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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 10. Preußen und die orientalische Frage.
ohne den lang genährten Abscheu gegen den Halbmond schwerlich erfolgt
wäre. Der Tag von Navarin begründete Griechenlands Unabhängig-
keit, er begründete zugleich Rußlands Herrschaft auf dem Schwarzen
Meere; der Sultan besaß fortan keine Flotte mehr, die dem Czaren den
Marsch nach dem Balkan erschweren konnte. Die Russen fühlten auch,
daß sie in Wahrheit diesen Sieg erfochten hatten. In der ersten Freude
schrieb Nesselrode dem Gesandten in Wien: "was wird unser Freund
Metternich sagen zu diesem Triumphe der Gewalt über die Vorurtheile
der Grundsätze?" Metternich fand kaum Worte genug, um diese empörende
Verhöhnung des Völkerrechts zu brandmarken. Sein Kaiser sprach von
Meuchelmord, von Entweihung des heiligen Wortes: Mediation;*) er
fürchtete schon, die Liberalen hätten vielleicht den Krieg, der jetzt drohe,
angezettelt, um inzwischen etwa in Frankreich loszubrechen. Auch in Eng-
land herrschte, nachdem der Jubel über den Sieg der nationalen Lieblings-
waffe verhallt war, allgemeine Bestürzung. Das alte Mißtrauen gegen
Rußland erwachte wieder. Im Einverständniß mit der Stimmung der
Nation bildete Wellington ein Tory-Cabinet, das sich dem Wiener Hofe zu
nähern begann, und schon im Januar 1828 durfte König Georg in seiner
Thronrede die Schlacht von Navarin ein unwillkommenes Ereigniß (unto-
ward event
) nennen.

Nach Allem, was geschehen, mußten die drei Mächte sofort weiter gehen
und nöthigenfalls durch einen zweiten Schlag die Pforte zum Frieden mit
den Griechen zwingen; so ließen sich Rußlands Kriegspläne vielleicht noch
vereiteln. Aber der Einmuth fehlte, da England immer bedenklicher wurde.
Die Vertreter der Westmächte erneuerten in Konstantinopel ihre Friedens-
anträge, kräftig unterstützt von dem preußischen Gesandten, und als sie eine
schnöde Antwort empfingen, reisten sie unverrichteter Dinge ab. Nun brach
der Zorn des tödlich beleidigten Sultans, der alte Hochmuth des Islam
furchtbar aus. Die Christen der Hauptstadt wurden verhöhnt, mißhandelt,
ausgewiesen; ein Ferman des Padischah verkündete den Gläubigen: "das Hei-
denthum bildet nur eine Nation", überschüttete die europäischen Mächte mit
Schmähungen, insbesondere Rußland, den Erzfeind des Reichs Muhamed's.
Auf die Vorstellungen des preußischen Gesandten erwiderte der Reis Effendi
Pertew hochmüthig: jetzt sei es Zeit auch den Vertrag von Akkerman abzu-
schütteln. Durch diese Beleidigungen erhielt der Czar den längst gesuchten
Vorwand zum Kriege. Die Westmächte konnten ihm nicht entgegentreten, denn
sie selbst waren durch die überlegene russische Diplomatie gebunden. Nach
dem Londoner Vertrage, der noch immer bestand, durften die drei Mächte
nur in der griechischen Sache nicht einseitig vorgehen; der Krieg aber,
der jetzt hereinbrach, erschien als ein Kampf für Rußlands gekränkte Ehre. --


*) Maltzahn's Berichte, 15. Nov., 11. Dec. 1827.

III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ohne den lang genährten Abſcheu gegen den Halbmond ſchwerlich erfolgt
wäre. Der Tag von Navarin begründete Griechenlands Unabhängig-
keit, er begründete zugleich Rußlands Herrſchaft auf dem Schwarzen
Meere; der Sultan beſaß fortan keine Flotte mehr, die dem Czaren den
Marſch nach dem Balkan erſchweren konnte. Die Ruſſen fühlten auch,
daß ſie in Wahrheit dieſen Sieg erfochten hatten. In der erſten Freude
ſchrieb Neſſelrode dem Geſandten in Wien: „was wird unſer Freund
Metternich ſagen zu dieſem Triumphe der Gewalt über die Vorurtheile
der Grundſätze?“ Metternich fand kaum Worte genug, um dieſe empörende
Verhöhnung des Völkerrechts zu brandmarken. Sein Kaiſer ſprach von
Meuchelmord, von Entweihung des heiligen Wortes: Mediation;*) er
fürchtete ſchon, die Liberalen hätten vielleicht den Krieg, der jetzt drohe,
angezettelt, um inzwiſchen etwa in Frankreich loszubrechen. Auch in Eng-
land herrſchte, nachdem der Jubel über den Sieg der nationalen Lieblings-
waffe verhallt war, allgemeine Beſtürzung. Das alte Mißtrauen gegen
Rußland erwachte wieder. Im Einverſtändniß mit der Stimmung der
Nation bildete Wellington ein Tory-Cabinet, das ſich dem Wiener Hofe zu
nähern begann, und ſchon im Januar 1828 durfte König Georg in ſeiner
Thronrede die Schlacht von Navarin ein unwillkommenes Ereigniß (unto-
ward event
) nennen.

Nach Allem, was geſchehen, mußten die drei Mächte ſofort weiter gehen
und nöthigenfalls durch einen zweiten Schlag die Pforte zum Frieden mit
den Griechen zwingen; ſo ließen ſich Rußlands Kriegspläne vielleicht noch
vereiteln. Aber der Einmuth fehlte, da England immer bedenklicher wurde.
Die Vertreter der Weſtmächte erneuerten in Konſtantinopel ihre Friedens-
anträge, kräftig unterſtützt von dem preußiſchen Geſandten, und als ſie eine
ſchnöde Antwort empfingen, reiſten ſie unverrichteter Dinge ab. Nun brach
der Zorn des tödlich beleidigten Sultans, der alte Hochmuth des Islam
furchtbar aus. Die Chriſten der Hauptſtadt wurden verhöhnt, mißhandelt,
ausgewieſen; ein Ferman des Padiſchah verkündete den Gläubigen: „das Hei-
denthum bildet nur eine Nation“, überſchüttete die europäiſchen Mächte mit
Schmähungen, insbeſondere Rußland, den Erzfeind des Reichs Muhamed’s.
Auf die Vorſtellungen des preußiſchen Geſandten erwiderte der Reis Effendi
Pertew hochmüthig: jetzt ſei es Zeit auch den Vertrag von Akkerman abzu-
ſchütteln. Durch dieſe Beleidigungen erhielt der Czar den längſt geſuchten
Vorwand zum Kriege. Die Weſtmächte konnten ihm nicht entgegentreten, denn
ſie ſelbſt waren durch die überlegene ruſſiſche Diplomatie gebunden. Nach
dem Londoner Vertrage, der noch immer beſtand, durften die drei Mächte
nur in der griechiſchen Sache nicht einſeitig vorgehen; der Krieg aber,
der jetzt hereinbrach, erſchien als ein Kampf für Rußlands gekränkte Ehre. —


*) Maltzahn’s Berichte, 15. Nov., 11. Dec. 1827.
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[736/0752] III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage. ohne den lang genährten Abſcheu gegen den Halbmond ſchwerlich erfolgt wäre. Der Tag von Navarin begründete Griechenlands Unabhängig- keit, er begründete zugleich Rußlands Herrſchaft auf dem Schwarzen Meere; der Sultan beſaß fortan keine Flotte mehr, die dem Czaren den Marſch nach dem Balkan erſchweren konnte. Die Ruſſen fühlten auch, daß ſie in Wahrheit dieſen Sieg erfochten hatten. In der erſten Freude ſchrieb Neſſelrode dem Geſandten in Wien: „was wird unſer Freund Metternich ſagen zu dieſem Triumphe der Gewalt über die Vorurtheile der Grundſätze?“ Metternich fand kaum Worte genug, um dieſe empörende Verhöhnung des Völkerrechts zu brandmarken. Sein Kaiſer ſprach von Meuchelmord, von Entweihung des heiligen Wortes: Mediation; *) er fürchtete ſchon, die Liberalen hätten vielleicht den Krieg, der jetzt drohe, angezettelt, um inzwiſchen etwa in Frankreich loszubrechen. Auch in Eng- land herrſchte, nachdem der Jubel über den Sieg der nationalen Lieblings- waffe verhallt war, allgemeine Beſtürzung. Das alte Mißtrauen gegen Rußland erwachte wieder. Im Einverſtändniß mit der Stimmung der Nation bildete Wellington ein Tory-Cabinet, das ſich dem Wiener Hofe zu nähern begann, und ſchon im Januar 1828 durfte König Georg in ſeiner Thronrede die Schlacht von Navarin ein unwillkommenes Ereigniß (unto- ward event) nennen. Nach Allem, was geſchehen, mußten die drei Mächte ſofort weiter gehen und nöthigenfalls durch einen zweiten Schlag die Pforte zum Frieden mit den Griechen zwingen; ſo ließen ſich Rußlands Kriegspläne vielleicht noch vereiteln. Aber der Einmuth fehlte, da England immer bedenklicher wurde. Die Vertreter der Weſtmächte erneuerten in Konſtantinopel ihre Friedens- anträge, kräftig unterſtützt von dem preußiſchen Geſandten, und als ſie eine ſchnöde Antwort empfingen, reiſten ſie unverrichteter Dinge ab. Nun brach der Zorn des tödlich beleidigten Sultans, der alte Hochmuth des Islam furchtbar aus. Die Chriſten der Hauptſtadt wurden verhöhnt, mißhandelt, ausgewieſen; ein Ferman des Padiſchah verkündete den Gläubigen: „das Hei- denthum bildet nur eine Nation“, überſchüttete die europäiſchen Mächte mit Schmähungen, insbeſondere Rußland, den Erzfeind des Reichs Muhamed’s. Auf die Vorſtellungen des preußiſchen Geſandten erwiderte der Reis Effendi Pertew hochmüthig: jetzt ſei es Zeit auch den Vertrag von Akkerman abzu- ſchütteln. Durch dieſe Beleidigungen erhielt der Czar den längſt geſuchten Vorwand zum Kriege. Die Weſtmächte konnten ihm nicht entgegentreten, denn ſie ſelbſt waren durch die überlegene ruſſiſche Diplomatie gebunden. Nach dem Londoner Vertrage, der noch immer beſtand, durften die drei Mächte nur in der griechiſchen Sache nicht einſeitig vorgehen; der Krieg aber, der jetzt hereinbrach, erſchien als ein Kampf für Rußlands gekränkte Ehre. — *) Maltzahn’s Berichte, 15. Nov., 11. Dec. 1827.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/752>, abgerufen am 21.11.2024.