III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Dem jungen Hänlein, der jetzt den Gesandtschaftsposten seines ver- storbenen Vaters bekleidete, versicherte der Kurfürst oft, und unzweifelhaft ehrlich, daß er sich ganz an Preußen anschließen wolle. Doch da König Friedrich Wilhelm nicht umhin konnte, zu Gunsten seiner mißhandelten Schwester, der Kurfürstin, und ihres jungen Sohnes sein Fürwort ein- zulegen, so nahm der Streit zwischen den beiden verwandten Höfen kein Ende. Einmal kam es zum Bruch: als der Kurfürst seine Schwester, die kranke Herzogin von Bernburg, bei Nacht und Nebel aus Bonn hatte entführen und nach Hanau bringen lassen. Er behauptete, die Unglück- liche sei geisteskrank; erwiesen ist nur, daß seit jener Entführung die Krank- heit sich unverkennbar zeigte. Damals wurde Hänlein abberufen und durfte erst nach Monaten zurückkehren, nachdem der Kurfürst wegen der Verletzung des preußischen Gebiets Abbitte geleistet hatte.*) In den besser regierten deutschen Territorien ermöglichte die Enge der Verhältnisse den ein- zigen Vorzug der Kleinstaaterei, die wohlwollende Berücksichtigung der per- sönlichen und örtlichen Interessen; in Hessen bewirkte sie ein System persön- licher Verfolgung. Die Reichenbach kannte Jeden, und Jedermanns Schicksal richtete sich nach seiner Stellung zu diesem Weibe. An einem Sommer- abend des Jahres 1823 kam der Kurfürst plötzlich von der Wilhelmshöhe nach Kassel herabgesprengt, ließ Allarm schlagen und die Garnison auf dem Friedrichsplatze antreten; dann wurden Hauptmann Radowitz vom Generalstabe und drei andere Offiziere in kleine Garnisonen verwiesen mit dem Befehle augenblicklich abzureisen.**) Die Verbannten waren sämmt- lich Freunde des Kurprinzen und hatten ihre Meinung über die Reichen- bach nicht verhehlt; Radowitz fand nachher durch die Gunst des Prinzen August eine neue, reichere Thätigkeit in Preußen. Als Heyer v. Rosen- feld in Folge eines schmutzigen Liebeshandels von einem Offizier gefordert wurde, erließ der Kurfürst, um dies theure Leben zu schützen, sofort ein Gesetz, das den Zweikampf mit der Strafe des Mordes, die Forderung mit anderen entehrenden Strafen bedrohte. Besonders gefürchtet waren die Zeiten des Wochenbetts der Reichenbach, die in jedem Jahre wieder- zukehren pflegten; dann hatte der Kurfürst nichts zu thun, überfiel Abends die Behörden in ihren Diensträumen, schrieb die Fehlenden auf, ließ seine üble Laune an Jedem aus, der ihm in die Hände lief.
Aber was wollte dies sagen neben der erschütternden Familientragödie im fürstlichen Hause? Die Kurfürstin war lange auf Reisen und schloß endlich mit ihrem Gatten einen Vertrag, der ihr einen eigenen Hofhalt sicherte. Der Kurprinz hielt standhaft zu seiner Mutter; er hatte sich zu- geschworen die Feste der Reichenbach niemals zu besuchen und blieb dabei, obgleich die Hoftheologen seines Vaters ihm die Unverbindlichkeit des
*) Hänlein's Berichte, 28. Febr. 1822 ff.
**) Hänlein's Bericht, 14. Juni 1823.
III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Dem jungen Hänlein, der jetzt den Geſandtſchaftspoſten ſeines ver- ſtorbenen Vaters bekleidete, verſicherte der Kurfürſt oft, und unzweifelhaft ehrlich, daß er ſich ganz an Preußen anſchließen wolle. Doch da König Friedrich Wilhelm nicht umhin konnte, zu Gunſten ſeiner mißhandelten Schweſter, der Kurfürſtin, und ihres jungen Sohnes ſein Fürwort ein- zulegen, ſo nahm der Streit zwiſchen den beiden verwandten Höfen kein Ende. Einmal kam es zum Bruch: als der Kurfürſt ſeine Schweſter, die kranke Herzogin von Bernburg, bei Nacht und Nebel aus Bonn hatte entführen und nach Hanau bringen laſſen. Er behauptete, die Unglück- liche ſei geiſteskrank; erwieſen iſt nur, daß ſeit jener Entführung die Krank- heit ſich unverkennbar zeigte. Damals wurde Hänlein abberufen und durfte erſt nach Monaten zurückkehren, nachdem der Kurfürſt wegen der Verletzung des preußiſchen Gebiets Abbitte geleiſtet hatte.*) In den beſſer regierten deutſchen Territorien ermöglichte die Enge der Verhältniſſe den ein- zigen Vorzug der Kleinſtaaterei, die wohlwollende Berückſichtigung der per- ſönlichen und örtlichen Intereſſen; in Heſſen bewirkte ſie ein Syſtem perſön- licher Verfolgung. Die Reichenbach kannte Jeden, und Jedermanns Schickſal richtete ſich nach ſeiner Stellung zu dieſem Weibe. An einem Sommer- abend des Jahres 1823 kam der Kurfürſt plötzlich von der Wilhelmshöhe nach Kaſſel herabgeſprengt, ließ Allarm ſchlagen und die Garniſon auf dem Friedrichsplatze antreten; dann wurden Hauptmann Radowitz vom Generalſtabe und drei andere Offiziere in kleine Garniſonen verwieſen mit dem Befehle augenblicklich abzureiſen.**) Die Verbannten waren ſämmt- lich Freunde des Kurprinzen und hatten ihre Meinung über die Reichen- bach nicht verhehlt; Radowitz fand nachher durch die Gunſt des Prinzen Auguſt eine neue, reichere Thätigkeit in Preußen. Als Heyer v. Roſen- feld in Folge eines ſchmutzigen Liebeshandels von einem Offizier gefordert wurde, erließ der Kurfürſt, um dies theure Leben zu ſchützen, ſofort ein Geſetz, das den Zweikampf mit der Strafe des Mordes, die Forderung mit anderen entehrenden Strafen bedrohte. Beſonders gefürchtet waren die Zeiten des Wochenbetts der Reichenbach, die in jedem Jahre wieder- zukehren pflegten; dann hatte der Kurfürſt nichts zu thun, überfiel Abends die Behörden in ihren Dienſträumen, ſchrieb die Fehlenden auf, ließ ſeine üble Laune an Jedem aus, der ihm in die Hände lief.
Aber was wollte dies ſagen neben der erſchütternden Familientragödie im fürſtlichen Hauſe? Die Kurfürſtin war lange auf Reiſen und ſchloß endlich mit ihrem Gatten einen Vertrag, der ihr einen eigenen Hofhalt ſicherte. Der Kurprinz hielt ſtandhaft zu ſeiner Mutter; er hatte ſich zu- geſchworen die Feſte der Reichenbach niemals zu beſuchen und blieb dabei, obgleich die Hoftheologen ſeines Vaters ihm die Unverbindlichkeit des
*) Hänlein’s Berichte, 28. Febr. 1822 ff.
**) Hänlein’s Bericht, 14. Juni 1823.
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III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Dem jungen Hänlein, der jetzt den Geſandtſchaftspoſten ſeines ver-
ſtorbenen Vaters bekleidete, verſicherte der Kurfürſt oft, und unzweifelhaft
ehrlich, daß er ſich ganz an Preußen anſchließen wolle. Doch da König
Friedrich Wilhelm nicht umhin konnte, zu Gunſten ſeiner mißhandelten
Schweſter, der Kurfürſtin, und ihres jungen Sohnes ſein Fürwort ein-
zulegen, ſo nahm der Streit zwiſchen den beiden verwandten Höfen kein
Ende. Einmal kam es zum Bruch: als der Kurfürſt ſeine Schweſter,
die kranke Herzogin von Bernburg, bei Nacht und Nebel aus Bonn hatte
entführen und nach Hanau bringen laſſen. Er behauptete, die Unglück-
liche ſei geiſteskrank; erwieſen iſt nur, daß ſeit jener Entführung die Krank-
heit ſich unverkennbar zeigte. Damals wurde Hänlein abberufen und
durfte erſt nach Monaten zurückkehren, nachdem der Kurfürſt wegen der
Verletzung des preußiſchen Gebiets Abbitte geleiſtet hatte. *) In den beſſer
regierten deutſchen Territorien ermöglichte die Enge der Verhältniſſe den ein-
zigen Vorzug der Kleinſtaaterei, die wohlwollende Berückſichtigung der per-
ſönlichen und örtlichen Intereſſen; in Heſſen bewirkte ſie ein Syſtem perſön-
licher Verfolgung. Die Reichenbach kannte Jeden, und Jedermanns Schickſal
richtete ſich nach ſeiner Stellung zu dieſem Weibe. An einem Sommer-
abend des Jahres 1823 kam der Kurfürſt plötzlich von der Wilhelmshöhe
nach Kaſſel herabgeſprengt, ließ Allarm ſchlagen und die Garniſon auf
dem Friedrichsplatze antreten; dann wurden Hauptmann Radowitz vom
Generalſtabe und drei andere Offiziere in kleine Garniſonen verwieſen mit
dem Befehle augenblicklich abzureiſen. **) Die Verbannten waren ſämmt-
lich Freunde des Kurprinzen und hatten ihre Meinung über die Reichen-
bach nicht verhehlt; Radowitz fand nachher durch die Gunſt des Prinzen
Auguſt eine neue, reichere Thätigkeit in Preußen. Als Heyer v. Roſen-
feld in Folge eines ſchmutzigen Liebeshandels von einem Offizier gefordert
wurde, erließ der Kurfürſt, um dies theure Leben zu ſchützen, ſofort ein
Geſetz, das den Zweikampf mit der Strafe des Mordes, die Forderung
mit anderen entehrenden Strafen bedrohte. Beſonders gefürchtet waren
die Zeiten des Wochenbetts der Reichenbach, die in jedem Jahre wieder-
zukehren pflegten; dann hatte der Kurfürſt nichts zu thun, überfiel Abends
die Behörden in ihren Dienſträumen, ſchrieb die Fehlenden auf, ließ ſeine
üble Laune an Jedem aus, der ihm in die Hände lief.
Aber was wollte dies ſagen neben der erſchütternden Familientragödie
im fürſtlichen Hauſe? Die Kurfürſtin war lange auf Reiſen und ſchloß
endlich mit ihrem Gatten einen Vertrag, der ihr einen eigenen Hofhalt
ſicherte. Der Kurprinz hielt ſtandhaft zu ſeiner Mutter; er hatte ſich zu-
geſchworen die Feſte der Reichenbach niemals zu beſuchen und blieb dabei,
obgleich die Hoftheologen ſeines Vaters ihm die Unverbindlichkeit des
*) Hänlein’s Berichte, 28. Febr. 1822 ff.
**) Hänlein’s Bericht, 14. Juni 1823.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/548>, abgerufen am 25.11.2024.
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