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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Altständische Selbstverwaltung.
Raume zwischen zweien Meeren zusammen. Der schleswigsche Bauer ver-
glich sein schönes Land einem Schweine mit dürrem Rücken und fetten
Flanken. In der Mitte die schauerliche Einsamkeit der schwarzen Heide.
Im Westen die Geest und weiter abwärts hinter dem güldenen Ring ihrer
Deiche die reichen Marschen; davor zwischen der stillen grauen Wattensee
und der brandenden Nordsee die mächtigen Dünenreichen der friesischen
Inseln und die flachen wie auf den Wogen schwimmenden Halligen. Im
Osten an den tief eingeschnittenen Buchten und Föhrden des blauen bal-
tischen Meeres königliche Buchenwälder auf welligem Boden, fette Weiden,
üppige Felder, alle von den lebendigen Hecken der Knicks umschlossen. Dazu
im östlichen Holstein große adliche Güter, in Schleswig und den Marschen
fast überall bäuerlicher Besitz.

In dieser Mannichfaltigkeit der Bodenverhältnisse war ein unabseh-
bares Gewirr communaler Sonderrechte aufgewuchert, das der schleswig-
holsteinischen Kanzlei in Kopenhagen selber fast unbekannt blieb. Daß dies
Land mit seinen 700,000 Menschen jemals eine gemeinsame Kreisordnung
erhalten könnte, hielt Jedermann für unmöglich, und es war auch unmög-
lich so lange nicht eine starke deutsche Staatsgewalt ordnend dazwischen-
fuhr. Da gab es Landschaften, Aemter und Harden, in den eingedeichten
Marschbezirken octroyirte Kooge, daneben selbständige Städte, adliche Guts-
bezirke und vier adliche Klosterbezirke unter ihren Pröpsten und Verbittern;
hier demokratische, da aristokratische, dort monarchische Ordnung; hier Ur-
versammlungen der gesammten Dorfschaften, da erwählte Bauerschafts-
vollmachten, dort durch den Amtmann ernannte Vorsteher. Ditmarschen,
die glorreiche Bauernrepublik, die dreihundert Jahre lang ihre Freiheit
mit Heldenmuth vertheidigt hatte, war auch als sich die Landschaft nach
der unglücklichen "letzten Fehde" dem Dänenkönige unterwerfen mußte,
noch im Besitze kostbarer Sonderrechte geblieben. Nur Landeskinder aus
den Marschen durften hier angestellt werden, nur mit Zustimmung der
erwählten Räthe aus dem Kirchspiele konnten die beiden Landvögte ihre
Verordnungen erlassen. Und welche Verschiedenheit wieder innerhalb dieser
kleinen Landschaft: in Süderditmarschen, das lange unter den Gottorpern
gestanden, war Alles verwahrlost, in Norderditmarschen hatten die könig-
lichen Landvögte jederzeit gute Ordnung gehalten. Auf Sylt besaßen die
Landesgevollmächtigten mit ihrem Landvogte ein wenig beschränktes Recht
der Autonomie, sie verfügten was ihnen gut dünkte durch Landesbelie-
bungen. Auf den adlichen Gütern dagegen übte der Bauernvogt die niedere
Polizei und verkündete den Hintersassen die Befehle der Gutsobrigkeit;
wohlmeinende Gutsherren errichteten häufig gute Schulen und Armen-
häuser, ordneten die communalen Beitragspflichten durch Contracte, aber
eine Dorfordnung wurde den hintersässigen Bauern auch nach der Auf-
hebung der Leibeigenschaft nur selten gewährt.

Die Entwicklung dieses buntscheckigen Communalwesens lag guten-

Altſtändiſche Selbſtverwaltung.
Raume zwiſchen zweien Meeren zuſammen. Der ſchleswigſche Bauer ver-
glich ſein ſchönes Land einem Schweine mit dürrem Rücken und fetten
Flanken. In der Mitte die ſchauerliche Einſamkeit der ſchwarzen Heide.
Im Weſten die Geeſt und weiter abwärts hinter dem güldenen Ring ihrer
Deiche die reichen Marſchen; davor zwiſchen der ſtillen grauen Wattenſee
und der brandenden Nordſee die mächtigen Dünenreichen der frieſiſchen
Inſeln und die flachen wie auf den Wogen ſchwimmenden Halligen. Im
Oſten an den tief eingeſchnittenen Buchten und Föhrden des blauen bal-
tiſchen Meeres königliche Buchenwälder auf welligem Boden, fette Weiden,
üppige Felder, alle von den lebendigen Hecken der Knicks umſchloſſen. Dazu
im öſtlichen Holſtein große adliche Güter, in Schleswig und den Marſchen
faſt überall bäuerlicher Beſitz.

In dieſer Mannichfaltigkeit der Bodenverhältniſſe war ein unabſeh-
bares Gewirr communaler Sonderrechte aufgewuchert, das der ſchleswig-
holſteiniſchen Kanzlei in Kopenhagen ſelber faſt unbekannt blieb. Daß dies
Land mit ſeinen 700,000 Menſchen jemals eine gemeinſame Kreisordnung
erhalten könnte, hielt Jedermann für unmöglich, und es war auch unmög-
lich ſo lange nicht eine ſtarke deutſche Staatsgewalt ordnend dazwiſchen-
fuhr. Da gab es Landſchaften, Aemter und Harden, in den eingedeichten
Marſchbezirken octroyirte Kooge, daneben ſelbſtändige Städte, adliche Guts-
bezirke und vier adliche Kloſterbezirke unter ihren Pröpſten und Verbittern;
hier demokratiſche, da ariſtokratiſche, dort monarchiſche Ordnung; hier Ur-
verſammlungen der geſammten Dorfſchaften, da erwählte Bauerſchafts-
vollmachten, dort durch den Amtmann ernannte Vorſteher. Ditmarſchen,
die glorreiche Bauernrepublik, die dreihundert Jahre lang ihre Freiheit
mit Heldenmuth vertheidigt hatte, war auch als ſich die Landſchaft nach
der unglücklichen „letzten Fehde“ dem Dänenkönige unterwerfen mußte,
noch im Beſitze koſtbarer Sonderrechte geblieben. Nur Landeskinder aus
den Marſchen durften hier angeſtellt werden, nur mit Zuſtimmung der
erwählten Räthe aus dem Kirchſpiele konnten die beiden Landvögte ihre
Verordnungen erlaſſen. Und welche Verſchiedenheit wieder innerhalb dieſer
kleinen Landſchaft: in Süderditmarſchen, das lange unter den Gottorpern
geſtanden, war Alles verwahrloſt, in Norderditmarſchen hatten die könig-
lichen Landvögte jederzeit gute Ordnung gehalten. Auf Sylt beſaßen die
Landesgevollmächtigten mit ihrem Landvogte ein wenig beſchränktes Recht
der Autonomie, ſie verfügten was ihnen gut dünkte durch Landesbelie-
bungen. Auf den adlichen Gütern dagegen übte der Bauernvogt die niedere
Polizei und verkündete den Hinterſaſſen die Befehle der Gutsobrigkeit;
wohlmeinende Gutsherren errichteten häufig gute Schulen und Armen-
häuſer, ordneten die communalen Beitragspflichten durch Contracte, aber
eine Dorfordnung wurde den hinterſäſſigen Bauern auch nach der Auf-
hebung der Leibeigenſchaft nur ſelten gewährt.

Die Entwicklung dieſes buntſcheckigen Communalweſens lag guten-

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[589/0605] Altſtändiſche Selbſtverwaltung. Raume zwiſchen zweien Meeren zuſammen. Der ſchleswigſche Bauer ver- glich ſein ſchönes Land einem Schweine mit dürrem Rücken und fetten Flanken. In der Mitte die ſchauerliche Einſamkeit der ſchwarzen Heide. Im Weſten die Geeſt und weiter abwärts hinter dem güldenen Ring ihrer Deiche die reichen Marſchen; davor zwiſchen der ſtillen grauen Wattenſee und der brandenden Nordſee die mächtigen Dünenreichen der frieſiſchen Inſeln und die flachen wie auf den Wogen ſchwimmenden Halligen. Im Oſten an den tief eingeſchnittenen Buchten und Föhrden des blauen bal- tiſchen Meeres königliche Buchenwälder auf welligem Boden, fette Weiden, üppige Felder, alle von den lebendigen Hecken der Knicks umſchloſſen. Dazu im öſtlichen Holſtein große adliche Güter, in Schleswig und den Marſchen faſt überall bäuerlicher Beſitz. In dieſer Mannichfaltigkeit der Bodenverhältniſſe war ein unabſeh- bares Gewirr communaler Sonderrechte aufgewuchert, das der ſchleswig- holſteiniſchen Kanzlei in Kopenhagen ſelber faſt unbekannt blieb. Daß dies Land mit ſeinen 700,000 Menſchen jemals eine gemeinſame Kreisordnung erhalten könnte, hielt Jedermann für unmöglich, und es war auch unmög- lich ſo lange nicht eine ſtarke deutſche Staatsgewalt ordnend dazwiſchen- fuhr. Da gab es Landſchaften, Aemter und Harden, in den eingedeichten Marſchbezirken octroyirte Kooge, daneben ſelbſtändige Städte, adliche Guts- bezirke und vier adliche Kloſterbezirke unter ihren Pröpſten und Verbittern; hier demokratiſche, da ariſtokratiſche, dort monarchiſche Ordnung; hier Ur- verſammlungen der geſammten Dorfſchaften, da erwählte Bauerſchafts- vollmachten, dort durch den Amtmann ernannte Vorſteher. Ditmarſchen, die glorreiche Bauernrepublik, die dreihundert Jahre lang ihre Freiheit mit Heldenmuth vertheidigt hatte, war auch als ſich die Landſchaft nach der unglücklichen „letzten Fehde“ dem Dänenkönige unterwerfen mußte, noch im Beſitze koſtbarer Sonderrechte geblieben. Nur Landeskinder aus den Marſchen durften hier angeſtellt werden, nur mit Zuſtimmung der erwählten Räthe aus dem Kirchſpiele konnten die beiden Landvögte ihre Verordnungen erlaſſen. Und welche Verſchiedenheit wieder innerhalb dieſer kleinen Landſchaft: in Süderditmarſchen, das lange unter den Gottorpern geſtanden, war Alles verwahrloſt, in Norderditmarſchen hatten die könig- lichen Landvögte jederzeit gute Ordnung gehalten. Auf Sylt beſaßen die Landesgevollmächtigten mit ihrem Landvogte ein wenig beſchränktes Recht der Autonomie, ſie verfügten was ihnen gut dünkte durch Landesbelie- bungen. Auf den adlichen Gütern dagegen übte der Bauernvogt die niedere Polizei und verkündete den Hinterſaſſen die Befehle der Gutsobrigkeit; wohlmeinende Gutsherren errichteten häufig gute Schulen und Armen- häuſer, ordneten die communalen Beitragspflichten durch Contracte, aber eine Dorfordnung wurde den hinterſäſſigen Bauern auch nach der Auf- hebung der Leibeigenſchaft nur ſelten gewährt. Die Entwicklung dieſes buntſcheckigen Communalweſens lag guten-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/605>, abgerufen am 23.11.2024.