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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
theils in der Hand der königlichen Amtleute, Landdrosten, Landvögte und
Hardesvögte. Die Beamten waren hoch besoldet, fast durchweg sehr ge-
bildet und in den Formen der guten Gesellschaft heimisch, aber auch meist
wenig geneigt sich übermäßig anzustrengen. Mannichfache Privilegien
sorgten für die Behaglichkeit der höheren Stände; der Kieler Professor
zahlte weder Steuern noch Zölle, und auch der wohlhabende Student konnte,
da er doch unfehlbar mit irgend einem Amtmann oder Landvogt ver-
vettert war, mit Sicherheit auf die Ertheilung eines Armuthszeugnisses
rechnen. Im Privatrechte bestand noch der uralte Brauch des Einlagers
mancher Schuldner blieb jahrelang in freiwilliger Haft, lediglich durch
sein Ehrenwort gebunden. Der Regel nach wurden alle Rechnungen des
vergangenen Jahres im Januar auf dem Kieler Umschlage ausgeglichen;
da schleppte man Massen von Silbergeld in großen Karren durch die
Straßen. Die Holsten duldeten keine Milderung des harten Schuldge-
setzes, der Kieler Umschlagsstrenge; es war ihr Stolz, daß nirgendwo in
der Welt Manneswort so hoch gehalten werde.

Unter diesen altväterischen Verhältnissen konnte die wirthschaftliche
Kraft des Landes sich nur wenig entwickeln. Der Günstling zweier Meere,
wie Dahlmann sein Transalbingien nannte, zog aus seiner glücklichen
Lage geringen Vortheil, da der freie Verkehr mit Dänemark keinen Ersatz
bot für die Abtrennung von dem großen deutschen Hinterlande. Die Ein-
tagsblüthe der beiden Plätze Husum und Tönningen, die während der
Continentalsperre einen einträglichen Schmuggelhandel mit Helgoland ge-
trieben hatten, verschwand gleich nach dem Frieden. Der Eiderkanal, der
beide Meere verband, trug nur kleine Schiffe. Der schönste Hafen der Ost-
see, Kiel, zählte kaum 12,000 Einwohner, und selbst Altona gelangte trotz
der Sorgsamkeit seines trefflichen Oberpräsidenten des Grafen Blücher
nicht zu selbständiger Handelsgröße; die Stadt zehrte doch nur von den
Brocken, die von Hamburgs reichem Tische fielen. Erstaunlich, wie das
vormals so kunstgeübte Handwerk der Herzogthümer im Schlendrian des
Zunftwesens heruntergekommen war. Die wohlhabenden Landwirthe frag-
ten wenig nach alledem; sie waren reich genug um sich ihren Haus-
bedarf, trotz der hohen Zölle, aus Hamburg zu verschreiben. Noth litt
hier doch Niemand. In Ditmarschen geschah es wohl, daß der Almosen-
empfänger dem besuchenden Armenvogt eine Flasche Bordeaux vorsetzte;
das gehörte zum Leben. So lebte das reiche Ackerbauland still gemüth-
lich dahin, recht nach dem Spruche des alten Ditmarschen Neocorus: nik
flegen sündern stahn, dat is in Gott gedan. In ähnlichem Zustande
hatten sich achthundert Jahre zuvor, ehe der normannische Eroberer sie
schüttelte, die nächsten Blutsverwandten der Holsten, die britischen Angel-
sachsen befunden -- ein tapferes, treues, ehrenfestes Volk, reich im Ge-
müthe und zu allem Großen fähig, aber befangen in sattem Behagen,
ohne Ehrgeiz, noch ohne Ahnung von seinem historischen Berufe.

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
theils in der Hand der königlichen Amtleute, Landdroſten, Landvögte und
Hardesvögte. Die Beamten waren hoch beſoldet, faſt durchweg ſehr ge-
bildet und in den Formen der guten Geſellſchaft heimiſch, aber auch meiſt
wenig geneigt ſich übermäßig anzuſtrengen. Mannichfache Privilegien
ſorgten für die Behaglichkeit der höheren Stände; der Kieler Profeſſor
zahlte weder Steuern noch Zölle, und auch der wohlhabende Student konnte,
da er doch unfehlbar mit irgend einem Amtmann oder Landvogt ver-
vettert war, mit Sicherheit auf die Ertheilung eines Armuthszeugniſſes
rechnen. Im Privatrechte beſtand noch der uralte Brauch des Einlagers
mancher Schuldner blieb jahrelang in freiwilliger Haft, lediglich durch
ſein Ehrenwort gebunden. Der Regel nach wurden alle Rechnungen des
vergangenen Jahres im Januar auf dem Kieler Umſchlage ausgeglichen;
da ſchleppte man Maſſen von Silbergeld in großen Karren durch die
Straßen. Die Holſten duldeten keine Milderung des harten Schuldge-
ſetzes, der Kieler Umſchlagsſtrenge; es war ihr Stolz, daß nirgendwo in
der Welt Manneswort ſo hoch gehalten werde.

Unter dieſen altväteriſchen Verhältniſſen konnte die wirthſchaftliche
Kraft des Landes ſich nur wenig entwickeln. Der Günſtling zweier Meere,
wie Dahlmann ſein Transalbingien nannte, zog aus ſeiner glücklichen
Lage geringen Vortheil, da der freie Verkehr mit Dänemark keinen Erſatz
bot für die Abtrennung von dem großen deutſchen Hinterlande. Die Ein-
tagsblüthe der beiden Plätze Huſum und Tönningen, die während der
Continentalſperre einen einträglichen Schmuggelhandel mit Helgoland ge-
trieben hatten, verſchwand gleich nach dem Frieden. Der Eiderkanal, der
beide Meere verband, trug nur kleine Schiffe. Der ſchönſte Hafen der Oſt-
ſee, Kiel, zählte kaum 12,000 Einwohner, und ſelbſt Altona gelangte trotz
der Sorgſamkeit ſeines trefflichen Oberpräſidenten des Grafen Blücher
nicht zu ſelbſtändiger Handelsgröße; die Stadt zehrte doch nur von den
Brocken, die von Hamburgs reichem Tiſche fielen. Erſtaunlich, wie das
vormals ſo kunſtgeübte Handwerk der Herzogthümer im Schlendrian des
Zunftweſens heruntergekommen war. Die wohlhabenden Landwirthe frag-
ten wenig nach alledem; ſie waren reich genug um ſich ihren Haus-
bedarf, trotz der hohen Zölle, aus Hamburg zu verſchreiben. Noth litt
hier doch Niemand. In Ditmarſchen geſchah es wohl, daß der Almoſen-
empfänger dem beſuchenden Armenvogt eine Flaſche Bordeaux vorſetzte;
das gehörte zum Leben. So lebte das reiche Ackerbauland ſtill gemüth-
lich dahin, recht nach dem Spruche des alten Ditmarſchen Neocorus: nik
flegen ſündern ſtahn, dat is in Gott gedan. In ähnlichem Zuſtande
hatten ſich achthundert Jahre zuvor, ehe der normanniſche Eroberer ſie
ſchüttelte, die nächſten Blutsverwandten der Holſten, die britiſchen Angel-
ſachſen befunden — ein tapferes, treues, ehrenfeſtes Volk, reich im Ge-
müthe und zu allem Großen fähig, aber befangen in ſattem Behagen,
ohne Ehrgeiz, noch ohne Ahnung von ſeinem hiſtoriſchen Berufe.

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[590/0606] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. theils in der Hand der königlichen Amtleute, Landdroſten, Landvögte und Hardesvögte. Die Beamten waren hoch beſoldet, faſt durchweg ſehr ge- bildet und in den Formen der guten Geſellſchaft heimiſch, aber auch meiſt wenig geneigt ſich übermäßig anzuſtrengen. Mannichfache Privilegien ſorgten für die Behaglichkeit der höheren Stände; der Kieler Profeſſor zahlte weder Steuern noch Zölle, und auch der wohlhabende Student konnte, da er doch unfehlbar mit irgend einem Amtmann oder Landvogt ver- vettert war, mit Sicherheit auf die Ertheilung eines Armuthszeugniſſes rechnen. Im Privatrechte beſtand noch der uralte Brauch des Einlagers mancher Schuldner blieb jahrelang in freiwilliger Haft, lediglich durch ſein Ehrenwort gebunden. Der Regel nach wurden alle Rechnungen des vergangenen Jahres im Januar auf dem Kieler Umſchlage ausgeglichen; da ſchleppte man Maſſen von Silbergeld in großen Karren durch die Straßen. Die Holſten duldeten keine Milderung des harten Schuldge- ſetzes, der Kieler Umſchlagsſtrenge; es war ihr Stolz, daß nirgendwo in der Welt Manneswort ſo hoch gehalten werde. Unter dieſen altväteriſchen Verhältniſſen konnte die wirthſchaftliche Kraft des Landes ſich nur wenig entwickeln. Der Günſtling zweier Meere, wie Dahlmann ſein Transalbingien nannte, zog aus ſeiner glücklichen Lage geringen Vortheil, da der freie Verkehr mit Dänemark keinen Erſatz bot für die Abtrennung von dem großen deutſchen Hinterlande. Die Ein- tagsblüthe der beiden Plätze Huſum und Tönningen, die während der Continentalſperre einen einträglichen Schmuggelhandel mit Helgoland ge- trieben hatten, verſchwand gleich nach dem Frieden. Der Eiderkanal, der beide Meere verband, trug nur kleine Schiffe. Der ſchönſte Hafen der Oſt- ſee, Kiel, zählte kaum 12,000 Einwohner, und ſelbſt Altona gelangte trotz der Sorgſamkeit ſeines trefflichen Oberpräſidenten des Grafen Blücher nicht zu ſelbſtändiger Handelsgröße; die Stadt zehrte doch nur von den Brocken, die von Hamburgs reichem Tiſche fielen. Erſtaunlich, wie das vormals ſo kunſtgeübte Handwerk der Herzogthümer im Schlendrian des Zunftweſens heruntergekommen war. Die wohlhabenden Landwirthe frag- ten wenig nach alledem; ſie waren reich genug um ſich ihren Haus- bedarf, trotz der hohen Zölle, aus Hamburg zu verſchreiben. Noth litt hier doch Niemand. In Ditmarſchen geſchah es wohl, daß der Almoſen- empfänger dem beſuchenden Armenvogt eine Flaſche Bordeaux vorſetzte; das gehörte zum Leben. So lebte das reiche Ackerbauland ſtill gemüth- lich dahin, recht nach dem Spruche des alten Ditmarſchen Neocorus: nik flegen ſündern ſtahn, dat is in Gott gedan. In ähnlichem Zuſtande hatten ſich achthundert Jahre zuvor, ehe der normanniſche Eroberer ſie ſchüttelte, die nächſten Blutsverwandten der Holſten, die britiſchen Angel- ſachſen befunden — ein tapferes, treues, ehrenfeſtes Volk, reich im Ge- müthe und zu allem Großen fähig, aber befangen in ſattem Behagen, ohne Ehrgeiz, noch ohne Ahnung von ſeinem hiſtoriſchen Berufe.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/606>, abgerufen am 23.11.2024.