der Ritterschaft auflösen. So blieb denn nichts mehr übrig als eine Be- schwerde beim Bundestage.
Am 4. December 1822 wurde die Petition der holsteinischen Prälaten und Ritter in Frankfurt übergeben. Sie ging dahin: der Bundestag möge auf Grund des Art. 56 der Wiener Schlußakte die alte Verfassung Schleswigholsteins unter seinen Schutz nehmen und darüber wachen, daß die nothwendige zeitgemäße Umgestaltung dieses Landesrechts nur auf ver- fassungsmäßigem Wege erfolge. Eine treffliche Denkschrift aus Dahl- mann's Feder begründete die Bitte. "In Vielem zwistig -- so hieß es zum Schluß -- stimmen wir darin innerlich überein, daß wir in starker Verbrüderung mit Dänemark gedeihen können, glücklich unter dem gemein- samen Oberherrn vom altgeliebten Geschlechte, aber in Verschmelzung nimmermehr; eine zu starke Scheidewand hat die Natur gesetzt, die sich nicht spotten läßt, an Sprache, Sitte, Verfassung, jeder geschichtlichen Er- innerung."
Wärmer zugleich und würdiger war am Bundestage selten gesprochen worden; zum ersten male erklärte die deutsche Nordmark feierlich, daß sie bei Deutschland bleiben wolle. Aber stand auch das Bundesrecht den Bittenden zur Seite? Jener Artikel 56 bestimmte, daß "die in aner- kannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen" nur auf verfassungsmäßigem Wege abgeändert werden sollten. Bestand die alte Verfassung Schleswigholsteins in der That noch in anerkannter Wirk- samkeit, obgleich der Landtag seit 1675, die Ritterschaft seit 1711 nicht mehr versammelt worden und von allen ständischen Institutionen nichts mehr übrig war als der Siebenmänner-Ausschuß der Ritterschaft? Dahl- mann bejahte die Frage zuversichtlich, und fast alle Historiker, welche seit- dem den Streitfall erörtert haben, sind seiner Meinung gefolgt.*) Ihnen Allen waren die Berathungen der Wiener Conferenzen vom Jahre 1820 nicht im Einzelnen bekannt. Nur aus diesen ließ sich die Absicht der Gesetzgeber erkennen und mit Sicherheit erweisen, was die Schlußakte unter der "anerkannten Wirksamkeit" einer Verfassung verstand. Der Art. 56 hatte in Wien seine Fassung auf Bernstorff's Antrag erhalten, und die Worte "anerkannte Wirksamkeit" waren ausdrücklich darum ge- wählt worden, weil Preußen verhindern wollte, daß solche halbzerstörte altständische Verfassungen wie die kurmärkische, die pommersche, die clevische, sich auf den Schutz des Bundestags beriefen.**) Wer jene Wiener Ver- handlungen kannte, mußte also leider zu dem Schlusse gelangen, daß die Verfassung Schleswigholsteins nach Bundesrecht nicht in anerkannter Wirksamkeit stand.
*) Auch der Verfasser dieses Buchs in seiner Abhandlung über Dahlmann (Histor. und polit. Auffätze I. 363).
**) S. o. III. 21.
Die Ritterſchaft vor dem Bundestage.
der Ritterſchaft auflöſen. So blieb denn nichts mehr übrig als eine Be- ſchwerde beim Bundestage.
Am 4. December 1822 wurde die Petition der holſteiniſchen Prälaten und Ritter in Frankfurt übergeben. Sie ging dahin: der Bundestag möge auf Grund des Art. 56 der Wiener Schlußakte die alte Verfaſſung Schleswigholſteins unter ſeinen Schutz nehmen und darüber wachen, daß die nothwendige zeitgemäße Umgeſtaltung dieſes Landesrechts nur auf ver- faſſungsmäßigem Wege erfolge. Eine treffliche Denkſchrift aus Dahl- mann’s Feder begründete die Bitte. „In Vielem zwiſtig — ſo hieß es zum Schluß — ſtimmen wir darin innerlich überein, daß wir in ſtarker Verbrüderung mit Dänemark gedeihen können, glücklich unter dem gemein- ſamen Oberherrn vom altgeliebten Geſchlechte, aber in Verſchmelzung nimmermehr; eine zu ſtarke Scheidewand hat die Natur geſetzt, die ſich nicht ſpotten läßt, an Sprache, Sitte, Verfaſſung, jeder geſchichtlichen Er- innerung.“
Wärmer zugleich und würdiger war am Bundestage ſelten geſprochen worden; zum erſten male erklärte die deutſche Nordmark feierlich, daß ſie bei Deutſchland bleiben wolle. Aber ſtand auch das Bundesrecht den Bittenden zur Seite? Jener Artikel 56 beſtimmte, daß „die in aner- kannter Wirkſamkeit beſtehenden landſtändiſchen Verfaſſungen“ nur auf verfaſſungsmäßigem Wege abgeändert werden ſollten. Beſtand die alte Verfaſſung Schleswigholſteins in der That noch in anerkannter Wirk- ſamkeit, obgleich der Landtag ſeit 1675, die Ritterſchaft ſeit 1711 nicht mehr verſammelt worden und von allen ſtändiſchen Inſtitutionen nichts mehr übrig war als der Siebenmänner-Ausſchuß der Ritterſchaft? Dahl- mann bejahte die Frage zuverſichtlich, und faſt alle Hiſtoriker, welche ſeit- dem den Streitfall erörtert haben, ſind ſeiner Meinung gefolgt.*) Ihnen Allen waren die Berathungen der Wiener Conferenzen vom Jahre 1820 nicht im Einzelnen bekannt. Nur aus dieſen ließ ſich die Abſicht der Geſetzgeber erkennen und mit Sicherheit erweiſen, was die Schlußakte unter der „anerkannten Wirkſamkeit“ einer Verfaſſung verſtand. Der Art. 56 hatte in Wien ſeine Faſſung auf Bernſtorff’s Antrag erhalten, und die Worte „anerkannte Wirkſamkeit“ waren ausdrücklich darum ge- wählt worden, weil Preußen verhindern wollte, daß ſolche halbzerſtörte altſtändiſche Verfaſſungen wie die kurmärkiſche, die pommerſche, die cleviſche, ſich auf den Schutz des Bundestags beriefen.**) Wer jene Wiener Ver- handlungen kannte, mußte alſo leider zu dem Schluſſe gelangen, daß die Verfaſſung Schleswigholſteins nach Bundesrecht nicht in anerkannter Wirkſamkeit ſtand.
*) Auch der Verfaſſer dieſes Buchs in ſeiner Abhandlung über Dahlmann (Hiſtor. und polit. Auffätze I. 363).
**) S. o. III. 21.
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Die Ritterſchaft vor dem Bundestage.
der Ritterſchaft auflöſen. So blieb denn nichts mehr übrig als eine Be-
ſchwerde beim Bundestage.
Am 4. December 1822 wurde die Petition der holſteiniſchen Prälaten
und Ritter in Frankfurt übergeben. Sie ging dahin: der Bundestag
möge auf Grund des Art. 56 der Wiener Schlußakte die alte Verfaſſung
Schleswigholſteins unter ſeinen Schutz nehmen und darüber wachen, daß
die nothwendige zeitgemäße Umgeſtaltung dieſes Landesrechts nur auf ver-
faſſungsmäßigem Wege erfolge. Eine treffliche Denkſchrift aus Dahl-
mann’s Feder begründete die Bitte. „In Vielem zwiſtig — ſo hieß es
zum Schluß — ſtimmen wir darin innerlich überein, daß wir in ſtarker
Verbrüderung mit Dänemark gedeihen können, glücklich unter dem gemein-
ſamen Oberherrn vom altgeliebten Geſchlechte, aber in Verſchmelzung
nimmermehr; eine zu ſtarke Scheidewand hat die Natur geſetzt, die ſich
nicht ſpotten läßt, an Sprache, Sitte, Verfaſſung, jeder geſchichtlichen Er-
innerung.“
Wärmer zugleich und würdiger war am Bundestage ſelten geſprochen
worden; zum erſten male erklärte die deutſche Nordmark feierlich, daß
ſie bei Deutſchland bleiben wolle. Aber ſtand auch das Bundesrecht den
Bittenden zur Seite? Jener Artikel 56 beſtimmte, daß „die in aner-
kannter Wirkſamkeit beſtehenden landſtändiſchen Verfaſſungen“ nur auf
verfaſſungsmäßigem Wege abgeändert werden ſollten. Beſtand die alte
Verfaſſung Schleswigholſteins in der That noch in anerkannter Wirk-
ſamkeit, obgleich der Landtag ſeit 1675, die Ritterſchaft ſeit 1711 nicht
mehr verſammelt worden und von allen ſtändiſchen Inſtitutionen nichts
mehr übrig war als der Siebenmänner-Ausſchuß der Ritterſchaft? Dahl-
mann bejahte die Frage zuverſichtlich, und faſt alle Hiſtoriker, welche ſeit-
dem den Streitfall erörtert haben, ſind ſeiner Meinung gefolgt. *) Ihnen
Allen waren die Berathungen der Wiener Conferenzen vom Jahre 1820
nicht im Einzelnen bekannt. Nur aus dieſen ließ ſich die Abſicht der
Geſetzgeber erkennen und mit Sicherheit erweiſen, was die Schlußakte
unter der „anerkannten Wirkſamkeit“ einer Verfaſſung verſtand. Der
Art. 56 hatte in Wien ſeine Faſſung auf Bernſtorff’s Antrag erhalten,
und die Worte „anerkannte Wirkſamkeit“ waren ausdrücklich darum ge-
wählt worden, weil Preußen verhindern wollte, daß ſolche halbzerſtörte
altſtändiſche Verfaſſungen wie die kurmärkiſche, die pommerſche, die cleviſche,
ſich auf den Schutz des Bundestags beriefen. **) Wer jene Wiener Ver-
handlungen kannte, mußte alſo leider zu dem Schluſſe gelangen, daß die
Verfaſſung Schleswigholſteins nach Bundesrecht nicht in anerkannter
Wirkſamkeit ſtand.
*) Auch der Verfaſſer dieſes Buchs in ſeiner Abhandlung über Dahlmann (Hiſtor.
und polit. Auffätze I. 363).
**) S. o. III. 21.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/613>, abgerufen am 24.11.2024.
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