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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Czar Nikolaus.
Berufe, ein unbeliebter, pedantischer Heerführer, im Grunde nur ein Unter-
officier großen Stiles, unvergleichlich in allen Künsten des Parademarsches,
aber weder ein Feldherr noch ein Organisator.

Als er den Thron bestieg, übertrug er die Weltanschauung der Kaserne
unbefangen auf den Staat. Keine Rede mehr von den liberalen Schwach-
heiten des verstorbenen Czaren; schweigender Gehorsam allüberall; uner-
bittliche Grenzsperre, um das heilige Rußland von den Waaren und den
Gedanken des revolutionären Westens abzuschließen; und überall dieselbe
militärische Ordnung, Alles gleichmäßig wie die Haufen der Chausseesteine,
die, gleich geformt, gleich angestrichen und in gleichem Abstande von den
Werstzeichen, sämmtliche Landstraßen von Warschau bis Tobolsk schmück-
ten. Durch solche Herrschergrundsätze glaubte Nikolaus wirklich sein Volk
zu beglücken, da er selber von der Welt der Ideen nichts ahnte und nichts
Höheres kannte, als die Ordnung des Exercierplatzes; darum verfolgte er
Alles, was von dieser Regel nur um eines Haares Breite abwich, mit der
Unversöhnlichkeit ehrlichen Hasses. Wenn er in seiner prächtigen rothen
Gala-Uniform einherschritt, festgeschnürt, mit engen weißen Beinkleidern
und hohen Reitstiefeln, erhobenen Hauptes, die längsten Grenadiere noch
überragend, dann bewunderten alle Weiber dies Bild vollkommener männ-
licher Schönheit, und nur sehr selten wagte eine unehrerbietige Schelmin
flüsternd zu bemerken: der schöne Czar scheine doch den bekannten preußi-
schen Ladestock verschluckt zu haben. Dem eigenthümlichen bleiernen Blicke
seiner großen, harten, grauen Augen hielt Niemand so leicht Stand, und
mit unverkennbarer Befriedigung weidete sich der Selbstherrscher an der
Angst der kleinen Sterblichen, die das Zucken seiner herrischen Augen-
brauen nicht ertragen konnten. Der Zauber einer so stattlichen persön-
lichen Erscheinung erwies sich selbst in diesem prosaischen Jahrhundert
noch als ein wirksames Machtmittel; Freund und Feind überschätzte den
Czaren. In den ersten anderthalb Jahrzehnten seiner Regierung haben
von den namhaften Besuchern des Petersburger Hofes wohl nur zwei
hinter der Außenseite des großen Mannes den gewöhnlichen Menschen er-
kannt: Wellington und der Deutsche Friedrich v. Gagern. Am richtigsten
beurtheilten ihn vielleicht die preußischen Officiere: wenn er in Berlin
stundenlang mit ihnen nur über Kamaschen und Knöpfe, über Wischer
und Laffetten redete, ohne jemals einen bedeutenden militärischen Gedanken
auszusprechen, dann schüttelten die Einsichtigeren verwundert den Kopf,
aber wer hätte seine Meinung laut zu äußern gewagt?

Was Nikolaus von gemüthlicher Wärme besaß, zeigte sich fast nur
im Verkehre mit seiner edlen preußischen Gemahlin, mit seinem Schwieger-
vater und dem Prinzen Wilhelm. Mit seinem verstorbenen Bruder hatte
er nichts gemein als jenen Zug der Falschheit, der alle Kinder des
Hauses Gottorp auszeichnete, und eine große schauspielerische Begabung.
Jedes seiner Worte und jede seiner Mienen war berechnet. Mitten in

Czar Nikolaus.
Berufe, ein unbeliebter, pedantiſcher Heerführer, im Grunde nur ein Unter-
officier großen Stiles, unvergleichlich in allen Künſten des Parademarſches,
aber weder ein Feldherr noch ein Organiſator.

Als er den Thron beſtieg, übertrug er die Weltanſchauung der Kaſerne
unbefangen auf den Staat. Keine Rede mehr von den liberalen Schwach-
heiten des verſtorbenen Czaren; ſchweigender Gehorſam allüberall; uner-
bittliche Grenzſperre, um das heilige Rußland von den Waaren und den
Gedanken des revolutionären Weſtens abzuſchließen; und überall dieſelbe
militäriſche Ordnung, Alles gleichmäßig wie die Haufen der Chauſſeeſteine,
die, gleich geformt, gleich angeſtrichen und in gleichem Abſtande von den
Werſtzeichen, ſämmtliche Landſtraßen von Warſchau bis Tobolsk ſchmück-
ten. Durch ſolche Herrſchergrundſätze glaubte Nikolaus wirklich ſein Volk
zu beglücken, da er ſelber von der Welt der Ideen nichts ahnte und nichts
Höheres kannte, als die Ordnung des Exercierplatzes; darum verfolgte er
Alles, was von dieſer Regel nur um eines Haares Breite abwich, mit der
Unverſöhnlichkeit ehrlichen Haſſes. Wenn er in ſeiner prächtigen rothen
Gala-Uniform einherſchritt, feſtgeſchnürt, mit engen weißen Beinkleidern
und hohen Reitſtiefeln, erhobenen Hauptes, die längſten Grenadiere noch
überragend, dann bewunderten alle Weiber dies Bild vollkommener männ-
licher Schönheit, und nur ſehr ſelten wagte eine unehrerbietige Schelmin
flüſternd zu bemerken: der ſchöne Czar ſcheine doch den bekannten preußi-
ſchen Ladeſtock verſchluckt zu haben. Dem eigenthümlichen bleiernen Blicke
ſeiner großen, harten, grauen Augen hielt Niemand ſo leicht Stand, und
mit unverkennbarer Befriedigung weidete ſich der Selbſtherrſcher an der
Angſt der kleinen Sterblichen, die das Zucken ſeiner herriſchen Augen-
brauen nicht ertragen konnten. Der Zauber einer ſo ſtattlichen perſön-
lichen Erſcheinung erwies ſich ſelbſt in dieſem proſaiſchen Jahrhundert
noch als ein wirkſames Machtmittel; Freund und Feind überſchätzte den
Czaren. In den erſten anderthalb Jahrzehnten ſeiner Regierung haben
von den namhaften Beſuchern des Petersburger Hofes wohl nur zwei
hinter der Außenſeite des großen Mannes den gewöhnlichen Menſchen er-
kannt: Wellington und der Deutſche Friedrich v. Gagern. Am richtigſten
beurtheilten ihn vielleicht die preußiſchen Officiere: wenn er in Berlin
ſtundenlang mit ihnen nur über Kamaſchen und Knöpfe, über Wiſcher
und Laffetten redete, ohne jemals einen bedeutenden militäriſchen Gedanken
auszuſprechen, dann ſchüttelten die Einſichtigeren verwundert den Kopf,
aber wer hätte ſeine Meinung laut zu äußern gewagt?

Was Nikolaus von gemüthlicher Wärme beſaß, zeigte ſich faſt nur
im Verkehre mit ſeiner edlen preußiſchen Gemahlin, mit ſeinem Schwieger-
vater und dem Prinzen Wilhelm. Mit ſeinem verſtorbenen Bruder hatte
er nichts gemein als jenen Zug der Falſchheit, der alle Kinder des
Hauſes Gottorp auszeichnete, und eine große ſchauſpieleriſche Begabung.
Jedes ſeiner Worte und jede ſeiner Mienen war berechnet. Mitten in

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[727/0743] Czar Nikolaus. Berufe, ein unbeliebter, pedantiſcher Heerführer, im Grunde nur ein Unter- officier großen Stiles, unvergleichlich in allen Künſten des Parademarſches, aber weder ein Feldherr noch ein Organiſator. Als er den Thron beſtieg, übertrug er die Weltanſchauung der Kaſerne unbefangen auf den Staat. Keine Rede mehr von den liberalen Schwach- heiten des verſtorbenen Czaren; ſchweigender Gehorſam allüberall; uner- bittliche Grenzſperre, um das heilige Rußland von den Waaren und den Gedanken des revolutionären Weſtens abzuſchließen; und überall dieſelbe militäriſche Ordnung, Alles gleichmäßig wie die Haufen der Chauſſeeſteine, die, gleich geformt, gleich angeſtrichen und in gleichem Abſtande von den Werſtzeichen, ſämmtliche Landſtraßen von Warſchau bis Tobolsk ſchmück- ten. Durch ſolche Herrſchergrundſätze glaubte Nikolaus wirklich ſein Volk zu beglücken, da er ſelber von der Welt der Ideen nichts ahnte und nichts Höheres kannte, als die Ordnung des Exercierplatzes; darum verfolgte er Alles, was von dieſer Regel nur um eines Haares Breite abwich, mit der Unverſöhnlichkeit ehrlichen Haſſes. Wenn er in ſeiner prächtigen rothen Gala-Uniform einherſchritt, feſtgeſchnürt, mit engen weißen Beinkleidern und hohen Reitſtiefeln, erhobenen Hauptes, die längſten Grenadiere noch überragend, dann bewunderten alle Weiber dies Bild vollkommener männ- licher Schönheit, und nur ſehr ſelten wagte eine unehrerbietige Schelmin flüſternd zu bemerken: der ſchöne Czar ſcheine doch den bekannten preußi- ſchen Ladeſtock verſchluckt zu haben. Dem eigenthümlichen bleiernen Blicke ſeiner großen, harten, grauen Augen hielt Niemand ſo leicht Stand, und mit unverkennbarer Befriedigung weidete ſich der Selbſtherrſcher an der Angſt der kleinen Sterblichen, die das Zucken ſeiner herriſchen Augen- brauen nicht ertragen konnten. Der Zauber einer ſo ſtattlichen perſön- lichen Erſcheinung erwies ſich ſelbſt in dieſem proſaiſchen Jahrhundert noch als ein wirkſames Machtmittel; Freund und Feind überſchätzte den Czaren. In den erſten anderthalb Jahrzehnten ſeiner Regierung haben von den namhaften Beſuchern des Petersburger Hofes wohl nur zwei hinter der Außenſeite des großen Mannes den gewöhnlichen Menſchen er- kannt: Wellington und der Deutſche Friedrich v. Gagern. Am richtigſten beurtheilten ihn vielleicht die preußiſchen Officiere: wenn er in Berlin ſtundenlang mit ihnen nur über Kamaſchen und Knöpfe, über Wiſcher und Laffetten redete, ohne jemals einen bedeutenden militäriſchen Gedanken auszuſprechen, dann ſchüttelten die Einſichtigeren verwundert den Kopf, aber wer hätte ſeine Meinung laut zu äußern gewagt? Was Nikolaus von gemüthlicher Wärme beſaß, zeigte ſich faſt nur im Verkehre mit ſeiner edlen preußiſchen Gemahlin, mit ſeinem Schwieger- vater und dem Prinzen Wilhelm. Mit ſeinem verſtorbenen Bruder hatte er nichts gemein als jenen Zug der Falſchheit, der alle Kinder des Hauſes Gottorp auszeichnete, und eine große ſchauſpieleriſche Begabung. Jedes ſeiner Worte und jede ſeiner Mienen war berechnet. Mitten in

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/743>, abgerufen am 22.11.2024.