Jahrzehnten gesetzlich geordnet war, und selbst den Großfürsten Nikolaus, dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert sah nun die Welt das unerhörte Schauspiel, wie zwei fürstliche Brüder nicht um den Besitz, sondern um die Zurückweisung einer mächtigen Krone mitein- ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptstadt dem älteren Bruder, der fern in Warschau weilte; drei Wochen lang blieb das ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrscher. Da erst, auf Constantins wiederholten Befehl, entschloß sich Nikolaus, die Krone zu übernehmen, aber der neue Thronwechsel bewog jene Verschworenen, deren Anschläge der sterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen. Der lange Aufenthalt des russischen Heeres in Frankreich trug jetzt seine Früchte. Oberst Pestel und viele andere der begabtesten und vornehmsten Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, diesem Reiche eine republikanische Verfassung aufzuerlegen -- durch meuterische Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Constantin und seine Frau, die Constitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward niedergeworfen, die Verschworenen in den Südprovinzen, noch ehe sie los- schlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die unglücklichen Dekabristen.
So über Leichen hinweg stieg Czar Nikolaus auf den Thron, der härteste Selbstherrscher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, streng, nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensstark, ein beschränkter Kopf, der gerade durch seine Gedankenarmuth, durch die zweifellose Bestimmtheit seiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels sicher, furchtbar, groß erschien. Für das Heer erzogen, hatte der junge Großfürst von seinem kaiserlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be- vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen erlangen und darum auch nicht durch den Augenschein lernen können, wie schwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß- land nach Westeuropa sendete. Erst nach dem Frieden bereiste er die Schlachtfelder und folgte im Geiste dem Siegesfluge des Doppeladlers von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitischer Tapferkeit er- zählten und kehrte heim mit der festen Ueberzeugung, daß Rußland allein die Welt befreit habe. Unbegrenzt erschien ihm jetzt die Gewalt des weißen Czaren. Die überspannten Vorstellungen von Rußlands Macht, welche er überall an den Höfen des Westens verbreitet fand, mußten ihn in solcher Ansicht bestärken; und wenn er nachher durch ein Menschenalter im Besitze dieser göttergleichen Macht schwelgen konnte, ohne dem Wahn- sinn der Cäsaren zu verfallen, so verdankte er dies Glück lediglich seinem stählernen Körper und der schwunglosen Mittelmäßigkeit seines Geistes. Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz seinem militärischen
III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
Jahrzehnten geſetzlich geordnet war, und ſelbſt den Großfürſten Nikolaus, dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert ſah nun die Welt das unerhörte Schauſpiel, wie zwei fürſtliche Brüder nicht um den Beſitz, ſondern um die Zurückweiſung einer mächtigen Krone mitein- ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptſtadt dem älteren Bruder, der fern in Warſchau weilte; drei Wochen lang blieb das ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrſcher. Da erſt, auf Conſtantins wiederholten Befehl, entſchloß ſich Nikolaus, die Krone zu übernehmen, aber der neue Thronwechſel bewog jene Verſchworenen, deren Anſchläge der ſterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen. Der lange Aufenthalt des ruſſiſchen Heeres in Frankreich trug jetzt ſeine Früchte. Oberſt Peſtel und viele andere der begabteſten und vornehmſten Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, dieſem Reiche eine republikaniſche Verfaſſung aufzuerlegen — durch meuteriſche Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Conſtantin und ſeine Frau, die Conſtitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward niedergeworfen, die Verſchworenen in den Südprovinzen, noch ehe ſie los- ſchlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die unglücklichen Dekabriſten.
So über Leichen hinweg ſtieg Czar Nikolaus auf den Thron, der härteſte Selbſtherrſcher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, ſtreng, nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensſtark, ein beſchränkter Kopf, der gerade durch ſeine Gedankenarmuth, durch die zweifelloſe Beſtimmtheit ſeiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels ſicher, furchtbar, groß erſchien. Für das Heer erzogen, hatte der junge Großfürſt von ſeinem kaiſerlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be- vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen erlangen und darum auch nicht durch den Augenſchein lernen können, wie ſchwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß- land nach Weſteuropa ſendete. Erſt nach dem Frieden bereiſte er die Schlachtfelder und folgte im Geiſte dem Siegesfluge des Doppeladlers von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitiſcher Tapferkeit er- zählten und kehrte heim mit der feſten Ueberzeugung, daß Rußland allein die Welt befreit habe. Unbegrenzt erſchien ihm jetzt die Gewalt des weißen Czaren. Die überſpannten Vorſtellungen von Rußlands Macht, welche er überall an den Höfen des Weſtens verbreitet fand, mußten ihn in ſolcher Anſicht beſtärken; und wenn er nachher durch ein Menſchenalter im Beſitze dieſer göttergleichen Macht ſchwelgen konnte, ohne dem Wahn- ſinn der Cäſaren zu verfallen, ſo verdankte er dies Glück lediglich ſeinem ſtählernen Körper und der ſchwungloſen Mittelmäßigkeit ſeines Geiſtes. Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz ſeinem militäriſchen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0742"n="726"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">III.</hi> 10. Preußen und die orientaliſche Frage.</fw><lb/>
Jahrzehnten geſetzlich geordnet war, und ſelbſt den Großfürſten Nikolaus,<lb/>
dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert ſah nun<lb/>
die Welt das unerhörte Schauſpiel, wie zwei fürſtliche Brüder nicht um<lb/>
den Beſitz, ſondern um die Zurückweiſung einer mächtigen Krone mitein-<lb/>
ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptſtadt dem<lb/>
älteren Bruder, der fern in Warſchau weilte; drei Wochen lang blieb das<lb/>
ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrſcher. Da erſt, auf Conſtantins<lb/>
wiederholten Befehl, entſchloß ſich Nikolaus, die Krone zu übernehmen,<lb/>
aber der neue Thronwechſel bewog jene Verſchworenen, deren Anſchläge<lb/>
der ſterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen.<lb/>
Der lange Aufenthalt des ruſſiſchen Heeres in Frankreich trug jetzt ſeine<lb/>
Früchte. Oberſt Peſtel und viele andere der begabteſten und vornehmſten<lb/>
Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, dieſem<lb/>
Reiche eine republikaniſche Verfaſſung aufzuerlegen — durch meuteriſche<lb/>
Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Conſtantin und ſeine Frau,<lb/>
die Conſtitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward<lb/>
niedergeworfen, die Verſchworenen in den Südprovinzen, noch ehe ſie los-<lb/>ſchlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die<lb/>
unglücklichen Dekabriſten.</p><lb/><p>So über Leichen hinweg ſtieg Czar Nikolaus auf den Thron, der<lb/>
härteſte Selbſtherrſcher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, ſtreng,<lb/>
nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensſtark, ein beſchränkter Kopf, der<lb/>
gerade durch ſeine Gedankenarmuth, durch die zweifelloſe Beſtimmtheit<lb/>ſeiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels<lb/>ſicher, furchtbar, groß erſchien. Für das Heer erzogen, hatte der junge<lb/>
Großfürſt von ſeinem kaiſerlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be-<lb/>
vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen<lb/>
erlangen und darum auch nicht durch den Augenſchein lernen können, wie<lb/>ſchwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß-<lb/>
land nach Weſteuropa ſendete. Erſt nach dem Frieden bereiſte er die<lb/>
Schlachtfelder und folgte im Geiſte dem Siegesfluge des Doppeladlers<lb/>
von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm<lb/>
unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitiſcher Tapferkeit er-<lb/>
zählten und kehrte heim mit der feſten Ueberzeugung, daß Rußland allein<lb/>
die Welt befreit habe. Unbegrenzt erſchien ihm jetzt die Gewalt des weißen<lb/>
Czaren. Die überſpannten Vorſtellungen von Rußlands Macht, welche<lb/>
er überall an den Höfen des Weſtens verbreitet fand, mußten ihn in<lb/>ſolcher Anſicht beſtärken; und wenn er nachher durch ein Menſchenalter<lb/>
im Beſitze dieſer göttergleichen Macht ſchwelgen konnte, ohne dem Wahn-<lb/>ſinn der Cäſaren zu verfallen, ſo verdankte er dies Glück lediglich ſeinem<lb/>ſtählernen Körper und der ſchwungloſen Mittelmäßigkeit ſeines Geiſtes.<lb/>
Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele<lb/>
verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz ſeinem militäriſchen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[726/0742]
III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
Jahrzehnten geſetzlich geordnet war, und ſelbſt den Großfürſten Nikolaus,
dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert ſah nun
die Welt das unerhörte Schauſpiel, wie zwei fürſtliche Brüder nicht um
den Beſitz, ſondern um die Zurückweiſung einer mächtigen Krone mitein-
ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptſtadt dem
älteren Bruder, der fern in Warſchau weilte; drei Wochen lang blieb das
ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrſcher. Da erſt, auf Conſtantins
wiederholten Befehl, entſchloß ſich Nikolaus, die Krone zu übernehmen,
aber der neue Thronwechſel bewog jene Verſchworenen, deren Anſchläge
der ſterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen.
Der lange Aufenthalt des ruſſiſchen Heeres in Frankreich trug jetzt ſeine
Früchte. Oberſt Peſtel und viele andere der begabteſten und vornehmſten
Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, dieſem
Reiche eine republikaniſche Verfaſſung aufzuerlegen — durch meuteriſche
Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Conſtantin und ſeine Frau,
die Conſtitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward
niedergeworfen, die Verſchworenen in den Südprovinzen, noch ehe ſie los-
ſchlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die
unglücklichen Dekabriſten.
So über Leichen hinweg ſtieg Czar Nikolaus auf den Thron, der
härteſte Selbſtherrſcher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, ſtreng,
nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensſtark, ein beſchränkter Kopf, der
gerade durch ſeine Gedankenarmuth, durch die zweifelloſe Beſtimmtheit
ſeiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels
ſicher, furchtbar, groß erſchien. Für das Heer erzogen, hatte der junge
Großfürſt von ſeinem kaiſerlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be-
vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen
erlangen und darum auch nicht durch den Augenſchein lernen können, wie
ſchwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß-
land nach Weſteuropa ſendete. Erſt nach dem Frieden bereiſte er die
Schlachtfelder und folgte im Geiſte dem Siegesfluge des Doppeladlers
von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm
unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitiſcher Tapferkeit er-
zählten und kehrte heim mit der feſten Ueberzeugung, daß Rußland allein
die Welt befreit habe. Unbegrenzt erſchien ihm jetzt die Gewalt des weißen
Czaren. Die überſpannten Vorſtellungen von Rußlands Macht, welche
er überall an den Höfen des Weſtens verbreitet fand, mußten ihn in
ſolcher Anſicht beſtärken; und wenn er nachher durch ein Menſchenalter
im Beſitze dieſer göttergleichen Macht ſchwelgen konnte, ohne dem Wahn-
ſinn der Cäſaren zu verfallen, ſo verdankte er dies Glück lediglich ſeinem
ſtählernen Körper und der ſchwungloſen Mittelmäßigkeit ſeines Geiſtes.
Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele
verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz ſeinem militäriſchen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 726. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/742>, abgerufen am 18.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.