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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 1. Die Wiener Conferenzen.
den umsichtigen Thätigkeit endlich Ordnung zu schaffen, so daß der Kurs
der Staatspapiere in wenigen Jahren um mehr als 30 Procent stieg.
Die deutsche Politik des Münchener Hofes wurde durch Rechberg und
Zentner bestimmt, und sie standen Beide, Jeder auf seine Weise, treu
zu den Großmächten. Auf ihre Veranlassung*) brachte die Augsburger
Allgemeine Zeitung eine Kritik des Manuscripts, welche alle Sonder-
bundsgedanken mit bitterem Spotte abfertigte. --

Mittlerweile trat auch der letzte der süddeutschen Staaten, der bisher
noch an der unbeschränkten Monarchie festgehalten, zu den Formen des
constitutionellen Staates über. Pünktlich wie er es verheißen, verlieh
Großherzog Ludwig von Hessen durch das Edikt vom 18. März 1820
seinem Lande eine Verfassung; er hoffte durch diese behutsame Gewäh-
rung, wie er den großen Mächten sagen ließ, allen Erwartungen der
Wiener Conferenzen zu entsprechen, seine Zusage zu erfüllen und zugleich
"die Kraft seiner Regierung zu sichern".**) Sein vertrauter Rath, der
verdiente Strafrechtslehrer Grolmann hatte erst vor Kurzem sein aka-
demisches Amt in Gießen schweren Herzens mit dem Ministersessel ver-
tauscht, weil er sich verpflichtet hielt der drohenden Anarchie entgegenzu-
wirken; eine milde, versöhnliche Natur, mehr Gelehrter als Staatsmann,
meinte Grolmann den Landständen "Alles gewährt zu haben, was ihnen
ohne offenbare Gefahr einer Republikanisirung gewährt werden könne."***)
Aber diesmal hatte sich der ehrwürdige, in den Anschauungen eines wohl-
wollenden Absolutismus ergraute Fürst über die Stimmung seines Landes
gründlich getäuscht. Während der langen Zeit des Wartens war das
Volk durch zahlreiche Petitionen und Versammlungen aufgeregt worden;
in den mediatisirten Herrschaften des Odenwalds hatten sich die hart
belasteten Bauern den Truppen bei der Eintreibung der Steuern schon
thätlich widersetzt. Und nun brachte die ersehnte Verfassung, die aller
Noth ein Ziel setzen sollte, nicht viel mehr als einige Vorschriften über
den künftigen Landtag. Die gemüthliche patriarchalische Sprache des
Edikts verfehlte ihren Zweck, da der Inhalt gar so dürftig war. Die
Rechte der Landstände waren sehr eng bemessen und das Wahlrecht der-
maßen beschränkt, daß sich im ganzen Staate außer den höheren Staats-
beamten nur 985 Wählbare fanden. Zu allem Unheil erschien dies
Grundgesetz in dem nämlichen Augenblicke, da die soeben wieder aus dem
Grabe steigende spanische Cortesverfassung in den deutschen Zeitungen
veröffentlicht wurde und das Entzücken der liberalen Welt erregte. "Eine
Verfassung mit zwei Kammern ist gar keine" -- so hieß es jetzt häufig
in den süddeutschen Wirthshäusern, wenn auf das Wohl der Cortes und

*) Zastrow's Bericht, 15. Nov. 1820.
**) Note des großh. hess. Geschäfts-
trägers Frhr. v. Senden an Ancillon, 29. März 1820.
***) Grolmann an Graf Solms-Laubach, 25. März 1820.

III. 1. Die Wiener Conferenzen.
den umſichtigen Thätigkeit endlich Ordnung zu ſchaffen, ſo daß der Kurs
der Staatspapiere in wenigen Jahren um mehr als 30 Procent ſtieg.
Die deutſche Politik des Münchener Hofes wurde durch Rechberg und
Zentner beſtimmt, und ſie ſtanden Beide, Jeder auf ſeine Weiſe, treu
zu den Großmächten. Auf ihre Veranlaſſung*) brachte die Augsburger
Allgemeine Zeitung eine Kritik des Manuſcripts, welche alle Sonder-
bundsgedanken mit bitterem Spotte abfertigte. —

Mittlerweile trat auch der letzte der ſüddeutſchen Staaten, der bisher
noch an der unbeſchränkten Monarchie feſtgehalten, zu den Formen des
conſtitutionellen Staates über. Pünktlich wie er es verheißen, verlieh
Großherzog Ludwig von Heſſen durch das Edikt vom 18. März 1820
ſeinem Lande eine Verfaſſung; er hoffte durch dieſe behutſame Gewäh-
rung, wie er den großen Mächten ſagen ließ, allen Erwartungen der
Wiener Conferenzen zu entſprechen, ſeine Zuſage zu erfüllen und zugleich
„die Kraft ſeiner Regierung zu ſichern“.**) Sein vertrauter Rath, der
verdiente Strafrechtslehrer Grolmann hatte erſt vor Kurzem ſein aka-
demiſches Amt in Gießen ſchweren Herzens mit dem Miniſterſeſſel ver-
tauſcht, weil er ſich verpflichtet hielt der drohenden Anarchie entgegenzu-
wirken; eine milde, verſöhnliche Natur, mehr Gelehrter als Staatsmann,
meinte Grolmann den Landſtänden „Alles gewährt zu haben, was ihnen
ohne offenbare Gefahr einer Republikaniſirung gewährt werden könne.“***)
Aber diesmal hatte ſich der ehrwürdige, in den Anſchauungen eines wohl-
wollenden Abſolutismus ergraute Fürſt über die Stimmung ſeines Landes
gründlich getäuſcht. Während der langen Zeit des Wartens war das
Volk durch zahlreiche Petitionen und Verſammlungen aufgeregt worden;
in den mediatiſirten Herrſchaften des Odenwalds hatten ſich die hart
belaſteten Bauern den Truppen bei der Eintreibung der Steuern ſchon
thätlich widerſetzt. Und nun brachte die erſehnte Verfaſſung, die aller
Noth ein Ziel ſetzen ſollte, nicht viel mehr als einige Vorſchriften über
den künftigen Landtag. Die gemüthliche patriarchaliſche Sprache des
Edikts verfehlte ihren Zweck, da der Inhalt gar ſo dürftig war. Die
Rechte der Landſtände waren ſehr eng bemeſſen und das Wahlrecht der-
maßen beſchränkt, daß ſich im ganzen Staate außer den höheren Staats-
beamten nur 985 Wählbare fanden. Zu allem Unheil erſchien dies
Grundgeſetz in dem nämlichen Augenblicke, da die ſoeben wieder aus dem
Grabe ſteigende ſpaniſche Cortesverfaſſung in den deutſchen Zeitungen
veröffentlicht wurde und das Entzücken der liberalen Welt erregte. „Eine
Verfaſſung mit zwei Kammern iſt gar keine“ — ſo hieß es jetzt häufig
in den ſüddeutſchen Wirthshäuſern, wenn auf das Wohl der Cortes und

*) Zaſtrow’s Bericht, 15. Nov. 1820.
**) Note des großh. heſſ. Geſchäfts-
trägers Frhr. v. Senden an Ancillon, 29. März 1820.
***) Grolmann an Graf Solms-Laubach, 25. März 1820.
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[60/0076] III. 1. Die Wiener Conferenzen. den umſichtigen Thätigkeit endlich Ordnung zu ſchaffen, ſo daß der Kurs der Staatspapiere in wenigen Jahren um mehr als 30 Procent ſtieg. Die deutſche Politik des Münchener Hofes wurde durch Rechberg und Zentner beſtimmt, und ſie ſtanden Beide, Jeder auf ſeine Weiſe, treu zu den Großmächten. Auf ihre Veranlaſſung *) brachte die Augsburger Allgemeine Zeitung eine Kritik des Manuſcripts, welche alle Sonder- bundsgedanken mit bitterem Spotte abfertigte. — Mittlerweile trat auch der letzte der ſüddeutſchen Staaten, der bisher noch an der unbeſchränkten Monarchie feſtgehalten, zu den Formen des conſtitutionellen Staates über. Pünktlich wie er es verheißen, verlieh Großherzog Ludwig von Heſſen durch das Edikt vom 18. März 1820 ſeinem Lande eine Verfaſſung; er hoffte durch dieſe behutſame Gewäh- rung, wie er den großen Mächten ſagen ließ, allen Erwartungen der Wiener Conferenzen zu entſprechen, ſeine Zuſage zu erfüllen und zugleich „die Kraft ſeiner Regierung zu ſichern“. **) Sein vertrauter Rath, der verdiente Strafrechtslehrer Grolmann hatte erſt vor Kurzem ſein aka- demiſches Amt in Gießen ſchweren Herzens mit dem Miniſterſeſſel ver- tauſcht, weil er ſich verpflichtet hielt der drohenden Anarchie entgegenzu- wirken; eine milde, verſöhnliche Natur, mehr Gelehrter als Staatsmann, meinte Grolmann den Landſtänden „Alles gewährt zu haben, was ihnen ohne offenbare Gefahr einer Republikaniſirung gewährt werden könne.“ ***) Aber diesmal hatte ſich der ehrwürdige, in den Anſchauungen eines wohl- wollenden Abſolutismus ergraute Fürſt über die Stimmung ſeines Landes gründlich getäuſcht. Während der langen Zeit des Wartens war das Volk durch zahlreiche Petitionen und Verſammlungen aufgeregt worden; in den mediatiſirten Herrſchaften des Odenwalds hatten ſich die hart belaſteten Bauern den Truppen bei der Eintreibung der Steuern ſchon thätlich widerſetzt. Und nun brachte die erſehnte Verfaſſung, die aller Noth ein Ziel ſetzen ſollte, nicht viel mehr als einige Vorſchriften über den künftigen Landtag. Die gemüthliche patriarchaliſche Sprache des Edikts verfehlte ihren Zweck, da der Inhalt gar ſo dürftig war. Die Rechte der Landſtände waren ſehr eng bemeſſen und das Wahlrecht der- maßen beſchränkt, daß ſich im ganzen Staate außer den höheren Staats- beamten nur 985 Wählbare fanden. Zu allem Unheil erſchien dies Grundgeſetz in dem nämlichen Augenblicke, da die ſoeben wieder aus dem Grabe ſteigende ſpaniſche Cortesverfaſſung in den deutſchen Zeitungen veröffentlicht wurde und das Entzücken der liberalen Welt erregte. „Eine Verfaſſung mit zwei Kammern iſt gar keine“ — ſo hieß es jetzt häufig in den ſüddeutſchen Wirthshäuſern, wenn auf das Wohl der Cortes und *) Zaſtrow’s Bericht, 15. Nov. 1820. **) Note des großh. heſſ. Geſchäfts- trägers Frhr. v. Senden an Ancillon, 29. März 1820. ***) Grolmann an Graf Solms-Laubach, 25. März 1820.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/76>, abgerufen am 21.11.2024.