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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
selbst ein großer Denkproceß, so blieb dem Denker nichts mehr unergründ-
lich. Das Denken war mithin das Denken des Denkens, wie ein Schüler
Hegel's begeistert sagte. Methode und Inhalt des Systems schienen iden-
tisch zu sein. Dasselbe Gesetz der Dreigliederung, dem die dialektische Me-
thode der Philosophie folgte, beherrschte auch die Entwicklung der göttlichen
Vernunft selber, die in ewiger Wiederholung die drei Stufen des An-
sich-seins, des Anders-seins, des An-und-für-sich-seins durchmaß. Wer sich
in diese Wunderwelt verlor, der fühlte sich wie durch eine dämonische
Macht emporgehoben über den gemeinen Menschenverstand; ihm war zu
Muthe, als ob in seinem Geiste die Weltschöpfung aus dem Nichts sich
wiederhole, als ob der Begriff selber sich bewege, durch ein schöpferisches
Vermögen eine gegenständliche Welt aus sich herausgestalte und dann
wieder in sich zurückkehre.

Gepanzert, unermeßlich überlegen trat dieser stolze Idealismus der
platten Verständigkeit und Nützlichkeitsmoral der Aufklärung entgegen,
aber nicht minder entschieden auch den Phantasiespielen der Romantik.
Diese Philosophie, die überall nur Geist sah, erschien wie ein letzter Nach-
klang aus jenem rein literarischen Zeitalter, da fast die ganze Kraft
unserer Nation in der geistigen Arbeit aufgegangen war; und doch war
sie zugleich streng realistisch. Nur in der wirklichen Welt erkannte sie die
Offenbarung Gottes; unerbittlich wies sie alle jene Flattergeister zurück,
welche sich erdenken was nicht ist und nicht sein kann oder beklagen was
ist und nicht anders sein kann. Selbstverständlich wie eine Tautologie
ergab sich ihr der große, alle Zweifel niederschmetternde Satz: das Wirkliche
ist vernünftig und das Vernünftige ist wirklich.

Und doch war dies grandiose System nur ein Werk genialer Will-
kür. Wie unsere Philosophen allesammt, mit der einzigen Ausnahme
Kant's, sich mehr durch Kühnheit und Tiefsinn als durch Schärfe und
Bestimmtheit des Denkens ausgezeichnet hatten, so war auch Hegel un-
klar, am unklarsten in der Darstellung der Grundbegriffe. Grade der
Hauptsatz, der das ganze System trug, war lediglich eine unerwiesene Be-
hauptung. Die hochtönenden Worte, der Geist entlasse sich in die Natur,
er setze sich sich selber gegenüber, sagten in Wahrheit gar nichts. Das
große Räthsel, wie aus der Idee die wirkliche Welt hervorgehe, war und
blieb ein Geheimniß, weil es das Geheimniß des weltschaffenden Gottes ist.
Damals schon wies Schelling nach, das menschliche Denkvermögen sei
völlig außer Stande die Natur aus dem Begriffe abzuleiten. Man hörte
ihn noch nicht. Als aber dieser Grundirrthum des Systems erkannt wurde,
da brach der ganze prächtige Gedankenbau zusammen; das verwegene Un-
ternehmen, die Einheit von Sein und Denken aufzuweisen, war endgiltig
mißlungen, und um nur wieder festen Boden zu gewinnen, mußte die
Philosophie dann wieder zurückkehren zu Kant und zu der bescheidenen
Frage, wie ein wissenschaftliches Erkennen der Natur überhaupt möglich sei.

III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
ſelbſt ein großer Denkproceß, ſo blieb dem Denker nichts mehr unergründ-
lich. Das Denken war mithin das Denken des Denkens, wie ein Schüler
Hegel’s begeiſtert ſagte. Methode und Inhalt des Syſtems ſchienen iden-
tiſch zu ſein. Daſſelbe Geſetz der Dreigliederung, dem die dialektiſche Me-
thode der Philoſophie folgte, beherrſchte auch die Entwicklung der göttlichen
Vernunft ſelber, die in ewiger Wiederholung die drei Stufen des An-
ſich-ſeins, des Anders-ſeins, des An-und-für-ſich-ſeins durchmaß. Wer ſich
in dieſe Wunderwelt verlor, der fühlte ſich wie durch eine dämoniſche
Macht emporgehoben über den gemeinen Menſchenverſtand; ihm war zu
Muthe, als ob in ſeinem Geiſte die Weltſchöpfung aus dem Nichts ſich
wiederhole, als ob der Begriff ſelber ſich bewege, durch ein ſchöpferiſches
Vermögen eine gegenſtändliche Welt aus ſich herausgeſtalte und dann
wieder in ſich zurückkehre.

Gepanzert, unermeßlich überlegen trat dieſer ſtolze Idealismus der
platten Verſtändigkeit und Nützlichkeitsmoral der Aufklärung entgegen,
aber nicht minder entſchieden auch den Phantaſieſpielen der Romantik.
Dieſe Philoſophie, die überall nur Geiſt ſah, erſchien wie ein letzter Nach-
klang aus jenem rein literariſchen Zeitalter, da faſt die ganze Kraft
unſerer Nation in der geiſtigen Arbeit aufgegangen war; und doch war
ſie zugleich ſtreng realiſtiſch. Nur in der wirklichen Welt erkannte ſie die
Offenbarung Gottes; unerbittlich wies ſie alle jene Flattergeiſter zurück,
welche ſich erdenken was nicht iſt und nicht ſein kann oder beklagen was
iſt und nicht anders ſein kann. Selbſtverſtändlich wie eine Tautologie
ergab ſich ihr der große, alle Zweifel niederſchmetternde Satz: das Wirkliche
iſt vernünftig und das Vernünftige iſt wirklich.

Und doch war dies grandioſe Syſtem nur ein Werk genialer Will-
kür. Wie unſere Philoſophen alleſammt, mit der einzigen Ausnahme
Kant’s, ſich mehr durch Kühnheit und Tiefſinn als durch Schärfe und
Beſtimmtheit des Denkens ausgezeichnet hatten, ſo war auch Hegel un-
klar, am unklarſten in der Darſtellung der Grundbegriffe. Grade der
Hauptſatz, der das ganze Syſtem trug, war lediglich eine unerwieſene Be-
hauptung. Die hochtönenden Worte, der Geiſt entlaſſe ſich in die Natur,
er ſetze ſich ſich ſelber gegenüber, ſagten in Wahrheit gar nichts. Das
große Räthſel, wie aus der Idee die wirkliche Welt hervorgehe, war und
blieb ein Geheimniß, weil es das Geheimniß des weltſchaffenden Gottes iſt.
Damals ſchon wies Schelling nach, das menſchliche Denkvermögen ſei
völlig außer Stande die Natur aus dem Begriffe abzuleiten. Man hörte
ihn noch nicht. Als aber dieſer Grundirrthum des Syſtems erkannt wurde,
da brach der ganze prächtige Gedankenbau zuſammen; das verwegene Un-
ternehmen, die Einheit von Sein und Denken aufzuweiſen, war endgiltig
mißlungen, und um nur wieder feſten Boden zu gewinnen, mußte die
Philoſophie dann wieder zurückkehren zu Kant und zu der beſcheidenen
Frage, wie ein wiſſenſchaftliches Erkennen der Natur überhaupt möglich ſei.

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[716/0732] III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit. ſelbſt ein großer Denkproceß, ſo blieb dem Denker nichts mehr unergründ- lich. Das Denken war mithin das Denken des Denkens, wie ein Schüler Hegel’s begeiſtert ſagte. Methode und Inhalt des Syſtems ſchienen iden- tiſch zu ſein. Daſſelbe Geſetz der Dreigliederung, dem die dialektiſche Me- thode der Philoſophie folgte, beherrſchte auch die Entwicklung der göttlichen Vernunft ſelber, die in ewiger Wiederholung die drei Stufen des An- ſich-ſeins, des Anders-ſeins, des An-und-für-ſich-ſeins durchmaß. Wer ſich in dieſe Wunderwelt verlor, der fühlte ſich wie durch eine dämoniſche Macht emporgehoben über den gemeinen Menſchenverſtand; ihm war zu Muthe, als ob in ſeinem Geiſte die Weltſchöpfung aus dem Nichts ſich wiederhole, als ob der Begriff ſelber ſich bewege, durch ein ſchöpferiſches Vermögen eine gegenſtändliche Welt aus ſich herausgeſtalte und dann wieder in ſich zurückkehre. Gepanzert, unermeßlich überlegen trat dieſer ſtolze Idealismus der platten Verſtändigkeit und Nützlichkeitsmoral der Aufklärung entgegen, aber nicht minder entſchieden auch den Phantaſieſpielen der Romantik. Dieſe Philoſophie, die überall nur Geiſt ſah, erſchien wie ein letzter Nach- klang aus jenem rein literariſchen Zeitalter, da faſt die ganze Kraft unſerer Nation in der geiſtigen Arbeit aufgegangen war; und doch war ſie zugleich ſtreng realiſtiſch. Nur in der wirklichen Welt erkannte ſie die Offenbarung Gottes; unerbittlich wies ſie alle jene Flattergeiſter zurück, welche ſich erdenken was nicht iſt und nicht ſein kann oder beklagen was iſt und nicht anders ſein kann. Selbſtverſtändlich wie eine Tautologie ergab ſich ihr der große, alle Zweifel niederſchmetternde Satz: das Wirkliche iſt vernünftig und das Vernünftige iſt wirklich. Und doch war dies grandioſe Syſtem nur ein Werk genialer Will- kür. Wie unſere Philoſophen alleſammt, mit der einzigen Ausnahme Kant’s, ſich mehr durch Kühnheit und Tiefſinn als durch Schärfe und Beſtimmtheit des Denkens ausgezeichnet hatten, ſo war auch Hegel un- klar, am unklarſten in der Darſtellung der Grundbegriffe. Grade der Hauptſatz, der das ganze Syſtem trug, war lediglich eine unerwieſene Be- hauptung. Die hochtönenden Worte, der Geiſt entlaſſe ſich in die Natur, er ſetze ſich ſich ſelber gegenüber, ſagten in Wahrheit gar nichts. Das große Räthſel, wie aus der Idee die wirkliche Welt hervorgehe, war und blieb ein Geheimniß, weil es das Geheimniß des weltſchaffenden Gottes iſt. Damals ſchon wies Schelling nach, das menſchliche Denkvermögen ſei völlig außer Stande die Natur aus dem Begriffe abzuleiten. Man hörte ihn noch nicht. Als aber dieſer Grundirrthum des Syſtems erkannt wurde, da brach der ganze prächtige Gedankenbau zuſammen; das verwegene Un- ternehmen, die Einheit von Sein und Denken aufzuweiſen, war endgiltig mißlungen, und um nur wieder feſten Boden zu gewinnen, mußte die Philoſophie dann wieder zurückkehren zu Kant und zu der beſcheidenen Frage, wie ein wiſſenſchaftliches Erkennen der Natur überhaupt möglich ſei.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 716. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/732>, abgerufen am 22.11.2024.