ihres Helden Riego angestoßen wurde; und F. v. Spaun meinte: unser Max braucht nur mit dem Finger zu winken, um die Kammer der Reichsräthe hinwegzufegen. Wie kümmerlich erschien die Freiheit der Hessen neben diesen spanischen Herrlichkeiten!
Das ganze Land gerieth in Bewegung. Einige in Stuttgart ge- druckte anonyme Flugschriften, die von E. E. Hoffmann in Darmstadt herrührten, unterwarfen das Edikt einer schonungslosen, wohlberechtigten Kritik, und da die Bauern schon längst über Steuerdruck klagten, so fiel die Mehrzahl der Wahlen zu Ungunsten der Regierung aus. Die Rheinhessen wählten gar den französischen General Eickemeyer, denselben, der einst bei der schmählichen Uebergabe von Mainz mitgewirkt hatte und darum am Hofe, mit Unrecht, für einen gefährlichen Jakobiner galt. Die größere Hälfte der Abgeordneten erklärte dem Großherzog so- fort in einer ehrerbietigen, aber sehr nachdrücklichen Eingabe: sie könnten in dem Edikte die verheißene "umfassende Constitutions-Urkunde" nicht erkennen und darum auch keinen Eid darauf leisten. Umsonst hatte Hans v. Gagern die Grollenden beschworen, nicht also von Haus aus jede Ver- ständigung abzuweisen. Dem wunderlichen Reichspatrioten erging es wie vielen anderen Diplomaten der Kleinstaaten: so phantastisch er sich einst in dem nebelhaften Bereiche der Bundespolitik gezeigt hatte, ebenso be- sonnen verfuhr er jetzt, da er festen Boden unter seinen Füßen fühlte, in der praktischen Politik seines Heimathlandes. Von ihm geführt reichten seine Standesgenossen von der Ritterschaft und die Minderheit der übrigen Abgeordneten eine Gegenerklärung ein: sie waren unbedenklich zur Leistung des Eides bereit, aber nur unter der Voraussetzung, daß der Großherzog ihnen noch andere Gesetze "zur vollständigen Ausbildung der Verfassung" vorlegen würde.
Die Lage des kleinen Staates begann recht unsicher zu werden. Der preußische Gesandte Frhr. v. Otterstedt -- notre ami aux mille affaires hieß er in der diplomatischen Welt -- ein erklärter Gegner der Liberalen, der immer aufgeregt und geheimnißvoll zwischen den Höfen von Darm- stadt und Bieberich hin- und herreiste, schilderte seinem Kabinet "den wahrhaft teuflischen Geist" der hessischen Demagogen in den dunkelsten Farben*); und allerdings nahm die pessimistische Verbitterung bedenklich überhand. Einzelne der Eidverweigerer hofften insgeheim auf einen Ge- waltstreich von oben, damit dann der ausbrechende Volksunwille den Hof zu umfassenden Zugeständnissen zwänge. Auch die mächtigen Mediatisirten, denen fast ein Viertel des Großherzogthums gehörte, zeigten sich feindselig. Vergeblich hatte ihnen die Regierung vor Kurzem alle die in der Bun- desakte verheißenen Rechte, und noch einige mehr, zugestanden, so daß fortan am Büdinger Schloßthore eine Isenburgische Leibwache prunken
*) Otterstedt's Berichte, 10., 26. Juni, 4. Juli 1820.
Das Darmſtädter März-Edikt.
ihres Helden Riego angeſtoßen wurde; und F. v. Spaun meinte: unſer Max braucht nur mit dem Finger zu winken, um die Kammer der Reichsräthe hinwegzufegen. Wie kümmerlich erſchien die Freiheit der Heſſen neben dieſen ſpaniſchen Herrlichkeiten!
Das ganze Land gerieth in Bewegung. Einige in Stuttgart ge- druckte anonyme Flugſchriften, die von E. E. Hoffmann in Darmſtadt herrührten, unterwarfen das Edikt einer ſchonungsloſen, wohlberechtigten Kritik, und da die Bauern ſchon längſt über Steuerdruck klagten, ſo fiel die Mehrzahl der Wahlen zu Ungunſten der Regierung aus. Die Rheinheſſen wählten gar den franzöſiſchen General Eickemeyer, denſelben, der einſt bei der ſchmählichen Uebergabe von Mainz mitgewirkt hatte und darum am Hofe, mit Unrecht, für einen gefährlichen Jakobiner galt. Die größere Hälfte der Abgeordneten erklärte dem Großherzog ſo- fort in einer ehrerbietigen, aber ſehr nachdrücklichen Eingabe: ſie könnten in dem Edikte die verheißene „umfaſſende Conſtitutions-Urkunde“ nicht erkennen und darum auch keinen Eid darauf leiſten. Umſonſt hatte Hans v. Gagern die Grollenden beſchworen, nicht alſo von Haus aus jede Ver- ſtändigung abzuweiſen. Dem wunderlichen Reichspatrioten erging es wie vielen anderen Diplomaten der Kleinſtaaten: ſo phantaſtiſch er ſich einſt in dem nebelhaften Bereiche der Bundespolitik gezeigt hatte, ebenſo be- ſonnen verfuhr er jetzt, da er feſten Boden unter ſeinen Füßen fühlte, in der praktiſchen Politik ſeines Heimathlandes. Von ihm geführt reichten ſeine Standesgenoſſen von der Ritterſchaft und die Minderheit der übrigen Abgeordneten eine Gegenerklärung ein: ſie waren unbedenklich zur Leiſtung des Eides bereit, aber nur unter der Vorausſetzung, daß der Großherzog ihnen noch andere Geſetze „zur vollſtändigen Ausbildung der Verfaſſung“ vorlegen würde.
Die Lage des kleinen Staates begann recht unſicher zu werden. Der preußiſche Geſandte Frhr. v. Otterſtedt — notre ami aux mille affaires hieß er in der diplomatiſchen Welt — ein erklärter Gegner der Liberalen, der immer aufgeregt und geheimnißvoll zwiſchen den Höfen von Darm- ſtadt und Bieberich hin- und herreiſte, ſchilderte ſeinem Kabinet „den wahrhaft teufliſchen Geiſt“ der heſſiſchen Demagogen in den dunkelſten Farben*); und allerdings nahm die peſſimiſtiſche Verbitterung bedenklich überhand. Einzelne der Eidverweigerer hofften insgeheim auf einen Ge- waltſtreich von oben, damit dann der ausbrechende Volksunwille den Hof zu umfaſſenden Zugeſtändniſſen zwänge. Auch die mächtigen Mediatiſirten, denen faſt ein Viertel des Großherzogthums gehörte, zeigten ſich feindſelig. Vergeblich hatte ihnen die Regierung vor Kurzem alle die in der Bun- desakte verheißenen Rechte, und noch einige mehr, zugeſtanden, ſo daß fortan am Büdinger Schloßthore eine Iſenburgiſche Leibwache prunken
*) Otterſtedt’s Berichte, 10., 26. Juni, 4. Juli 1820.
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Max braucht nur mit dem Finger zu winken, um die Kammer der
Reichsräthe hinwegzufegen. Wie kümmerlich erſchien die Freiheit der Heſſen
neben dieſen ſpaniſchen Herrlichkeiten!
Das ganze Land gerieth in Bewegung. Einige in Stuttgart ge-
druckte anonyme Flugſchriften, die von E. E. Hoffmann in Darmſtadt
herrührten, unterwarfen das Edikt einer ſchonungsloſen, wohlberechtigten
Kritik, und da die Bauern ſchon längſt über Steuerdruck klagten, ſo
fiel die Mehrzahl der Wahlen zu Ungunſten der Regierung aus. Die
Rheinheſſen wählten gar den franzöſiſchen General Eickemeyer, denſelben,
der einſt bei der ſchmählichen Uebergabe von Mainz mitgewirkt hatte
und darum am Hofe, mit Unrecht, für einen gefährlichen Jakobiner
galt. Die größere Hälfte der Abgeordneten erklärte dem Großherzog ſo-
fort in einer ehrerbietigen, aber ſehr nachdrücklichen Eingabe: ſie könnten
in dem Edikte die verheißene „umfaſſende Conſtitutions-Urkunde“ nicht
erkennen und darum auch keinen Eid darauf leiſten. Umſonſt hatte Hans
v. Gagern die Grollenden beſchworen, nicht alſo von Haus aus jede Ver-
ſtändigung abzuweiſen. Dem wunderlichen Reichspatrioten erging es wie
vielen anderen Diplomaten der Kleinſtaaten: ſo phantaſtiſch er ſich einſt
in dem nebelhaften Bereiche der Bundespolitik gezeigt hatte, ebenſo be-
ſonnen verfuhr er jetzt, da er feſten Boden unter ſeinen Füßen fühlte,
in der praktiſchen Politik ſeines Heimathlandes. Von ihm geführt reichten
ſeine Standesgenoſſen von der Ritterſchaft und die Minderheit der übrigen
Abgeordneten eine Gegenerklärung ein: ſie waren unbedenklich zur Leiſtung
des Eides bereit, aber nur unter der Vorausſetzung, daß der Großherzog
ihnen noch andere Geſetze „zur vollſtändigen Ausbildung der Verfaſſung“
vorlegen würde.
Die Lage des kleinen Staates begann recht unſicher zu werden. Der
preußiſche Geſandte Frhr. v. Otterſtedt — notre ami aux mille affaires
hieß er in der diplomatiſchen Welt — ein erklärter Gegner der Liberalen,
der immer aufgeregt und geheimnißvoll zwiſchen den Höfen von Darm-
ſtadt und Bieberich hin- und herreiſte, ſchilderte ſeinem Kabinet „den
wahrhaft teufliſchen Geiſt“ der heſſiſchen Demagogen in den dunkelſten
Farben *); und allerdings nahm die peſſimiſtiſche Verbitterung bedenklich
überhand. Einzelne der Eidverweigerer hofften insgeheim auf einen Ge-
waltſtreich von oben, damit dann der ausbrechende Volksunwille den Hof
zu umfaſſenden Zugeſtändniſſen zwänge. Auch die mächtigen Mediatiſirten,
denen faſt ein Viertel des Großherzogthums gehörte, zeigten ſich feindſelig.
Vergeblich hatte ihnen die Regierung vor Kurzem alle die in der Bun-
desakte verheißenen Rechte, und noch einige mehr, zugeſtanden, ſo daß
fortan am Büdinger Schloßthore eine Iſenburgiſche Leibwache prunken
*) Otterſtedt’s Berichte, 10., 26. Juni, 4. Juli 1820.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/77>, abgerufen am 21.11.2024.
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