Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.III. 10. Preußen und die orientalische Frage. stattet wurde, auf europäischem Boden ein christliches Volk niederzumetzeln.Die besser Unterrichteten konnten freilich nicht verkennen, welche Gefahren dieser Vertrag in seinem Schooße barg. Seine Urheber waren keines- wegs einig. Ganz ohne Hintergedanken verfuhr nur Frankreich: König Karl empfand die ehrliche Begeisterung des Kreuzfahrers und wollte zu- gleich das gesunkene Ansehen seines Landes durch eine großartige Macht- entfaltung im Osten heben. Canning dagegen hatte kürzlich durch den Commodore Hamilton unter der Hand bei den Griechen anfragen lassen, ob sie eine Republik unter englischem Schutze bilden wollten. Da die Hel- lenen, gewitzigt durch das abschreckende Beispiel der ionischen Inseln, den Vorschlag mit Schaudern zurückgewiesen hatten, so verfolgte die eng- lische Politik jetzt zunächst den Zweck, keinen anderen Einfluß im Orient aufkommen zu lassen und durch die Beschützung des osmanischen Reichs der britischen Flagge ihr altes Marktgebiet zu erhalten; die Sache der Griechen stand ihr erst in zweiter Linie. Czar Nikolaus endlich bereitete längst den Krieg vor, fort und fort ward in seinem Heere gerüstet. Er verabscheute die Hellenen, weil sie Empörer waren und weil ein selbst- ständiges Griechenland den byzantinischen Träumen der Moskowiter leicht hinderlich werden konnte; doch er betrachtete die griechischen Händel als ein Mittel, um seinem Reiche die Vorherrschaft am Bosporus zu er- ringen. Wie die Dinge lagen durfte der Czar wohl auf die Erfüllung seiner Hoffnungen rechnen. Denn von der Hartnäckigkeit des Sultans war die Bewilligung eines Waffenstillstandes nicht zu erwarten. Griffen die Verbündeten darauf zu den angedrohten "geeigneten Mitteln", so ließ sich ein Zusammenstoß kaum vermeiden; dann war ein Kriegsgrund für Rußland leicht gefunden, und dann mußte sich zeigen, daß die Westmächte nur für den Czaren gearbeitet hatten. Ein gnädiges Schicksal ersparte dem leitenden Staatsmanne Englands diese große Enttäuschung noch zu erleben. Canning starb wenige Wochen nach dem Londoner Vertrage, zur rechten Zeit für seinen Ruhm, noch bevor die Welt den Mißerfolg seines letzten diplomatischen Feldzugs durchschaute; so blieb dem kalt rech- nenden Handelspolitiker der unverdiente Name des Befreiers der Hellenen. Nach der Meinung der österreichischen Staatsmänner konnte der Drei- III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage. ſtattet wurde, auf europäiſchem Boden ein chriſtliches Volk niederzumetzeln.Die beſſer Unterrichteten konnten freilich nicht verkennen, welche Gefahren dieſer Vertrag in ſeinem Schooße barg. Seine Urheber waren keines- wegs einig. Ganz ohne Hintergedanken verfuhr nur Frankreich: König Karl empfand die ehrliche Begeiſterung des Kreuzfahrers und wollte zu- gleich das geſunkene Anſehen ſeines Landes durch eine großartige Macht- entfaltung im Oſten heben. Canning dagegen hatte kürzlich durch den Commodore Hamilton unter der Hand bei den Griechen anfragen laſſen, ob ſie eine Republik unter engliſchem Schutze bilden wollten. Da die Hel- lenen, gewitzigt durch das abſchreckende Beiſpiel der ioniſchen Inſeln, den Vorſchlag mit Schaudern zurückgewieſen hatten, ſo verfolgte die eng- liſche Politik jetzt zunächſt den Zweck, keinen anderen Einfluß im Orient aufkommen zu laſſen und durch die Beſchützung des osmaniſchen Reichs der britiſchen Flagge ihr altes Marktgebiet zu erhalten; die Sache der Griechen ſtand ihr erſt in zweiter Linie. Czar Nikolaus endlich bereitete längſt den Krieg vor, fort und fort ward in ſeinem Heere gerüſtet. Er verabſcheute die Hellenen, weil ſie Empörer waren und weil ein ſelbſt- ſtändiges Griechenland den byzantiniſchen Träumen der Moskowiter leicht hinderlich werden konnte; doch er betrachtete die griechiſchen Händel als ein Mittel, um ſeinem Reiche die Vorherrſchaft am Bosporus zu er- ringen. Wie die Dinge lagen durfte der Czar wohl auf die Erfüllung ſeiner Hoffnungen rechnen. Denn von der Hartnäckigkeit des Sultans war die Bewilligung eines Waffenſtillſtandes nicht zu erwarten. Griffen die Verbündeten darauf zu den angedrohten „geeigneten Mitteln“, ſo ließ ſich ein Zuſammenſtoß kaum vermeiden; dann war ein Kriegsgrund für Rußland leicht gefunden, und dann mußte ſich zeigen, daß die Weſtmächte nur für den Czaren gearbeitet hatten. Ein gnädiges Schickſal erſparte dem leitenden Staatsmanne Englands dieſe große Enttäuſchung noch zu erleben. Canning ſtarb wenige Wochen nach dem Londoner Vertrage, zur rechten Zeit für ſeinen Ruhm, noch bevor die Welt den Mißerfolg ſeines letzten diplomatiſchen Feldzugs durchſchaute; ſo blieb dem kalt rech- nenden Handelspolitiker der unverdiente Name des Befreiers der Hellenen. Nach der Meinung der öſterreichiſchen Staatsmänner konnte der Drei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0748" n="732"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 10. Preußen und die orientaliſche Frage.</fw><lb/> ſtattet wurde, auf europäiſchem Boden ein chriſtliches Volk niederzumetzeln.<lb/> Die beſſer Unterrichteten konnten freilich nicht verkennen, welche Gefahren<lb/> dieſer Vertrag in ſeinem Schooße barg. Seine Urheber waren keines-<lb/> wegs einig. 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III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ſtattet wurde, auf europäiſchem Boden ein chriſtliches Volk niederzumetzeln.
Die beſſer Unterrichteten konnten freilich nicht verkennen, welche Gefahren
dieſer Vertrag in ſeinem Schooße barg. Seine Urheber waren keines-
wegs einig. Ganz ohne Hintergedanken verfuhr nur Frankreich: König
Karl empfand die ehrliche Begeiſterung des Kreuzfahrers und wollte zu-
gleich das geſunkene Anſehen ſeines Landes durch eine großartige Macht-
entfaltung im Oſten heben. Canning dagegen hatte kürzlich durch den
Commodore Hamilton unter der Hand bei den Griechen anfragen laſſen,
ob ſie eine Republik unter engliſchem Schutze bilden wollten. Da die Hel-
lenen, gewitzigt durch das abſchreckende Beiſpiel der ioniſchen Inſeln,
den Vorſchlag mit Schaudern zurückgewieſen hatten, ſo verfolgte die eng-
liſche Politik jetzt zunächſt den Zweck, keinen anderen Einfluß im Orient
aufkommen zu laſſen und durch die Beſchützung des osmaniſchen Reichs
der britiſchen Flagge ihr altes Marktgebiet zu erhalten; die Sache der
Griechen ſtand ihr erſt in zweiter Linie. Czar Nikolaus endlich bereitete
längſt den Krieg vor, fort und fort ward in ſeinem Heere gerüſtet. Er
verabſcheute die Hellenen, weil ſie Empörer waren und weil ein ſelbſt-
ſtändiges Griechenland den byzantiniſchen Träumen der Moskowiter leicht
hinderlich werden konnte; doch er betrachtete die griechiſchen Händel als
ein Mittel, um ſeinem Reiche die Vorherrſchaft am Bosporus zu er-
ringen. Wie die Dinge lagen durfte der Czar wohl auf die Erfüllung
ſeiner Hoffnungen rechnen. Denn von der Hartnäckigkeit des Sultans
war die Bewilligung eines Waffenſtillſtandes nicht zu erwarten. Griffen
die Verbündeten darauf zu den angedrohten „geeigneten Mitteln“, ſo ließ
ſich ein Zuſammenſtoß kaum vermeiden; dann war ein Kriegsgrund für
Rußland leicht gefunden, und dann mußte ſich zeigen, daß die Weſtmächte
nur für den Czaren gearbeitet hatten. Ein gnädiges Schickſal erſparte
dem leitenden Staatsmanne Englands dieſe große Enttäuſchung noch zu
erleben. Canning ſtarb wenige Wochen nach dem Londoner Vertrage,
zur rechten Zeit für ſeinen Ruhm, noch bevor die Welt den Mißerfolg
ſeines letzten diplomatiſchen Feldzugs durchſchaute; ſo blieb dem kalt rech-
nenden Handelspolitiker der unverdiente Name des Befreiers der Hellenen.
Nach der Meinung der öſterreichiſchen Staatsmänner konnte der Drei-
bund nur in Nichtigkeit verſinken oder den Krieg herbeiführen. Wollte
die Hofburg dieſe Kriegsgefahr abwenden, ſo mußte ſie ihren ganzen Ein-
fluß aufbieten, um den befreundeten Sultan zur Nachgiebigkeit zu be-
ſtimmen. Metternich rechnete aber auf den Zerfall des Dreibundes; er
fuhr daher fort in ſeinem Doppelſpiele, gab den drei Mächten glatte
Worte und ermuthigte unter der Hand die Pforte zum Widerſtande. Im
Oriente bleibt indeß nichts geheim. Der Hospodar der Wallachei ſendete
Abſchriften der aus Wien erhaltenen Weiſungen nach Petersburg, ſein
Sohn ſchickte ſogar einige Originalbriefe von Gentz, die er dem Vater
geſtohlen hatte. Durch dieſe und andere unzweideutige Beweiſe ſah Czar
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