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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Metternich und die preußische Verfassung.
Angelegenheiten gab. Diesen unerhörten Formfehler durfte Hardenberg als gewiegter
alter Diplomat sich nicht zu Schulden kommen lassen. Hätte die Punctation einen
Artikel enthalten etwa des Inhalts: "Oesterreich ist entschlossen an den bestehenden
provincialständischen Verfassungen seiner deutschen Kronländer nichts zu ändern" --
einen Artikel, welchen Metternich kaum ablehnen konnte -- so war mindestens die Form
gewahrt, und der preußische Staat vermied den üblen Schein, als ob er sich dem Wiener
Hofe unterordnete. Daß Hardenberg dies versäumt hat, ist seine schwere historische Ver-
schuldung; und die Verantwortung trifft zunächst ihn, denn er allein hat die Punctation
mit Metternich abgeschlossen, der König war gar nicht zugegen.

Die schwere Mitschuld des Monarchen verkenne ich nicht. Unleugbar spielte Fried-
rich Wilhelm in jener Teplitzer Unterredung eine traurige Rolle, selbst wenn man alle
die Knalleffecte der Metternich'schen Erzählung als zweifelhaft oder unmöglich hinweg-
läßt. Jener 29. Juli zählt zu den häßlichsten Tagen seines Lebens. Ich habe mich
darüber auch ganz unumwunden ausgesprochen, indem ich sagte: "fast so ergeben wie
einst der schwache Joachim II. stand jetzt wieder ein Hohenzoller neben dem österreichischen
Herrscher." Ein loyaler Preuße bemerkte mir daraufhin: "Diese Vergleichung mit
Joachim II. ist das Bitterste, was sich über einen Preußenkönig des neunzehnten Jahr-
hunderts irgend sagen läßt."

Nur Eines kann und will ich nicht thun -- hier trete ich meinem Kritiker als
unversöhnlicher Gegner gegenüber -- ich kann nicht, nach dem schlechten Beispiel von
Gervinus und Baumgarten, dem König Friedrich Wilhelm und seinen Staatskanzler
mit einem Metternich auf eine Linie stellen. Die Geschichte, der dauernde historische
Erfolg hat bereits entschieden. Metternich's Werke sind todt und abgethan. Die Herr-
schaft Oesterreichs in Deutschland und Italien ist spurlos vernichtet, und auch in seinem
inneren Leben wandelt das neue Oesterreich auf Bahnen, welche mit der Staatskunst
jenes ideenlosen Diplomaten nichts mehr gemein haben. Die Politik Friedrich Wil-
helm's III. hingegen zeigt einen Januskopf. Sie hat Manches gesündigt, in Teplitz, in
Karlsbad und späterhin noch oftmals; doch sie hat auch das Wehrgesetz geschaffen und
das Zollgesetz, die Organisation der Verwaltung und die Steuergesetzgebung, fast alle
die Fundamente des heutigen deutschen Reichs. Ihre Werke dauern; wir bauen an
ihnen fort, aber wir haben sie noch heute, nach zwei Menschenaltern nicht zerstört. Das
sagt Alles.

Diesen Gegensatz der deutschen Politik Oesterreichs und Preußens scharf zu be-
leuchten erscheint mir nicht nur als eine wissenschaftliche Pflicht der historischen Gerechtigkeit,
sondern auch als eine politische Pflicht gegen die Nation. Riesengroß wie nie zuvor
sind heute die alten deutschen Todsünden der Zank-, Scheel- und Tadelsucht wieder ins
Kraut geschossen. Ich aber meine, wir werden nicht eher zu freier menschlicher Bildung
noch zu einem kräftigen Nationalstolz gelangen, als bis wir begriffen haben, daß beim
liebevollen Verstehen und Erklären der vaterländischen Vergangenheit schließlich mehr
herauskommt, als beim Bemängeln, Bequängeln und Benörgeln. Wenn mein Buch
irgend etwas dazu beiträgt die hypochondrischen Geschichtsphantasien der liberalisirenden
Gervinus'schen Schule zu zerstören, die Deutschen für eine dankbarere und darum
freiere Auffassung ihrer herrlichen Geschichte zu gewinnen, dann habe ich nicht umsonst
gearbeitet. --

Inzwischen hat P. Bailleu in der Historischen Zeitschrift (L. 190. Jahrg. 1883)
die Teplitzer Denkschrift Metternich's veröffentlicht. Dieselbe empfiehlt in der That die
Berufung von Provinzialständen und einer aus ihnen hervorgehenden Centralvertretung.
Das Aktenstück trägt, wie ich nach eigenem Augenschein bestätigen kann, am Kopfe die
Bemerkung von Bernstorff's Hand: "Nach den Angaben des Fst. Metternich vom Hof-
rath Gentz verfaßt. Troppau 1820." Bailleu hält aber aus inneren Gründen für unzwei-
felhaft, daß dies Memoire die Teplitzer Denkschrift ist, wenngleich Bernstorff vielleicht
erst in Troppau davon Kenntniß erhalten habe; und ich meine, jeder Unverblendete muß

Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Angelegenheiten gab. Dieſen unerhörten Formfehler durfte Hardenberg als gewiegter
alter Diplomat ſich nicht zu Schulden kommen laſſen. Hätte die Punctation einen
Artikel enthalten etwa des Inhalts: „Oeſterreich iſt entſchloſſen an den beſtehenden
provincialſtändiſchen Verfaſſungen ſeiner deutſchen Kronländer nichts zu ändern“ —
einen Artikel, welchen Metternich kaum ablehnen konnte — ſo war mindeſtens die Form
gewahrt, und der preußiſche Staat vermied den üblen Schein, als ob er ſich dem Wiener
Hofe unterordnete. Daß Hardenberg dies verſäumt hat, iſt ſeine ſchwere hiſtoriſche Ver-
ſchuldung; und die Verantwortung trifft zunächſt ihn, denn er allein hat die Punctation
mit Metternich abgeſchloſſen, der König war gar nicht zugegen.

Die ſchwere Mitſchuld des Monarchen verkenne ich nicht. Unleugbar ſpielte Fried-
rich Wilhelm in jener Teplitzer Unterredung eine traurige Rolle, ſelbſt wenn man alle
die Knalleffecte der Metternich’ſchen Erzählung als zweifelhaft oder unmöglich hinweg-
läßt. Jener 29. Juli zählt zu den häßlichſten Tagen ſeines Lebens. Ich habe mich
darüber auch ganz unumwunden ausgeſprochen, indem ich ſagte: „faſt ſo ergeben wie
einſt der ſchwache Joachim II. ſtand jetzt wieder ein Hohenzoller neben dem öſterreichiſchen
Herrſcher.“ Ein loyaler Preuße bemerkte mir daraufhin: „Dieſe Vergleichung mit
Joachim II. iſt das Bitterſte, was ſich über einen Preußenkönig des neunzehnten Jahr-
hunderts irgend ſagen läßt.“

Nur Eines kann und will ich nicht thun — hier trete ich meinem Kritiker als
unverſöhnlicher Gegner gegenüber — ich kann nicht, nach dem ſchlechten Beiſpiel von
Gervinus und Baumgarten, dem König Friedrich Wilhelm und ſeinen Staatskanzler
mit einem Metternich auf eine Linie ſtellen. Die Geſchichte, der dauernde hiſtoriſche
Erfolg hat bereits entſchieden. Metternich’s Werke ſind todt und abgethan. Die Herr-
ſchaft Oeſterreichs in Deutſchland und Italien iſt ſpurlos vernichtet, und auch in ſeinem
inneren Leben wandelt das neue Oeſterreich auf Bahnen, welche mit der Staatskunſt
jenes ideenloſen Diplomaten nichts mehr gemein haben. Die Politik Friedrich Wil-
helm’s III. hingegen zeigt einen Januskopf. Sie hat Manches geſündigt, in Teplitz, in
Karlsbad und ſpäterhin noch oftmals; doch ſie hat auch das Wehrgeſetz geſchaffen und
das Zollgeſetz, die Organiſation der Verwaltung und die Steuergeſetzgebung, faſt alle
die Fundamente des heutigen deutſchen Reichs. Ihre Werke dauern; wir bauen an
ihnen fort, aber wir haben ſie noch heute, nach zwei Menſchenaltern nicht zerſtört. Das
ſagt Alles.

Dieſen Gegenſatz der deutſchen Politik Oeſterreichs und Preußens ſcharf zu be-
leuchten erſcheint mir nicht nur als eine wiſſenſchaftliche Pflicht der hiſtoriſchen Gerechtigkeit,
ſondern auch als eine politiſche Pflicht gegen die Nation. Rieſengroß wie nie zuvor
ſind heute die alten deutſchen Todſünden der Zank-, Scheel- und Tadelſucht wieder ins
Kraut geſchoſſen. Ich aber meine, wir werden nicht eher zu freier menſchlicher Bildung
noch zu einem kräftigen Nationalſtolz gelangen, als bis wir begriffen haben, daß beim
liebevollen Verſtehen und Erklären der vaterländiſchen Vergangenheit ſchließlich mehr
herauskommt, als beim Bemängeln, Bequängeln und Benörgeln. Wenn mein Buch
irgend etwas dazu beiträgt die hypochondriſchen Geſchichtsphantaſien der liberaliſirenden
Gervinus’ſchen Schule zu zerſtören, die Deutſchen für eine dankbarere und darum
freiere Auffaſſung ihrer herrlichen Geſchichte zu gewinnen, dann habe ich nicht umſonſt
gearbeitet. —

Inzwiſchen hat P. Bailleu in der Hiſtoriſchen Zeitſchrift (L. 190. Jahrg. 1883)
die Teplitzer Denkſchrift Metternich’s veröffentlicht. Dieſelbe empfiehlt in der That die
Berufung von Provinzialſtänden und einer aus ihnen hervorgehenden Centralvertretung.
Das Aktenſtück trägt, wie ich nach eigenem Augenſchein beſtätigen kann, am Kopfe die
Bemerkung von Bernſtorff’s Hand: „Nach den Angaben des Fſt. Metternich vom Hof-
rath Gentz verfaßt. Troppau 1820.“ Bailleu hält aber aus inneren Gründen für unzwei-
felhaft, daß dies Memoire die Teplitzer Denkſchrift iſt, wenngleich Bernſtorff vielleicht
erſt in Troppau davon Kenntniß erhalten habe; und ich meine, jeder Unverblendete muß

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[759/0775] Metternich und die preußiſche Verfaſſung. Angelegenheiten gab. Dieſen unerhörten Formfehler durfte Hardenberg als gewiegter alter Diplomat ſich nicht zu Schulden kommen laſſen. Hätte die Punctation einen Artikel enthalten etwa des Inhalts: „Oeſterreich iſt entſchloſſen an den beſtehenden provincialſtändiſchen Verfaſſungen ſeiner deutſchen Kronländer nichts zu ändern“ — einen Artikel, welchen Metternich kaum ablehnen konnte — ſo war mindeſtens die Form gewahrt, und der preußiſche Staat vermied den üblen Schein, als ob er ſich dem Wiener Hofe unterordnete. Daß Hardenberg dies verſäumt hat, iſt ſeine ſchwere hiſtoriſche Ver- ſchuldung; und die Verantwortung trifft zunächſt ihn, denn er allein hat die Punctation mit Metternich abgeſchloſſen, der König war gar nicht zugegen. Die ſchwere Mitſchuld des Monarchen verkenne ich nicht. Unleugbar ſpielte Fried- rich Wilhelm in jener Teplitzer Unterredung eine traurige Rolle, ſelbſt wenn man alle die Knalleffecte der Metternich’ſchen Erzählung als zweifelhaft oder unmöglich hinweg- läßt. Jener 29. Juli zählt zu den häßlichſten Tagen ſeines Lebens. Ich habe mich darüber auch ganz unumwunden ausgeſprochen, indem ich ſagte: „faſt ſo ergeben wie einſt der ſchwache Joachim II. ſtand jetzt wieder ein Hohenzoller neben dem öſterreichiſchen Herrſcher.“ Ein loyaler Preuße bemerkte mir daraufhin: „Dieſe Vergleichung mit Joachim II. iſt das Bitterſte, was ſich über einen Preußenkönig des neunzehnten Jahr- hunderts irgend ſagen läßt.“ Nur Eines kann und will ich nicht thun — hier trete ich meinem Kritiker als unverſöhnlicher Gegner gegenüber — ich kann nicht, nach dem ſchlechten Beiſpiel von Gervinus und Baumgarten, dem König Friedrich Wilhelm und ſeinen Staatskanzler mit einem Metternich auf eine Linie ſtellen. Die Geſchichte, der dauernde hiſtoriſche Erfolg hat bereits entſchieden. Metternich’s Werke ſind todt und abgethan. Die Herr- ſchaft Oeſterreichs in Deutſchland und Italien iſt ſpurlos vernichtet, und auch in ſeinem inneren Leben wandelt das neue Oeſterreich auf Bahnen, welche mit der Staatskunſt jenes ideenloſen Diplomaten nichts mehr gemein haben. Die Politik Friedrich Wil- helm’s III. hingegen zeigt einen Januskopf. Sie hat Manches geſündigt, in Teplitz, in Karlsbad und ſpäterhin noch oftmals; doch ſie hat auch das Wehrgeſetz geſchaffen und das Zollgeſetz, die Organiſation der Verwaltung und die Steuergeſetzgebung, faſt alle die Fundamente des heutigen deutſchen Reichs. Ihre Werke dauern; wir bauen an ihnen fort, aber wir haben ſie noch heute, nach zwei Menſchenaltern nicht zerſtört. Das ſagt Alles. Dieſen Gegenſatz der deutſchen Politik Oeſterreichs und Preußens ſcharf zu be- leuchten erſcheint mir nicht nur als eine wiſſenſchaftliche Pflicht der hiſtoriſchen Gerechtigkeit, ſondern auch als eine politiſche Pflicht gegen die Nation. Rieſengroß wie nie zuvor ſind heute die alten deutſchen Todſünden der Zank-, Scheel- und Tadelſucht wieder ins Kraut geſchoſſen. Ich aber meine, wir werden nicht eher zu freier menſchlicher Bildung noch zu einem kräftigen Nationalſtolz gelangen, als bis wir begriffen haben, daß beim liebevollen Verſtehen und Erklären der vaterländiſchen Vergangenheit ſchließlich mehr herauskommt, als beim Bemängeln, Bequängeln und Benörgeln. Wenn mein Buch irgend etwas dazu beiträgt die hypochondriſchen Geſchichtsphantaſien der liberaliſirenden Gervinus’ſchen Schule zu zerſtören, die Deutſchen für eine dankbarere und darum freiere Auffaſſung ihrer herrlichen Geſchichte zu gewinnen, dann habe ich nicht umſonſt gearbeitet. — Inzwiſchen hat P. Bailleu in der Hiſtoriſchen Zeitſchrift (L. 190. Jahrg. 1883) die Teplitzer Denkſchrift Metternich’s veröffentlicht. Dieſelbe empfiehlt in der That die Berufung von Provinzialſtänden und einer aus ihnen hervorgehenden Centralvertretung. Das Aktenſtück trägt, wie ich nach eigenem Augenſchein beſtätigen kann, am Kopfe die Bemerkung von Bernſtorff’s Hand: „Nach den Angaben des Fſt. Metternich vom Hof- rath Gentz verfaßt. Troppau 1820.“ Bailleu hält aber aus inneren Gründen für unzwei- felhaft, daß dies Memoire die Teplitzer Denkſchrift iſt, wenngleich Bernſtorff vielleicht erſt in Troppau davon Kenntniß erhalten habe; und ich meine, jeder Unverblendete muß

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 759. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/775>, abgerufen am 24.11.2024.