Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
bürgerliche Leichenwagen vernichtet, der Leichnam ausgegraben und hinter
der Stadtmauer verscharrt wurde.*) Die beiden ehrenwerthen Minister
Witzleben und Krafft forderten endlich angeekelt ihre Entlassung. Nun
blieben nur noch Minister Schminke, ein bequemer Schlemmer, und der
zum Freiherrn v. Meysenbug erhobene Cabinetsrath Rivalier, der zu-
weilen einmal eine Gewaltthat verhinderte, aber auch nur ein gefügiger
Hofmann war. Neue widerrechtliche Steuern, Taxen und Polizeistrafen
sollten die leeren Staatskassen füllen. Sogar die Wachsbilder seiner
Ahnen im Kasseler Museum ließ der Kurfürst einschmelzen um den Preis
des Wachses einzustreichen. Sein Hausvermögen legte er theils in aus-
ländischen Capitalien an, theils in böhmischen Landgütern für die Kinder
der Reichenbach.

Dem bedrückten und vernachlässigten kleinen Manne versperrte der
thörichte Zollkrieg gegen Preußen auch noch den nachbarlichen Verkehr.
Die Unzufriedenheit war allgemein, Schmuggel und Wilddieberei nahmen
überhand. Das letzte Bollwerk gegen die Willkür bildeten die Gerichte, die in
dieser argen Zeit ihren guten Ruf abermals bewährten. Wie einst Gerichts-
rath Pfeiffer noch unter dem alten Kurfürsten für die Domänenkäufer einge-
treten war, so widerlegten jetzt der wackere Präsident Wiederhold und das
Kasseler Oberappellationsgericht durch die That das liberale Vorurtheil,
das eine freie Rechtspflege in höfischer Luft nicht für möglich hält; wo sie
nur konnten, nahmen sie sich des guten Rechts der Beamten, der Staats-
gläubiger, der Steuerzahler an, doch ihre Macht reichte nicht weit. Die
zwecklose Nichtigkeit des politischen Lebens hatte der hessische Kurstaat mit
allen deutschen Kleinstaaten gemein; eigenthümlich war ihm eine gewissen-
lose Tyrannei, die von der wohlmeinenden Beschränktheit der meisten an-
dern deutschen Höfe häßlich abstach und fast an Neapel oder Modena er-
innerte. Noch unaufhaltsamer als Sachsen trieb dieser Staat einer ge-
waltsamen Erschütterung entgegen. --


Kurhessen litt unter der Willkür seiner Fürsten; die kaum minder
krankhaften Zustände des Königreichs Hannover entsprangen dem ent-
gegengesetzten Grunde, der Schwäche der monarchischen Gewalt. Unge-
heure Schicksalswechsel, wie sie nur Deutschlands Geschichte kennt, waren
über dies niedersächsische Gebiet dahingegangen, bis es nach langer Ohn-
macht einen Theil seiner historischen Machtstellung zurückerlangt hatte.
Mit diesem zähen niederdeutschen Sonderleben hatten einst Römer und
Karolinger in endlosen Kriegen gerungen; an ihm fand die nationale
Monarchie ihren starken Rückhalt so lange sie in sächsischen Händen blieb,

*) Hänlein's Bericht, 3. Okt. 1824.

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
bürgerliche Leichenwagen vernichtet, der Leichnam ausgegraben und hinter
der Stadtmauer verſcharrt wurde.*) Die beiden ehrenwerthen Miniſter
Witzleben und Krafft forderten endlich angeekelt ihre Entlaſſung. Nun
blieben nur noch Miniſter Schminke, ein bequemer Schlemmer, und der
zum Freiherrn v. Meyſenbug erhobene Cabinetsrath Rivalier, der zu-
weilen einmal eine Gewaltthat verhinderte, aber auch nur ein gefügiger
Hofmann war. Neue widerrechtliche Steuern, Taxen und Polizeiſtrafen
ſollten die leeren Staatskaſſen füllen. Sogar die Wachsbilder ſeiner
Ahnen im Kaſſeler Muſeum ließ der Kurfürſt einſchmelzen um den Preis
des Wachſes einzuſtreichen. Sein Hausvermögen legte er theils in aus-
ländiſchen Capitalien an, theils in böhmiſchen Landgütern für die Kinder
der Reichenbach.

Dem bedrückten und vernachläſſigten kleinen Manne verſperrte der
thörichte Zollkrieg gegen Preußen auch noch den nachbarlichen Verkehr.
Die Unzufriedenheit war allgemein, Schmuggel und Wilddieberei nahmen
überhand. Das letzte Bollwerk gegen die Willkür bildeten die Gerichte, die in
dieſer argen Zeit ihren guten Ruf abermals bewährten. Wie einſt Gerichts-
rath Pfeiffer noch unter dem alten Kurfürſten für die Domänenkäufer einge-
treten war, ſo widerlegten jetzt der wackere Präſident Wiederhold und das
Kaſſeler Oberappellationsgericht durch die That das liberale Vorurtheil,
das eine freie Rechtspflege in höfiſcher Luft nicht für möglich hält; wo ſie
nur konnten, nahmen ſie ſich des guten Rechts der Beamten, der Staats-
gläubiger, der Steuerzahler an, doch ihre Macht reichte nicht weit. Die
zweckloſe Nichtigkeit des politiſchen Lebens hatte der heſſiſche Kurſtaat mit
allen deutſchen Kleinſtaaten gemein; eigenthümlich war ihm eine gewiſſen-
loſe Tyrannei, die von der wohlmeinenden Beſchränktheit der meiſten an-
dern deutſchen Höfe häßlich abſtach und faſt an Neapel oder Modena er-
innerte. Noch unaufhaltſamer als Sachſen trieb dieſer Staat einer ge-
waltſamen Erſchütterung entgegen. —


Kurheſſen litt unter der Willkür ſeiner Fürſten; die kaum minder
krankhaften Zuſtände des Königreichs Hannover entſprangen dem ent-
gegengeſetzten Grunde, der Schwäche der monarchiſchen Gewalt. Unge-
heure Schickſalswechſel, wie ſie nur Deutſchlands Geſchichte kennt, waren
über dies niederſächſiſche Gebiet dahingegangen, bis es nach langer Ohn-
macht einen Theil ſeiner hiſtoriſchen Machtſtellung zurückerlangt hatte.
Mit dieſem zähen niederdeutſchen Sonderleben hatten einſt Römer und
Karolinger in endloſen Kriegen gerungen; an ihm fand die nationale
Monarchie ihren ſtarken Rückhalt ſo lange ſie in ſächſiſchen Händen blieb,

*) Hänlein’s Bericht, 3. Okt. 1824.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0550" n="534"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 7. Alt&#x017F;tändi&#x017F;ches Stillleben in Norddeut&#x017F;chland.</fw><lb/>
bürgerliche Leichenwagen vernichtet, der Leichnam ausgegraben und hinter<lb/>
der Stadtmauer ver&#x017F;charrt wurde.<note place="foot" n="*)">Hänlein&#x2019;s Bericht, 3. Okt. 1824.</note> Die beiden ehrenwerthen Mini&#x017F;ter<lb/>
Witzleben und Krafft forderten endlich angeekelt ihre Entla&#x017F;&#x017F;ung. Nun<lb/>
blieben nur noch Mini&#x017F;ter Schminke, ein bequemer Schlemmer, und der<lb/>
zum Freiherrn v. Mey&#x017F;enbug erhobene Cabinetsrath Rivalier, der zu-<lb/>
weilen einmal eine Gewaltthat verhinderte, aber auch nur ein gefügiger<lb/>
Hofmann war. Neue widerrechtliche Steuern, Taxen und Polizei&#x017F;trafen<lb/>
&#x017F;ollten die leeren Staatska&#x017F;&#x017F;en füllen. Sogar die Wachsbilder &#x017F;einer<lb/>
Ahnen im Ka&#x017F;&#x017F;eler Mu&#x017F;eum ließ der Kurfür&#x017F;t ein&#x017F;chmelzen um den Preis<lb/>
des Wach&#x017F;es einzu&#x017F;treichen. Sein Hausvermögen legte er theils in aus-<lb/>
ländi&#x017F;chen Capitalien an, theils in böhmi&#x017F;chen Landgütern für die Kinder<lb/>
der Reichenbach.</p><lb/>
          <p>Dem bedrückten und vernachlä&#x017F;&#x017F;igten kleinen Manne ver&#x017F;perrte der<lb/>
thörichte Zollkrieg gegen Preußen auch noch den nachbarlichen Verkehr.<lb/>
Die Unzufriedenheit war allgemein, Schmuggel und Wilddieberei nahmen<lb/>
überhand. Das letzte Bollwerk gegen die Willkür bildeten die Gerichte, die in<lb/>
die&#x017F;er argen Zeit ihren guten Ruf abermals bewährten. Wie ein&#x017F;t Gerichts-<lb/>
rath Pfeiffer noch unter dem alten Kurfür&#x017F;ten für die Domänenkäufer einge-<lb/>
treten war, &#x017F;o widerlegten jetzt der wackere Prä&#x017F;ident Wiederhold und das<lb/>
Ka&#x017F;&#x017F;eler Oberappellationsgericht durch die That das liberale Vorurtheil,<lb/>
das eine freie Rechtspflege in höfi&#x017F;cher Luft nicht für möglich hält; wo &#x017F;ie<lb/>
nur konnten, nahmen &#x017F;ie &#x017F;ich des guten Rechts der Beamten, der Staats-<lb/>
gläubiger, der Steuerzahler an, doch ihre Macht reichte nicht weit. Die<lb/>
zwecklo&#x017F;e Nichtigkeit des politi&#x017F;chen Lebens hatte der he&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Kur&#x017F;taat mit<lb/>
allen deut&#x017F;chen Klein&#x017F;taaten gemein; eigenthümlich war ihm eine gewi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
lo&#x017F;e Tyrannei, die von der wohlmeinenden Be&#x017F;chränktheit der mei&#x017F;ten an-<lb/>
dern deut&#x017F;chen Höfe häßlich ab&#x017F;tach und fa&#x017F;t an Neapel oder Modena er-<lb/>
innerte. Noch unaufhalt&#x017F;amer als Sach&#x017F;en trieb die&#x017F;er Staat einer ge-<lb/>
walt&#x017F;amen Er&#x017F;chütterung entgegen. &#x2014;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Kurhe&#x017F;&#x017F;en litt unter der Willkür &#x017F;einer Für&#x017F;ten; die kaum minder<lb/>
krankhaften Zu&#x017F;tände des Königreichs Hannover ent&#x017F;prangen dem ent-<lb/>
gegenge&#x017F;etzten Grunde, der Schwäche der monarchi&#x017F;chen Gewalt. Unge-<lb/>
heure Schick&#x017F;alswech&#x017F;el, wie &#x017F;ie nur Deut&#x017F;chlands Ge&#x017F;chichte kennt, waren<lb/>
über dies nieder&#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;che Gebiet dahingegangen, bis es nach langer Ohn-<lb/>
macht einen Theil &#x017F;einer hi&#x017F;tori&#x017F;chen Macht&#x017F;tellung zurückerlangt hatte.<lb/>
Mit die&#x017F;em zähen niederdeut&#x017F;chen Sonderleben hatten ein&#x017F;t Römer und<lb/>
Karolinger in endlo&#x017F;en Kriegen gerungen; an ihm fand die nationale<lb/>
Monarchie ihren &#x017F;tarken Rückhalt &#x017F;o lange &#x017F;ie in &#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;chen Händen blieb,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[534/0550] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. bürgerliche Leichenwagen vernichtet, der Leichnam ausgegraben und hinter der Stadtmauer verſcharrt wurde. *) Die beiden ehrenwerthen Miniſter Witzleben und Krafft forderten endlich angeekelt ihre Entlaſſung. Nun blieben nur noch Miniſter Schminke, ein bequemer Schlemmer, und der zum Freiherrn v. Meyſenbug erhobene Cabinetsrath Rivalier, der zu- weilen einmal eine Gewaltthat verhinderte, aber auch nur ein gefügiger Hofmann war. Neue widerrechtliche Steuern, Taxen und Polizeiſtrafen ſollten die leeren Staatskaſſen füllen. Sogar die Wachsbilder ſeiner Ahnen im Kaſſeler Muſeum ließ der Kurfürſt einſchmelzen um den Preis des Wachſes einzuſtreichen. Sein Hausvermögen legte er theils in aus- ländiſchen Capitalien an, theils in böhmiſchen Landgütern für die Kinder der Reichenbach. Dem bedrückten und vernachläſſigten kleinen Manne verſperrte der thörichte Zollkrieg gegen Preußen auch noch den nachbarlichen Verkehr. Die Unzufriedenheit war allgemein, Schmuggel und Wilddieberei nahmen überhand. Das letzte Bollwerk gegen die Willkür bildeten die Gerichte, die in dieſer argen Zeit ihren guten Ruf abermals bewährten. Wie einſt Gerichts- rath Pfeiffer noch unter dem alten Kurfürſten für die Domänenkäufer einge- treten war, ſo widerlegten jetzt der wackere Präſident Wiederhold und das Kaſſeler Oberappellationsgericht durch die That das liberale Vorurtheil, das eine freie Rechtspflege in höfiſcher Luft nicht für möglich hält; wo ſie nur konnten, nahmen ſie ſich des guten Rechts der Beamten, der Staats- gläubiger, der Steuerzahler an, doch ihre Macht reichte nicht weit. Die zweckloſe Nichtigkeit des politiſchen Lebens hatte der heſſiſche Kurſtaat mit allen deutſchen Kleinſtaaten gemein; eigenthümlich war ihm eine gewiſſen- loſe Tyrannei, die von der wohlmeinenden Beſchränktheit der meiſten an- dern deutſchen Höfe häßlich abſtach und faſt an Neapel oder Modena er- innerte. Noch unaufhaltſamer als Sachſen trieb dieſer Staat einer ge- waltſamen Erſchütterung entgegen. — Kurheſſen litt unter der Willkür ſeiner Fürſten; die kaum minder krankhaften Zuſtände des Königreichs Hannover entſprangen dem ent- gegengeſetzten Grunde, der Schwäche der monarchiſchen Gewalt. Unge- heure Schickſalswechſel, wie ſie nur Deutſchlands Geſchichte kennt, waren über dies niederſächſiſche Gebiet dahingegangen, bis es nach langer Ohn- macht einen Theil ſeiner hiſtoriſchen Machtſtellung zurückerlangt hatte. Mit dieſem zähen niederdeutſchen Sonderleben hatten einſt Römer und Karolinger in endloſen Kriegen gerungen; an ihm fand die nationale Monarchie ihren ſtarken Rückhalt ſo lange ſie in ſächſiſchen Händen blieb, *) Hänlein’s Bericht, 3. Okt. 1824.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/550
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/550>, abgerufen am 22.11.2024.