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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
tage fern. Vorläufig also bestand die zweite Kammer überwiegend aus den
städtischen Vertretern, die von den Magistraten ernannt wurden, und da
die Tagegelder von den Wahlkörperschaften bezahlt werden sollten, so fiel
die Wahl der sparsamen Stadträthe zumeist auf hauptstädtische Beamte,
denen man nichts zu zahlen brauchte -- wie auch die Ritterschaft aus
demselben Grunde den Residenz-Adel bevorzugte. Also ward der defini-
tive Landtag fast noch lebloser als der provisorische gewesen. Schele und
seine Adelspartei, die bisher meist in der Minderheit geblieben waren, be-
herrschten jetzt die erste Kammer und konnten jeden Beschluß verhindern.
Nach ärgerlichem Streite und vergeblichen Vermittlungsversuchen der Re-
gierung gingen die Stände in der Regel ohne Ergebniß auseinander. Die
Protokoll-Auszüge -- das Einzige was aus ihren Verhandlungen in die
Welt drang -- hörten bald auf zu erscheinen weil Niemand sie lesen
mochte.

Nur einzelne bescheidene Reformen konnte Münster noch zu Ende
bringen. Aus den verschiedenen Beamtencorporationen der alten Zeit
wurde (1822) ein geschlossener Staatsdienerstand gebildet; die adliche Dro-
sten-Carriere hörte auf, und die adlichen Forstmeister durften sich wenig-
stens nicht mehr durch glänzende Uniformen von ihren bürgerlichen Ge-
nossen unterscheiden. Die Verwaltung erhielt endlich Mittelbehörden: sechs
Landdrosteien, deren Grenzen sich freilich mit denen der Provinzialland-
schaften wunderlich durchkreuzten. Auch die Wehrpflicht wurde gesetzlich
geordnet, natürlich mit Stellvertretung. Die Folter und einige barbarische
Strafen der Vorzeit fielen hinweg; indeß blieb der Ton der Beamten
gegen den gemeinen Mann noch immer altväterisch derb und herrisch, der
Bauer ward amtlich nur mit Er angeredet.

Im Jahre 1821 feierte das Welfenland ein großes dynastisches Freu-
denfest, das auf die politische Bildung und Gesinnung der deutschen Klein-
staaterei ein grelles Licht warf. Seit zwei Menschenaltern lernten die
hannoverschen Kinder in den Schulen, sie sollten ihren König lieben, denn
den lieben Gott könne man ja auch nicht sehen; da kam die erstaunliche
Nachricht, daß der Unsichtbare sich den Augen seiner deutschen Unterthanen
zeigen wolle. Georg IV. hatte in England die Wandlungen der Volks-
gunst genugsam erfahren.

O wüsche jede Thräne, die du weinst,
Von deinem Vater einen Frevel ab --

so hatte einst Lord Byron der weinenden Prinzessin von Wales zuge-
rufen, und wie viele andere Verwünschungen edler und freier Männer
waren seitdem auf das Haupt dieses Fürsten herniedergefallen. Als er
den Proceß gegen seine unglückliche Gemahlin führte, durfte er sich kaum
auf die Straßen Londons hinauswagen. Dann schlug die Stimmung
plötzlich um, bei seiner pomphaften Krönung begrüßte ihn die schaulustige
Menge mit donnerndem Hochruf. Froh dieser Huldigungen wollte er sich

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
tage fern. Vorläufig alſo beſtand die zweite Kammer überwiegend aus den
ſtädtiſchen Vertretern, die von den Magiſtraten ernannt wurden, und da
die Tagegelder von den Wahlkörperſchaften bezahlt werden ſollten, ſo fiel
die Wahl der ſparſamen Stadträthe zumeiſt auf hauptſtädtiſche Beamte,
denen man nichts zu zahlen brauchte — wie auch die Ritterſchaft aus
demſelben Grunde den Reſidenz-Adel bevorzugte. Alſo ward der defini-
tive Landtag faſt noch lebloſer als der proviſoriſche geweſen. Schele und
ſeine Adelspartei, die bisher meiſt in der Minderheit geblieben waren, be-
herrſchten jetzt die erſte Kammer und konnten jeden Beſchluß verhindern.
Nach ärgerlichem Streite und vergeblichen Vermittlungsverſuchen der Re-
gierung gingen die Stände in der Regel ohne Ergebniß auseinander. Die
Protokoll-Auszüge — das Einzige was aus ihren Verhandlungen in die
Welt drang — hörten bald auf zu erſcheinen weil Niemand ſie leſen
mochte.

Nur einzelne beſcheidene Reformen konnte Münſter noch zu Ende
bringen. Aus den verſchiedenen Beamtencorporationen der alten Zeit
wurde (1822) ein geſchloſſener Staatsdienerſtand gebildet; die adliche Dro-
ſten-Carriere hörte auf, und die adlichen Forſtmeiſter durften ſich wenig-
ſtens nicht mehr durch glänzende Uniformen von ihren bürgerlichen Ge-
noſſen unterſcheiden. Die Verwaltung erhielt endlich Mittelbehörden: ſechs
Landdroſteien, deren Grenzen ſich freilich mit denen der Provinzialland-
ſchaften wunderlich durchkreuzten. Auch die Wehrpflicht wurde geſetzlich
geordnet, natürlich mit Stellvertretung. Die Folter und einige barbariſche
Strafen der Vorzeit fielen hinweg; indeß blieb der Ton der Beamten
gegen den gemeinen Mann noch immer altväteriſch derb und herriſch, der
Bauer ward amtlich nur mit Er angeredet.

Im Jahre 1821 feierte das Welfenland ein großes dynaſtiſches Freu-
denfeſt, das auf die politiſche Bildung und Geſinnung der deutſchen Klein-
ſtaaterei ein grelles Licht warf. Seit zwei Menſchenaltern lernten die
hannoverſchen Kinder in den Schulen, ſie ſollten ihren König lieben, denn
den lieben Gott könne man ja auch nicht ſehen; da kam die erſtaunliche
Nachricht, daß der Unſichtbare ſich den Augen ſeiner deutſchen Unterthanen
zeigen wolle. Georg IV. hatte in England die Wandlungen der Volks-
gunſt genugſam erfahren.

O wüſche jede Thräne, die du weinſt,
Von deinem Vater einen Frevel ab —

ſo hatte einſt Lord Byron der weinenden Prinzeſſin von Wales zuge-
rufen, und wie viele andere Verwünſchungen edler und freier Männer
waren ſeitdem auf das Haupt dieſes Fürſten herniedergefallen. Als er
den Proceß gegen ſeine unglückliche Gemahlin führte, durfte er ſich kaum
auf die Straßen Londons hinauswagen. Dann ſchlug die Stimmung
plötzlich um, bei ſeiner pomphaften Krönung begrüßte ihn die ſchauluſtige
Menge mit donnerndem Hochruf. Froh dieſer Huldigungen wollte er ſich

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[554/0570] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. tage fern. Vorläufig alſo beſtand die zweite Kammer überwiegend aus den ſtädtiſchen Vertretern, die von den Magiſtraten ernannt wurden, und da die Tagegelder von den Wahlkörperſchaften bezahlt werden ſollten, ſo fiel die Wahl der ſparſamen Stadträthe zumeiſt auf hauptſtädtiſche Beamte, denen man nichts zu zahlen brauchte — wie auch die Ritterſchaft aus demſelben Grunde den Reſidenz-Adel bevorzugte. Alſo ward der defini- tive Landtag faſt noch lebloſer als der proviſoriſche geweſen. Schele und ſeine Adelspartei, die bisher meiſt in der Minderheit geblieben waren, be- herrſchten jetzt die erſte Kammer und konnten jeden Beſchluß verhindern. Nach ärgerlichem Streite und vergeblichen Vermittlungsverſuchen der Re- gierung gingen die Stände in der Regel ohne Ergebniß auseinander. Die Protokoll-Auszüge — das Einzige was aus ihren Verhandlungen in die Welt drang — hörten bald auf zu erſcheinen weil Niemand ſie leſen mochte. Nur einzelne beſcheidene Reformen konnte Münſter noch zu Ende bringen. Aus den verſchiedenen Beamtencorporationen der alten Zeit wurde (1822) ein geſchloſſener Staatsdienerſtand gebildet; die adliche Dro- ſten-Carriere hörte auf, und die adlichen Forſtmeiſter durften ſich wenig- ſtens nicht mehr durch glänzende Uniformen von ihren bürgerlichen Ge- noſſen unterſcheiden. Die Verwaltung erhielt endlich Mittelbehörden: ſechs Landdroſteien, deren Grenzen ſich freilich mit denen der Provinzialland- ſchaften wunderlich durchkreuzten. Auch die Wehrpflicht wurde geſetzlich geordnet, natürlich mit Stellvertretung. Die Folter und einige barbariſche Strafen der Vorzeit fielen hinweg; indeß blieb der Ton der Beamten gegen den gemeinen Mann noch immer altväteriſch derb und herriſch, der Bauer ward amtlich nur mit Er angeredet. Im Jahre 1821 feierte das Welfenland ein großes dynaſtiſches Freu- denfeſt, das auf die politiſche Bildung und Geſinnung der deutſchen Klein- ſtaaterei ein grelles Licht warf. Seit zwei Menſchenaltern lernten die hannoverſchen Kinder in den Schulen, ſie ſollten ihren König lieben, denn den lieben Gott könne man ja auch nicht ſehen; da kam die erſtaunliche Nachricht, daß der Unſichtbare ſich den Augen ſeiner deutſchen Unterthanen zeigen wolle. Georg IV. hatte in England die Wandlungen der Volks- gunſt genugſam erfahren. O wüſche jede Thräne, die du weinſt, Von deinem Vater einen Frevel ab — ſo hatte einſt Lord Byron der weinenden Prinzeſſin von Wales zuge- rufen, und wie viele andere Verwünſchungen edler und freier Männer waren ſeitdem auf das Haupt dieſes Fürſten herniedergefallen. Als er den Proceß gegen ſeine unglückliche Gemahlin führte, durfte er ſich kaum auf die Straßen Londons hinauswagen. Dann ſchlug die Stimmung plötzlich um, bei ſeiner pomphaften Krönung begrüßte ihn die ſchauluſtige Menge mit donnerndem Hochruf. Froh dieſer Huldigungen wollte er ſich

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/570>, abgerufen am 22.11.2024.