl. o. III. 72. **) Hänlein’s Berichte, 22. Jan. 1816, 6. Nov. 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/539>, abgerufen am 22.11.2024.