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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
gewalt ihre Machtvollkommenheit erreichte, erlebte sie in Mecklenburg ihren
tiefsten Fall. In classischen Worten verkündete dies Grundgesetz die patri-
moniale Staatsansicht, welche Haller späterhin ins System brachte: der
Staat erschien hier nur als ein Nebeneinander wohlerworbener Sonder-
rechte, das gemeine Recht ward grundsätzlich verleugnet, selbst das gemeine
Wohl nur nebenher anerkannt. Die Landesordnungen, so hieß es (§ 192,
194), theilen sich in zwei Klassen: solche, die das herzogliche Kammergut,
und solche, die das gesammte Land, Ritter- und Landschaft angehen. Unter
den letzteren wieder werden unterschieden solche Ordnungen, welche die
wohlerworbenen Rechte von Ritter- und Landschaft berühren, und "solche
Gesetze, welche gleichgiltig, jedoch zur Wohlfahrt und zum Vortheil des
gesammten Landes absichtlich und diensam sind."

Diesen Rechtsbestand fand Herzog Friedrich Franz von Schwerin
vor, als er im Jahre 1785 seine lange Regierung begann, ein Fürst so
recht nach dem Herzen des Volks, derb und gradezu, fröhlich und neckisch,
nicht sonderlich gebildet, aber von kerngesundem Verstande, ein abgesagter
Feind aller Frömmelei. Wer hätte ihm zürnen mögen, weil er den Wei-
bern, dem Weine, den Karten und nahezu allen Freuden des Lebens
noch über das ländlich sittliche Maß hinaus ergeben war? Sein Mutter-
witz und sein Wohlwollen machten Alles wieder gut. In Doberan, dem
ersten deutschen Seebade, das er eingerichtet hatte, sah man ihn oft stun-
denlang mit den Rostocker Studenten trinken oder auch mit irgend einem
Handwerksmeister zusammen an der Spielbank sitzen, bis sie gründlich
ausgebeutelt selbander heimgingen. Mit jenen "gleichgiltigen" Gesetzen
für die gemeine Wohlfahrt nahm er es sehr ernst, und mehrmals ver-
suchte er, fast immer umsonst, sich der Bauern gegen den Adel anzu-
nehmen. Die demüthige Stellung, die ihm das Landesrecht anwies, war
der kräftigen Natur des Herzogs widerwärtig. Er sprach seinen Unwillen
über das Adelsregiment so derb aus, daß er noch lange nach seinem
Tode von den Liberalen als der mecklenburgische Reformfürst verehrt wurde.
Als er durch den Rheinbund die Souveränität erlangt hatte, erklärte er
den Ständen seine Absicht, dem gesammten Lande eine Verfassung zu
geben. Der Landtag aber kannte die Geldnoth des leichtlebigen Fürsten
und vereitelte die Reform durch rechtzeitige Bewilligung eines erhöhten
Hufenschosses.

So kam denn der Erbvergleich, als das älteste der bestehenden deut-
schen Verfassungsgesetze, ganz unverändert in die neue Zeit hinüber und
ward auch vom Bundestage anerkannt, obwohl sein Inhalt mit den Vor-
schriften der Bundesakte nicht recht übereinstimmte. Das Großherzogthum
Mecklenburg-Strelitz, das die Bundesgesetze unter den souveränen deut-
schen Bundesstaaten aufführten, war dem mecklenburgischen Staatsrechte
ganz unbekannt. Hier kannte man nur das Herzogthum Schwerin, das
den mecklenburgischen Kreis umfaßte, und das Herzogthum Güstrow, dem

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
gewalt ihre Machtvollkommenheit erreichte, erlebte ſie in Mecklenburg ihren
tiefſten Fall. In claſſiſchen Worten verkündete dies Grundgeſetz die patri-
moniale Staatsanſicht, welche Haller ſpäterhin ins Syſtem brachte: der
Staat erſchien hier nur als ein Nebeneinander wohlerworbener Sonder-
rechte, das gemeine Recht ward grundſätzlich verleugnet, ſelbſt das gemeine
Wohl nur nebenher anerkannt. Die Landesordnungen, ſo hieß es (§ 192,
194), theilen ſich in zwei Klaſſen: ſolche, die das herzogliche Kammergut,
und ſolche, die das geſammte Land, Ritter- und Landſchaft angehen. Unter
den letzteren wieder werden unterſchieden ſolche Ordnungen, welche die
wohlerworbenen Rechte von Ritter- und Landſchaft berühren, und „ſolche
Geſetze, welche gleichgiltig, jedoch zur Wohlfahrt und zum Vortheil des
geſammten Landes abſichtlich und dienſam ſind.“

Dieſen Rechtsbeſtand fand Herzog Friedrich Franz von Schwerin
vor, als er im Jahre 1785 ſeine lange Regierung begann, ein Fürſt ſo
recht nach dem Herzen des Volks, derb und gradezu, fröhlich und neckiſch,
nicht ſonderlich gebildet, aber von kerngeſundem Verſtande, ein abgeſagter
Feind aller Frömmelei. Wer hätte ihm zürnen mögen, weil er den Wei-
bern, dem Weine, den Karten und nahezu allen Freuden des Lebens
noch über das ländlich ſittliche Maß hinaus ergeben war? Sein Mutter-
witz und ſein Wohlwollen machten Alles wieder gut. In Doberan, dem
erſten deutſchen Seebade, das er eingerichtet hatte, ſah man ihn oft ſtun-
denlang mit den Roſtocker Studenten trinken oder auch mit irgend einem
Handwerksmeiſter zuſammen an der Spielbank ſitzen, bis ſie gründlich
ausgebeutelt ſelbander heimgingen. Mit jenen „gleichgiltigen“ Geſetzen
für die gemeine Wohlfahrt nahm er es ſehr ernſt, und mehrmals ver-
ſuchte er, faſt immer umſonſt, ſich der Bauern gegen den Adel anzu-
nehmen. Die demüthige Stellung, die ihm das Landesrecht anwies, war
der kräftigen Natur des Herzogs widerwärtig. Er ſprach ſeinen Unwillen
über das Adelsregiment ſo derb aus, daß er noch lange nach ſeinem
Tode von den Liberalen als der mecklenburgiſche Reformfürſt verehrt wurde.
Als er durch den Rheinbund die Souveränität erlangt hatte, erklärte er
den Ständen ſeine Abſicht, dem geſammten Lande eine Verfaſſung zu
geben. Der Landtag aber kannte die Geldnoth des leichtlebigen Fürſten
und vereitelte die Reform durch rechtzeitige Bewilligung eines erhöhten
Hufenſchoſſes.

So kam denn der Erbvergleich, als das älteſte der beſtehenden deut-
ſchen Verfaſſungsgeſetze, ganz unverändert in die neue Zeit hinüber und
ward auch vom Bundestage anerkannt, obwohl ſein Inhalt mit den Vor-
ſchriften der Bundesakte nicht recht übereinſtimmte. Das Großherzogthum
Mecklenburg-Strelitz, das die Bundesgeſetze unter den ſouveränen deut-
ſchen Bundesſtaaten aufführten, war dem mecklenburgiſchen Staatsrechte
ganz unbekannt. Hier kannte man nur das Herzogthum Schwerin, das
den mecklenburgiſchen Kreis umfaßte, und das Herzogthum Güſtrow, dem

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[568/0584] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. gewalt ihre Machtvollkommenheit erreichte, erlebte ſie in Mecklenburg ihren tiefſten Fall. In claſſiſchen Worten verkündete dies Grundgeſetz die patri- moniale Staatsanſicht, welche Haller ſpäterhin ins Syſtem brachte: der Staat erſchien hier nur als ein Nebeneinander wohlerworbener Sonder- rechte, das gemeine Recht ward grundſätzlich verleugnet, ſelbſt das gemeine Wohl nur nebenher anerkannt. Die Landesordnungen, ſo hieß es (§ 192, 194), theilen ſich in zwei Klaſſen: ſolche, die das herzogliche Kammergut, und ſolche, die das geſammte Land, Ritter- und Landſchaft angehen. Unter den letzteren wieder werden unterſchieden ſolche Ordnungen, welche die wohlerworbenen Rechte von Ritter- und Landſchaft berühren, und „ſolche Geſetze, welche gleichgiltig, jedoch zur Wohlfahrt und zum Vortheil des geſammten Landes abſichtlich und dienſam ſind.“ Dieſen Rechtsbeſtand fand Herzog Friedrich Franz von Schwerin vor, als er im Jahre 1785 ſeine lange Regierung begann, ein Fürſt ſo recht nach dem Herzen des Volks, derb und gradezu, fröhlich und neckiſch, nicht ſonderlich gebildet, aber von kerngeſundem Verſtande, ein abgeſagter Feind aller Frömmelei. Wer hätte ihm zürnen mögen, weil er den Wei- bern, dem Weine, den Karten und nahezu allen Freuden des Lebens noch über das ländlich ſittliche Maß hinaus ergeben war? Sein Mutter- witz und ſein Wohlwollen machten Alles wieder gut. In Doberan, dem erſten deutſchen Seebade, das er eingerichtet hatte, ſah man ihn oft ſtun- denlang mit den Roſtocker Studenten trinken oder auch mit irgend einem Handwerksmeiſter zuſammen an der Spielbank ſitzen, bis ſie gründlich ausgebeutelt ſelbander heimgingen. Mit jenen „gleichgiltigen“ Geſetzen für die gemeine Wohlfahrt nahm er es ſehr ernſt, und mehrmals ver- ſuchte er, faſt immer umſonſt, ſich der Bauern gegen den Adel anzu- nehmen. Die demüthige Stellung, die ihm das Landesrecht anwies, war der kräftigen Natur des Herzogs widerwärtig. Er ſprach ſeinen Unwillen über das Adelsregiment ſo derb aus, daß er noch lange nach ſeinem Tode von den Liberalen als der mecklenburgiſche Reformfürſt verehrt wurde. Als er durch den Rheinbund die Souveränität erlangt hatte, erklärte er den Ständen ſeine Abſicht, dem geſammten Lande eine Verfaſſung zu geben. Der Landtag aber kannte die Geldnoth des leichtlebigen Fürſten und vereitelte die Reform durch rechtzeitige Bewilligung eines erhöhten Hufenſchoſſes. So kam denn der Erbvergleich, als das älteſte der beſtehenden deut- ſchen Verfaſſungsgeſetze, ganz unverändert in die neue Zeit hinüber und ward auch vom Bundestage anerkannt, obwohl ſein Inhalt mit den Vor- ſchriften der Bundesakte nicht recht übereinſtimmte. Das Großherzogthum Mecklenburg-Strelitz, das die Bundesgeſetze unter den ſouveränen deut- ſchen Bundesſtaaten aufführten, war dem mecklenburgiſchen Staatsrechte ganz unbekannt. Hier kannte man nur das Herzogthum Schwerin, das den mecklenburgiſchen Kreis umfaßte, und das Herzogthum Güſtrow, dem

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 568. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/584>, abgerufen am 22.11.2024.