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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
welfischen Geschichte hoch angesehenen bürgerlichen Beamten allmählich aus-
geschlossen; die obersten Staatswürden blieben den verschwiegerten Adels-
geschlechtern der Platen, Grote, Münchhausen, Bremer vorbehalten. Die
Arbeitslast des Regiments dagegen trugen bürgerliche Cabinets- und Mini-
sterialräthe, meist aus den "schönen Familien" der Brandes, Patje, Reh-
berg, Hoppenstedt, fast durchweg hochgebildete, geschäftskundige Männer,
deren Ueberlegenheit der welfische Edelmann selber stillschweigend aner-
kannte indem er von einem Vetter oder Oheim harmlos zu sagen pflegte:
"er war Minister unter dem Cabinetsrath Rehberg." Die streng conser-
vative Gesinnung, welche dies bürgerliche "Secretariat" mit dem Adel
theilte, konnte doch nicht verhindern, daß sich allmählich im Bürgerthum
ein starker, berechtigter Groll gegen die bevorzugten Edelleute ansammelte.
Die Regierung war mild, da sie aus dem Vollen wirthschaftete und der
fiscalischen Strenge der preußischen Verwaltung nicht bedurfte; sie bewies
durch die großartige Stiftung der Georgia Augusta, wie hoch sie die idealen
Güter des Lebens schätzte. Doch der heilige Grundsatz, keine Ombrage zu
erregen, ward auch im Innern ängstlich gewahrt. Allen Potentaten durfte
Schlözer in seinen Staatsanzeigen die Wahrheit sagen; erst als er sich
unterstand Mißbräuche im kurhannoverschen Postwesen zu rügen, ward
ihm die Censurfreiheit genommen. Hardenberg's Jugendfreund, Freiherr
v. Berlepsch, derselbe der späterhin gegen den Sultanismus des hessischen
Kurfürsten auftrat, wurde gar abgesetzt und willkürlich des Landes ver-
wiesen, weil er im Landtage die Schwächen des Adelsregiments schonungs-
los aufgedeckt und die Neutralität der calenbergischen Nation während der
Revolutionskriege gefordert hatte.

Selbst unter dieser wohlwollenden Regierung verleugnete der alt-
ständische Staat nicht die Ungerechtigkeit, die ihn überall in Deutschland
mit dem Hasse des Volks belud. Die allerdings mäßigen Staatslasten
lagen fast ausschließlich auf den Schultern der Kleinbürger und der Bauern.
Um keinen Preis wollte der Calenbergische Adel die einzige schwere Ab-
gabe, die er eine Zeit lang getragen hatte, den Zehnt- und Scheffelschatz
wiederherstellen, denn sonst wäre die Landesschuld abgetragen worden und
damit die einträgliche Schuldenverwaltung der Landstände hinweggefallen.
In der Finanzverwaltung der Landtagsausschüsse blühten alle Sünden
des altständischen Regiments: Nepotismus, Heimlichkeit, Sinecuren-Un-
wesen. Siebzig Jahre lang blieb es den Ständen Calenbergs verborgen,
daß ihr Ausschuß dem ersten Georg 300,000 Thlr. gezahlt hatte um ihm
zur englischen Krone zu verhelfen. In der deutschen Politik war die
Eifersucht auf Preußen der leitende Gedanke des hannoverschen Geheimen
Raths, obgleich die Natur der Dinge zuweilen ein Bündniß zwischen den
Nachbarstaaten erzwang. Der welfische Stolz vermochte gar nicht einzu-
sehen, warum dies gründlich verachtete arme Nachbarland in den deutschen
Händeln so viel mehr galt als das vornehme England-Hannover. Auch

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
welfiſchen Geſchichte hoch angeſehenen bürgerlichen Beamten allmählich aus-
geſchloſſen; die oberſten Staatswürden blieben den verſchwiegerten Adels-
geſchlechtern der Platen, Grote, Münchhauſen, Bremer vorbehalten. Die
Arbeitslaſt des Regiments dagegen trugen bürgerliche Cabinets- und Mini-
ſterialräthe, meiſt aus den „ſchönen Familien“ der Brandes, Patje, Reh-
berg, Hoppenſtedt, faſt durchweg hochgebildete, geſchäftskundige Männer,
deren Ueberlegenheit der welfiſche Edelmann ſelber ſtillſchweigend aner-
kannte indem er von einem Vetter oder Oheim harmlos zu ſagen pflegte:
„er war Miniſter unter dem Cabinetsrath Rehberg.“ Die ſtreng conſer-
vative Geſinnung, welche dies bürgerliche „Secretariat“ mit dem Adel
theilte, konnte doch nicht verhindern, daß ſich allmählich im Bürgerthum
ein ſtarker, berechtigter Groll gegen die bevorzugten Edelleute anſammelte.
Die Regierung war mild, da ſie aus dem Vollen wirthſchaftete und der
fiscaliſchen Strenge der preußiſchen Verwaltung nicht bedurfte; ſie bewies
durch die großartige Stiftung der Georgia Auguſta, wie hoch ſie die idealen
Güter des Lebens ſchätzte. Doch der heilige Grundſatz, keine Ombrage zu
erregen, ward auch im Innern ängſtlich gewahrt. Allen Potentaten durfte
Schlözer in ſeinen Staatsanzeigen die Wahrheit ſagen; erſt als er ſich
unterſtand Mißbräuche im kurhannoverſchen Poſtweſen zu rügen, ward
ihm die Cenſurfreiheit genommen. Hardenberg’s Jugendfreund, Freiherr
v. Berlepſch, derſelbe der ſpäterhin gegen den Sultanismus des heſſiſchen
Kurfürſten auftrat, wurde gar abgeſetzt und willkürlich des Landes ver-
wieſen, weil er im Landtage die Schwächen des Adelsregiments ſchonungs-
los aufgedeckt und die Neutralität der calenbergiſchen Nation während der
Revolutionskriege gefordert hatte.

Selbſt unter dieſer wohlwollenden Regierung verleugnete der alt-
ſtändiſche Staat nicht die Ungerechtigkeit, die ihn überall in Deutſchland
mit dem Haſſe des Volks belud. Die allerdings mäßigen Staatslaſten
lagen faſt ausſchließlich auf den Schultern der Kleinbürger und der Bauern.
Um keinen Preis wollte der Calenbergiſche Adel die einzige ſchwere Ab-
gabe, die er eine Zeit lang getragen hatte, den Zehnt- und Scheffelſchatz
wiederherſtellen, denn ſonſt wäre die Landesſchuld abgetragen worden und
damit die einträgliche Schuldenverwaltung der Landſtände hinweggefallen.
In der Finanzverwaltung der Landtagsausſchüſſe blühten alle Sünden
des altſtändiſchen Regiments: Nepotismus, Heimlichkeit, Sinecuren-Un-
weſen. Siebzig Jahre lang blieb es den Ständen Calenbergs verborgen,
daß ihr Ausſchuß dem erſten Georg 300,000 Thlr. gezahlt hatte um ihm
zur engliſchen Krone zu verhelfen. In der deutſchen Politik war die
Eiferſucht auf Preußen der leitende Gedanke des hannoverſchen Geheimen
Raths, obgleich die Natur der Dinge zuweilen ein Bündniß zwiſchen den
Nachbarſtaaten erzwang. Der welfiſche Stolz vermochte gar nicht einzu-
ſehen, warum dies gründlich verachtete arme Nachbarland in den deutſchen
Händeln ſo viel mehr galt als das vornehme England-Hannover. Auch

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[540/0556] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. welfiſchen Geſchichte hoch angeſehenen bürgerlichen Beamten allmählich aus- geſchloſſen; die oberſten Staatswürden blieben den verſchwiegerten Adels- geſchlechtern der Platen, Grote, Münchhauſen, Bremer vorbehalten. Die Arbeitslaſt des Regiments dagegen trugen bürgerliche Cabinets- und Mini- ſterialräthe, meiſt aus den „ſchönen Familien“ der Brandes, Patje, Reh- berg, Hoppenſtedt, faſt durchweg hochgebildete, geſchäftskundige Männer, deren Ueberlegenheit der welfiſche Edelmann ſelber ſtillſchweigend aner- kannte indem er von einem Vetter oder Oheim harmlos zu ſagen pflegte: „er war Miniſter unter dem Cabinetsrath Rehberg.“ Die ſtreng conſer- vative Geſinnung, welche dies bürgerliche „Secretariat“ mit dem Adel theilte, konnte doch nicht verhindern, daß ſich allmählich im Bürgerthum ein ſtarker, berechtigter Groll gegen die bevorzugten Edelleute anſammelte. Die Regierung war mild, da ſie aus dem Vollen wirthſchaftete und der fiscaliſchen Strenge der preußiſchen Verwaltung nicht bedurfte; ſie bewies durch die großartige Stiftung der Georgia Auguſta, wie hoch ſie die idealen Güter des Lebens ſchätzte. Doch der heilige Grundſatz, keine Ombrage zu erregen, ward auch im Innern ängſtlich gewahrt. Allen Potentaten durfte Schlözer in ſeinen Staatsanzeigen die Wahrheit ſagen; erſt als er ſich unterſtand Mißbräuche im kurhannoverſchen Poſtweſen zu rügen, ward ihm die Cenſurfreiheit genommen. Hardenberg’s Jugendfreund, Freiherr v. Berlepſch, derſelbe der ſpäterhin gegen den Sultanismus des heſſiſchen Kurfürſten auftrat, wurde gar abgeſetzt und willkürlich des Landes ver- wieſen, weil er im Landtage die Schwächen des Adelsregiments ſchonungs- los aufgedeckt und die Neutralität der calenbergiſchen Nation während der Revolutionskriege gefordert hatte. Selbſt unter dieſer wohlwollenden Regierung verleugnete der alt- ſtändiſche Staat nicht die Ungerechtigkeit, die ihn überall in Deutſchland mit dem Haſſe des Volks belud. Die allerdings mäßigen Staatslaſten lagen faſt ausſchließlich auf den Schultern der Kleinbürger und der Bauern. Um keinen Preis wollte der Calenbergiſche Adel die einzige ſchwere Ab- gabe, die er eine Zeit lang getragen hatte, den Zehnt- und Scheffelſchatz wiederherſtellen, denn ſonſt wäre die Landesſchuld abgetragen worden und damit die einträgliche Schuldenverwaltung der Landſtände hinweggefallen. In der Finanzverwaltung der Landtagsausſchüſſe blühten alle Sünden des altſtändiſchen Regiments: Nepotismus, Heimlichkeit, Sinecuren-Un- weſen. Siebzig Jahre lang blieb es den Ständen Calenbergs verborgen, daß ihr Ausſchuß dem erſten Georg 300,000 Thlr. gezahlt hatte um ihm zur engliſchen Krone zu verhelfen. In der deutſchen Politik war die Eiferſucht auf Preußen der leitende Gedanke des hannoverſchen Geheimen Raths, obgleich die Natur der Dinge zuweilen ein Bündniß zwiſchen den Nachbarſtaaten erzwang. Der welfiſche Stolz vermochte gar nicht einzu- ſehen, warum dies gründlich verachtete arme Nachbarland in den deutſchen Händeln ſo viel mehr galt als das vornehme England-Hannover. Auch

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/556>, abgerufen am 24.11.2024.