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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
Schiller's Pathos, das seinem eigenen Wesen ferner lag, aber den ge-
machten Ruhm Jean Paul's ließ er, unbekümmert um die Stimmung des
Tages, nicht gelten.

Noch fruchtbarer wirkte seine Rechtsphilosophie. Hegel war der erste
politische Kopf unter unseren Philosophen. Wohl hatte schon Kant die
vollkommene bürgerliche Ordnung für das letzte Ziel der Cultur erklärt
und Fichte am Abend seines Lebens den Staat als den Erzieher des Men-
schengeschlechts verherrlicht; auch in Schelling's Schriften stand manches
geistvolle Wort über die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in
dem Kunstwerke des Staates. Aber sie alle waren nicht über den Vor-
hof der Politik hinausgekommen. Erst Hegel drang in das Heiligthum
selber ein. Er verstand den Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee,
als den verwirklichten sittlichen Willen, und stürzte mit einem Schlage
alle die Doktrinen des Naturrechts und der politischen Romantik, welche
den Staat aus dem Urvertrage der Einzelmenschen oder aus göttlicher
Stiftung herleiteten. Also wurde der überspannte Staatsbegriff des classi-
schen Alterthums neu belebt und dem Staate eine Allmacht zugestanden,
die ihm nicht mehr gebührt, seit die christliche Welt das Recht des Ge-
wissens anerkannt hat. Aber die Vergötterung des Staates stiftete in
diesem Volke, das so lange in der staatlosen Freiheit sein Ideal ge-
sucht hatte, wenig Unheil. Nur durch die Ueberschätzung des Staats konn-
ten die Deutschen zur kräftigen Staatsgesinnung gelangen. Erst Hegel
hat die reiche culturfördernde Thätigkeit, welche der preußische Staat längst
schon übte, die Energie des deutschen Staatsgedankens wissenschaftlich ge-
rechtfertigt, die dürre Rechtsstaats-Doktrin ganz überwunden und dem Ge-
schichtsschreiber einen Maßstab in die Hand gegeben, an dem er die politische
Moral der historischen Helden ohne spießbürgerlichen Kleinsinn messen
konnte. Die jungen Historiker und die Schüler Savigny's wußten zwar
längst, daß der Staat eine uranfängliche, nothwendige Ordnung ist und
nur in ihm die Sittlichkeit der Völker sich vollendet; doch erst durch Hegel
wurde diese große Erkenntniß philosophisch begründet und den Gebildeten
der Nation verständlich gemacht. Auch in den Einzelheiten seiner Staats-
lehre bewährte sich überall der scharfe politische Blick des Philosophen: er
zuerst in Deutschland erkannte, allerdings nur ahnend und andeutend, daß
zwischen dem Einzelnen und dem Staate noch eine eigene Welt wirth-
schaftlicher Interessen und Abhängigkeitsverhältnisse liegt, und nannte sie
die bürgerliche Gesellschaft. Und welch ein Verdienst war es doch, daß ein
Schwabe, ein Gelehrter, der an der nationalen Bewegung der Befreiungs-
kriege kaum theilgenommen, den Deutschen nachdrücklich zeigte, was sie an
Preußen besaßen, warum dieser Staat nicht nur der mächtigste, sondern
auch der edelste und vernünftigste der deutschen Staaten war und seine
strenge Ordnung sittlich höher stand als die gerühmte alte deutsche Frei-
heit, die nur "für sich bleiben" wollte. Mochte auch manche Uebertrei-

III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Schiller’s Pathos, das ſeinem eigenen Weſen ferner lag, aber den ge-
machten Ruhm Jean Paul’s ließ er, unbekümmert um die Stimmung des
Tages, nicht gelten.

Noch fruchtbarer wirkte ſeine Rechtsphiloſophie. Hegel war der erſte
politiſche Kopf unter unſeren Philoſophen. Wohl hatte ſchon Kant die
vollkommene bürgerliche Ordnung für das letzte Ziel der Cultur erklärt
und Fichte am Abend ſeines Lebens den Staat als den Erzieher des Men-
ſchengeſchlechts verherrlicht; auch in Schelling’s Schriften ſtand manches
geiſtvolle Wort über die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in
dem Kunſtwerke des Staates. Aber ſie alle waren nicht über den Vor-
hof der Politik hinausgekommen. Erſt Hegel drang in das Heiligthum
ſelber ein. Er verſtand den Staat als die Wirklichkeit der ſittlichen Idee,
als den verwirklichten ſittlichen Willen, und ſtürzte mit einem Schlage
alle die Doktrinen des Naturrechts und der politiſchen Romantik, welche
den Staat aus dem Urvertrage der Einzelmenſchen oder aus göttlicher
Stiftung herleiteten. Alſo wurde der überſpannte Staatsbegriff des claſſi-
ſchen Alterthums neu belebt und dem Staate eine Allmacht zugeſtanden,
die ihm nicht mehr gebührt, ſeit die chriſtliche Welt das Recht des Ge-
wiſſens anerkannt hat. Aber die Vergötterung des Staates ſtiftete in
dieſem Volke, das ſo lange in der ſtaatloſen Freiheit ſein Ideal ge-
ſucht hatte, wenig Unheil. Nur durch die Ueberſchätzung des Staats konn-
ten die Deutſchen zur kräftigen Staatsgeſinnung gelangen. Erſt Hegel
hat die reiche culturfördernde Thätigkeit, welche der preußiſche Staat längſt
ſchon übte, die Energie des deutſchen Staatsgedankens wiſſenſchaftlich ge-
rechtfertigt, die dürre Rechtsſtaats-Doktrin ganz überwunden und dem Ge-
ſchichtsſchreiber einen Maßſtab in die Hand gegeben, an dem er die politiſche
Moral der hiſtoriſchen Helden ohne ſpießbürgerlichen Kleinſinn meſſen
konnte. Die jungen Hiſtoriker und die Schüler Savigny’s wußten zwar
längſt, daß der Staat eine uranfängliche, nothwendige Ordnung iſt und
nur in ihm die Sittlichkeit der Völker ſich vollendet; doch erſt durch Hegel
wurde dieſe große Erkenntniß philoſophiſch begründet und den Gebildeten
der Nation verſtändlich gemacht. Auch in den Einzelheiten ſeiner Staats-
lehre bewährte ſich überall der ſcharfe politiſche Blick des Philoſophen: er
zuerſt in Deutſchland erkannte, allerdings nur ahnend und andeutend, daß
zwiſchen dem Einzelnen und dem Staate noch eine eigene Welt wirth-
ſchaftlicher Intereſſen und Abhängigkeitsverhältniſſe liegt, und nannte ſie
die bürgerliche Geſellſchaft. Und welch ein Verdienſt war es doch, daß ein
Schwabe, ein Gelehrter, der an der nationalen Bewegung der Befreiungs-
kriege kaum theilgenommen, den Deutſchen nachdrücklich zeigte, was ſie an
Preußen beſaßen, warum dieſer Staat nicht nur der mächtigſte, ſondern
auch der edelſte und vernünftigſte der deutſchen Staaten war und ſeine
ſtrenge Ordnung ſittlich höher ſtand als die gerühmte alte deutſche Frei-
heit, die nur „für ſich bleiben“ wollte. Mochte auch manche Uebertrei-

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[718/0734] III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit. Schiller’s Pathos, das ſeinem eigenen Weſen ferner lag, aber den ge- machten Ruhm Jean Paul’s ließ er, unbekümmert um die Stimmung des Tages, nicht gelten. Noch fruchtbarer wirkte ſeine Rechtsphiloſophie. Hegel war der erſte politiſche Kopf unter unſeren Philoſophen. Wohl hatte ſchon Kant die vollkommene bürgerliche Ordnung für das letzte Ziel der Cultur erklärt und Fichte am Abend ſeines Lebens den Staat als den Erzieher des Men- ſchengeſchlechts verherrlicht; auch in Schelling’s Schriften ſtand manches geiſtvolle Wort über die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem Kunſtwerke des Staates. Aber ſie alle waren nicht über den Vor- hof der Politik hinausgekommen. Erſt Hegel drang in das Heiligthum ſelber ein. Er verſtand den Staat als die Wirklichkeit der ſittlichen Idee, als den verwirklichten ſittlichen Willen, und ſtürzte mit einem Schlage alle die Doktrinen des Naturrechts und der politiſchen Romantik, welche den Staat aus dem Urvertrage der Einzelmenſchen oder aus göttlicher Stiftung herleiteten. Alſo wurde der überſpannte Staatsbegriff des claſſi- ſchen Alterthums neu belebt und dem Staate eine Allmacht zugeſtanden, die ihm nicht mehr gebührt, ſeit die chriſtliche Welt das Recht des Ge- wiſſens anerkannt hat. Aber die Vergötterung des Staates ſtiftete in dieſem Volke, das ſo lange in der ſtaatloſen Freiheit ſein Ideal ge- ſucht hatte, wenig Unheil. Nur durch die Ueberſchätzung des Staats konn- ten die Deutſchen zur kräftigen Staatsgeſinnung gelangen. Erſt Hegel hat die reiche culturfördernde Thätigkeit, welche der preußiſche Staat längſt ſchon übte, die Energie des deutſchen Staatsgedankens wiſſenſchaftlich ge- rechtfertigt, die dürre Rechtsſtaats-Doktrin ganz überwunden und dem Ge- ſchichtsſchreiber einen Maßſtab in die Hand gegeben, an dem er die politiſche Moral der hiſtoriſchen Helden ohne ſpießbürgerlichen Kleinſinn meſſen konnte. Die jungen Hiſtoriker und die Schüler Savigny’s wußten zwar längſt, daß der Staat eine uranfängliche, nothwendige Ordnung iſt und nur in ihm die Sittlichkeit der Völker ſich vollendet; doch erſt durch Hegel wurde dieſe große Erkenntniß philoſophiſch begründet und den Gebildeten der Nation verſtändlich gemacht. Auch in den Einzelheiten ſeiner Staats- lehre bewährte ſich überall der ſcharfe politiſche Blick des Philoſophen: er zuerſt in Deutſchland erkannte, allerdings nur ahnend und andeutend, daß zwiſchen dem Einzelnen und dem Staate noch eine eigene Welt wirth- ſchaftlicher Intereſſen und Abhängigkeitsverhältniſſe liegt, und nannte ſie die bürgerliche Geſellſchaft. Und welch ein Verdienſt war es doch, daß ein Schwabe, ein Gelehrter, der an der nationalen Bewegung der Befreiungs- kriege kaum theilgenommen, den Deutſchen nachdrücklich zeigte, was ſie an Preußen beſaßen, warum dieſer Staat nicht nur der mächtigſte, ſondern auch der edelſte und vernünftigſte der deutſchen Staaten war und ſeine ſtrenge Ordnung ſittlich höher ſtand als die gerühmte alte deutſche Frei- heit, die nur „für ſich bleiben“ wollte. Mochte auch manche Uebertrei-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 718. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/734>, abgerufen am 22.11.2024.