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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 3. Preußens Mittelstellung.
den Maschinen! Der König ließ die Stadträthe seiner Hauptstadt sehr un-
gnädig an, und Bernstorff klagte im ersten Schrecken über "dies neue Sym-
ptom jenes Schwindel- und Wahngeistes, der leicht ganz Europa in ein
großes Narrenhaus verwandeln kann." *) Aber der Spuk verflog sobald die
Truppen, ohne zu feuern, einige Hiebe mit der blanken Waffe ausgetheilt
hatten, und der Berliner Schneiderkrawall wäre rasch der Vergessenheit
anheimgefallen, wenn nicht Chamisso dem "Kleidermacher-Muthe" in
seinem Liede: Courage, Courage! ein dauerndes Denkmal gesetzt hätte.
Selbst in Posen wurde die Ordnung nirgends gestört, trotz der fieberischen
Aufregung des Adels und trotz der Zuzüge, die heimlich über die polnische
Grenze gingen. --

Nur auf einem entlegenen Außenposten seiner Hausmacht, in Neuen-
burg, mußte König Friedrich Wilhelm für seinen Besitzstand kämpfen.
Mit dem preußischen Staate hatte das schöne Juraländchen schlechterdings
nichts gemein als das Herrscherhaus und dessen Erbfolgeordnung; und
so gewissenhaft wahrten die Hohenzollern von jeher dies Rechtsverhältniß
der reinen Personal-Union, daß sogar die neuenburgischen Offiziere, die
im französischen Heere gegen Preußen fochten, nach der Schlacht von Roß-
bach ungestraft als ehrliche Kriegsgefangene behandelt wurden. Nach dem
unglücklichen Schönbrunner Vertrage erhielt Marschall Berthier die Fürsten-
krone, aber sofort nach Napoleon's Sturze wurde die hundertjährige Ver-
bindung mit dem Hause Hohenzollern wieder angeknüpft; die Herstellung
vollzog sich in allen Formen Rechtens, Berthier verzichtete ausdrücklich
und erhielt von der Krone Preußen eine Entschädigungsrente. Mit
heller Freude empfingen die Neuenburger sodann ihren alten König bei
seinem Einzuge.

So lange der Lord Marshal und die anderen königlichen Gouver-
neure der fridericianischen Tage ihr mildes und sorgsames Regiment
führten, war die Eintracht zwischen Fürst und Volk immer ungestört
geblieben. Die Gemeinden erfreuten sich ihrer uralten Freiheiten; die
Landesverwaltung wurde unentgeltlich und -- mit einziger Ausnahme
des königlichen Gouverneurs -- ausschließlich von Landeskindern besorgt,
aber die stolzen Patriciergeschlechter, welche die Aemter zu bekleiden pflegten,
durften hier nicht, wie überall sonst in der alten Schweiz, ihre Macht zu
oligarchischem Drucke mißbrauchen, weil die Gerechtigkeit der Monarchie sie
in Schranken hielt. Steuern blieben den Neuenburgern in diesen könig-
lichen Zeiten ganz unbekannt, der Ertrag der Domänen und Regalien
nebst einigen Grundzinsen genügte vollauf; der König bezog ein Einkommen
von 27000 Thalern, das er regelmäßig zu gemeinnützigen Zwecken im
Lande selbst verwendete. Und wie wunderbar war der Wohlstand auf-

*) Blittersdorff's Bericht, 30. September. Bernstorff, Weisung an Maltzahn,
20. September 1830.

IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
den Maſchinen! Der König ließ die Stadträthe ſeiner Hauptſtadt ſehr un-
gnädig an, und Bernſtorff klagte im erſten Schrecken über „dies neue Sym-
ptom jenes Schwindel- und Wahngeiſtes, der leicht ganz Europa in ein
großes Narrenhaus verwandeln kann.“ *) Aber der Spuk verflog ſobald die
Truppen, ohne zu feuern, einige Hiebe mit der blanken Waffe ausgetheilt
hatten, und der Berliner Schneiderkrawall wäre raſch der Vergeſſenheit
anheimgefallen, wenn nicht Chamiſſo dem „Kleidermacher-Muthe“ in
ſeinem Liede: Courage, Courage! ein dauerndes Denkmal geſetzt hätte.
Selbſt in Poſen wurde die Ordnung nirgends geſtört, trotz der fieberiſchen
Aufregung des Adels und trotz der Zuzüge, die heimlich über die polniſche
Grenze gingen. —

Nur auf einem entlegenen Außenpoſten ſeiner Hausmacht, in Neuen-
burg, mußte König Friedrich Wilhelm für ſeinen Beſitzſtand kämpfen.
Mit dem preußiſchen Staate hatte das ſchöne Juraländchen ſchlechterdings
nichts gemein als das Herrſcherhaus und deſſen Erbfolgeordnung; und
ſo gewiſſenhaft wahrten die Hohenzollern von jeher dies Rechtsverhältniß
der reinen Perſonal-Union, daß ſogar die neuenburgiſchen Offiziere, die
im franzöſiſchen Heere gegen Preußen fochten, nach der Schlacht von Roß-
bach ungeſtraft als ehrliche Kriegsgefangene behandelt wurden. Nach dem
unglücklichen Schönbrunner Vertrage erhielt Marſchall Berthier die Fürſten-
krone, aber ſofort nach Napoleon’s Sturze wurde die hundertjährige Ver-
bindung mit dem Hauſe Hohenzollern wieder angeknüpft; die Herſtellung
vollzog ſich in allen Formen Rechtens, Berthier verzichtete ausdrücklich
und erhielt von der Krone Preußen eine Entſchädigungsrente. Mit
heller Freude empfingen die Neuenburger ſodann ihren alten König bei
ſeinem Einzuge.

So lange der Lord Marſhal und die anderen königlichen Gouver-
neure der fridericianiſchen Tage ihr mildes und ſorgſames Regiment
führten, war die Eintracht zwiſchen Fürſt und Volk immer ungeſtört
geblieben. Die Gemeinden erfreuten ſich ihrer uralten Freiheiten; die
Landesverwaltung wurde unentgeltlich und — mit einziger Ausnahme
des königlichen Gouverneurs — ausſchließlich von Landeskindern beſorgt,
aber die ſtolzen Patriciergeſchlechter, welche die Aemter zu bekleiden pflegten,
durften hier nicht, wie überall ſonſt in der alten Schweiz, ihre Macht zu
oligarchiſchem Drucke mißbrauchen, weil die Gerechtigkeit der Monarchie ſie
in Schranken hielt. Steuern blieben den Neuenburgern in dieſen könig-
lichen Zeiten ganz unbekannt, der Ertrag der Domänen und Regalien
nebſt einigen Grundzinſen genügte vollauf; der König bezog ein Einkommen
von 27000 Thalern, das er regelmäßig zu gemeinnützigen Zwecken im
Lande ſelbſt verwendete. Und wie wunderbar war der Wohlſtand auf-

*) Blittersdorff’s Bericht, 30. September. Bernſtorff, Weiſung an Maltzahn,
20. September 1830.
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[180/0194] IV. 3. Preußens Mittelſtellung. den Maſchinen! Der König ließ die Stadträthe ſeiner Hauptſtadt ſehr un- gnädig an, und Bernſtorff klagte im erſten Schrecken über „dies neue Sym- ptom jenes Schwindel- und Wahngeiſtes, der leicht ganz Europa in ein großes Narrenhaus verwandeln kann.“ *) Aber der Spuk verflog ſobald die Truppen, ohne zu feuern, einige Hiebe mit der blanken Waffe ausgetheilt hatten, und der Berliner Schneiderkrawall wäre raſch der Vergeſſenheit anheimgefallen, wenn nicht Chamiſſo dem „Kleidermacher-Muthe“ in ſeinem Liede: Courage, Courage! ein dauerndes Denkmal geſetzt hätte. Selbſt in Poſen wurde die Ordnung nirgends geſtört, trotz der fieberiſchen Aufregung des Adels und trotz der Zuzüge, die heimlich über die polniſche Grenze gingen. — Nur auf einem entlegenen Außenpoſten ſeiner Hausmacht, in Neuen- burg, mußte König Friedrich Wilhelm für ſeinen Beſitzſtand kämpfen. Mit dem preußiſchen Staate hatte das ſchöne Juraländchen ſchlechterdings nichts gemein als das Herrſcherhaus und deſſen Erbfolgeordnung; und ſo gewiſſenhaft wahrten die Hohenzollern von jeher dies Rechtsverhältniß der reinen Perſonal-Union, daß ſogar die neuenburgiſchen Offiziere, die im franzöſiſchen Heere gegen Preußen fochten, nach der Schlacht von Roß- bach ungeſtraft als ehrliche Kriegsgefangene behandelt wurden. Nach dem unglücklichen Schönbrunner Vertrage erhielt Marſchall Berthier die Fürſten- krone, aber ſofort nach Napoleon’s Sturze wurde die hundertjährige Ver- bindung mit dem Hauſe Hohenzollern wieder angeknüpft; die Herſtellung vollzog ſich in allen Formen Rechtens, Berthier verzichtete ausdrücklich und erhielt von der Krone Preußen eine Entſchädigungsrente. Mit heller Freude empfingen die Neuenburger ſodann ihren alten König bei ſeinem Einzuge. So lange der Lord Marſhal und die anderen königlichen Gouver- neure der fridericianiſchen Tage ihr mildes und ſorgſames Regiment führten, war die Eintracht zwiſchen Fürſt und Volk immer ungeſtört geblieben. Die Gemeinden erfreuten ſich ihrer uralten Freiheiten; die Landesverwaltung wurde unentgeltlich und — mit einziger Ausnahme des königlichen Gouverneurs — ausſchließlich von Landeskindern beſorgt, aber die ſtolzen Patriciergeſchlechter, welche die Aemter zu bekleiden pflegten, durften hier nicht, wie überall ſonſt in der alten Schweiz, ihre Macht zu oligarchiſchem Drucke mißbrauchen, weil die Gerechtigkeit der Monarchie ſie in Schranken hielt. Steuern blieben den Neuenburgern in dieſen könig- lichen Zeiten ganz unbekannt, der Ertrag der Domänen und Regalien nebſt einigen Grundzinſen genügte vollauf; der König bezog ein Einkommen von 27000 Thalern, das er regelmäßig zu gemeinnützigen Zwecken im Lande ſelbſt verwendete. Und wie wunderbar war der Wohlſtand auf- *) Blittersdorff’s Bericht, 30. September. Bernſtorff, Weiſung an Maltzahn, 20. September 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/194>, abgerufen am 29.11.2024.