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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
alten General um seine Pension zu betrügen, dann ward sein Dienst-
leben mit allerhand erlogenen Verdächtigungen bemängelt, und klagte Einer,
daß er nur Kartoffeln zu essen habe, so hieß es kurzab: ich esse auch gern
Kartoffeln. Der Präsenzstand der Armee wurde, da England keine Sub-
sidien mehr gab, bald auf 1500 Mann (80 Mann im Bataillon) herab-
gesetzt; das Land aber mußte noch immer für 20,000 Mann Steuern
zahlen. Um noch etwas herauszuschlagen, ließ der Kurfürst die Fuhren
bei seinem Schloßbau durch die Pferde der Artillerie besorgen.*) Selbst
die Stiftungen waren vor den diebischen Händen des alten Herrn nicht
sicher. Von dem Vermögen der aufgehobenen Universität Rinteln wurde
ein Theil für das Rintelner Gymnasium, ein anderer für die Marburger
Hochschule bestimmt und der ansehnliche Rest wieder der unersättlichen
Kammerkasse überwiesen. Am Besten fuhr noch die Judenschaft; sie ver-
stand sich auf diesen fürstlichen Charakter, zahlte rechtzeitig eine gute Summe
baar und erhielt dafür einige der Rechte, welche ihr der Code Napoleon
gewährt hatte, von Neuem bestätigt.

So waren fast alle wohlthätigen Reformen der westphälischen Herr-
schaft beseitigt, nur ihre Härten bestanden fort und gesellten sich zu den
wiederauflebenden Mißbräuchen der guten alten Zeit. Die Willkür war
so empörend, daß selbst Goethe, der sonst so ungern den Klagen der libe-
ralen Welt glaubte, die bitteren Verse schrieb:

Der alte reiche Fürst
Blieb doch vom Zeitgeist weit,
Sehr weit!
Wer sich aufs Geld versteht,
Versteht sich auf die Zeit,
Sehr auf die Zeit!

Dazu am Hofe ewige Händel zwischen dem Kurfürsten, seinem Sohne
und seiner Hauptmaitresse, gräuliche Wuchergeschäfte des Günstlings Bu-
derus v. Carlshausen, und beständige Ungezogenheiten gegen das diplo-
matische Corps, das sich erst durch Drohungen eine anständige Behand-
lung erzwingen mußte. Wie gern hätte der preußische Gesandte, der gute
alte Hänlein, diesen Hof geschont, der seinem königlichen Hause so nahe
stand; als ehrlicher Mann konnte er doch nur von Sultanslaunen und
Unsauberkeiten berichten. Der Landesherr selbst war in seiner cynischen
Menschenverachtung schon so eingerostet, daß er den Jammer ringsum
gar nicht bemerkte. Bei einem patriotischen Feste lasen die Casseler über
dem Portale seines Schlosses die Flammeninschrift: Der Vater seinen
Kindern! --

Beim Eintritt in die große Allianz hatte der Kurfürst den Groß-
mächten versprechen müssen, seinen alten Landtag wiederherzustellen, der
in den letzten Jahrzehnten allerdings nur noch ein Geldtag gewesen und

*) Hänlein's Berichte, 25. Mai, 1. Juni 1818.

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
alten General um ſeine Penſion zu betrügen, dann ward ſein Dienſt-
leben mit allerhand erlogenen Verdächtigungen bemängelt, und klagte Einer,
daß er nur Kartoffeln zu eſſen habe, ſo hieß es kurzab: ich eſſe auch gern
Kartoffeln. Der Präſenzſtand der Armee wurde, da England keine Sub-
ſidien mehr gab, bald auf 1500 Mann (80 Mann im Bataillon) herab-
geſetzt; das Land aber mußte noch immer für 20,000 Mann Steuern
zahlen. Um noch etwas herauszuſchlagen, ließ der Kurfürſt die Fuhren
bei ſeinem Schloßbau durch die Pferde der Artillerie beſorgen.*) Selbſt
die Stiftungen waren vor den diebiſchen Händen des alten Herrn nicht
ſicher. Von dem Vermögen der aufgehobenen Univerſität Rinteln wurde
ein Theil für das Rintelner Gymnaſium, ein anderer für die Marburger
Hochſchule beſtimmt und der anſehnliche Reſt wieder der unerſättlichen
Kammerkaſſe überwieſen. Am Beſten fuhr noch die Judenſchaft; ſie ver-
ſtand ſich auf dieſen fürſtlichen Charakter, zahlte rechtzeitig eine gute Summe
baar und erhielt dafür einige der Rechte, welche ihr der Code Napoleon
gewährt hatte, von Neuem beſtätigt.

So waren faſt alle wohlthätigen Reformen der weſtphäliſchen Herr-
ſchaft beſeitigt, nur ihre Härten beſtanden fort und geſellten ſich zu den
wiederauflebenden Mißbräuchen der guten alten Zeit. Die Willkür war
ſo empörend, daß ſelbſt Goethe, der ſonſt ſo ungern den Klagen der libe-
ralen Welt glaubte, die bitteren Verſe ſchrieb:

Der alte reiche Fürſt
Blieb doch vom Zeitgeiſt weit,
Sehr weit!
Wer ſich aufs Geld verſteht,
Verſteht ſich auf die Zeit,
Sehr auf die Zeit!

Dazu am Hofe ewige Händel zwiſchen dem Kurfürſten, ſeinem Sohne
und ſeiner Hauptmaitreſſe, gräuliche Wuchergeſchäfte des Günſtlings Bu-
derus v. Carlshauſen, und beſtändige Ungezogenheiten gegen das diplo-
matiſche Corps, das ſich erſt durch Drohungen eine anſtändige Behand-
lung erzwingen mußte. Wie gern hätte der preußiſche Geſandte, der gute
alte Hänlein, dieſen Hof geſchont, der ſeinem königlichen Hauſe ſo nahe
ſtand; als ehrlicher Mann konnte er doch nur von Sultanslaunen und
Unſauberkeiten berichten. Der Landesherr ſelbſt war in ſeiner cyniſchen
Menſchenverachtung ſchon ſo eingeroſtet, daß er den Jammer ringsum
gar nicht bemerkte. Bei einem patriotiſchen Feſte laſen die Caſſeler über
dem Portale ſeines Schloſſes die Flammeninſchrift: Der Vater ſeinen
Kindern! —

Beim Eintritt in die große Allianz hatte der Kurfürſt den Groß-
mächten verſprechen müſſen, ſeinen alten Landtag wiederherzuſtellen, der
in den letzten Jahrzehnten allerdings nur noch ein Geldtag geweſen und

*) Hänlein’s Berichte, 25. Mai, 1. Juni 1818.
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[524/0540] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. alten General um ſeine Penſion zu betrügen, dann ward ſein Dienſt- leben mit allerhand erlogenen Verdächtigungen bemängelt, und klagte Einer, daß er nur Kartoffeln zu eſſen habe, ſo hieß es kurzab: ich eſſe auch gern Kartoffeln. Der Präſenzſtand der Armee wurde, da England keine Sub- ſidien mehr gab, bald auf 1500 Mann (80 Mann im Bataillon) herab- geſetzt; das Land aber mußte noch immer für 20,000 Mann Steuern zahlen. Um noch etwas herauszuſchlagen, ließ der Kurfürſt die Fuhren bei ſeinem Schloßbau durch die Pferde der Artillerie beſorgen. *) Selbſt die Stiftungen waren vor den diebiſchen Händen des alten Herrn nicht ſicher. Von dem Vermögen der aufgehobenen Univerſität Rinteln wurde ein Theil für das Rintelner Gymnaſium, ein anderer für die Marburger Hochſchule beſtimmt und der anſehnliche Reſt wieder der unerſättlichen Kammerkaſſe überwieſen. Am Beſten fuhr noch die Judenſchaft; ſie ver- ſtand ſich auf dieſen fürſtlichen Charakter, zahlte rechtzeitig eine gute Summe baar und erhielt dafür einige der Rechte, welche ihr der Code Napoleon gewährt hatte, von Neuem beſtätigt. So waren faſt alle wohlthätigen Reformen der weſtphäliſchen Herr- ſchaft beſeitigt, nur ihre Härten beſtanden fort und geſellten ſich zu den wiederauflebenden Mißbräuchen der guten alten Zeit. Die Willkür war ſo empörend, daß ſelbſt Goethe, der ſonſt ſo ungern den Klagen der libe- ralen Welt glaubte, die bitteren Verſe ſchrieb: Der alte reiche Fürſt Blieb doch vom Zeitgeiſt weit, Sehr weit! Wer ſich aufs Geld verſteht, Verſteht ſich auf die Zeit, Sehr auf die Zeit! Dazu am Hofe ewige Händel zwiſchen dem Kurfürſten, ſeinem Sohne und ſeiner Hauptmaitreſſe, gräuliche Wuchergeſchäfte des Günſtlings Bu- derus v. Carlshauſen, und beſtändige Ungezogenheiten gegen das diplo- matiſche Corps, das ſich erſt durch Drohungen eine anſtändige Behand- lung erzwingen mußte. Wie gern hätte der preußiſche Geſandte, der gute alte Hänlein, dieſen Hof geſchont, der ſeinem königlichen Hauſe ſo nahe ſtand; als ehrlicher Mann konnte er doch nur von Sultanslaunen und Unſauberkeiten berichten. Der Landesherr ſelbſt war in ſeiner cyniſchen Menſchenverachtung ſchon ſo eingeroſtet, daß er den Jammer ringsum gar nicht bemerkte. Bei einem patriotiſchen Feſte laſen die Caſſeler über dem Portale ſeines Schloſſes die Flammeninſchrift: Der Vater ſeinen Kindern! — Beim Eintritt in die große Allianz hatte der Kurfürſt den Groß- mächten verſprechen müſſen, ſeinen alten Landtag wiederherzuſtellen, der in den letzten Jahrzehnten allerdings nur noch ein Geldtag geweſen und *) Hänlein’s Berichte, 25. Mai, 1. Juni 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/540>, abgerufen am 22.11.2024.