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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Hansemann's Denkschrift über die Verfassung.
ständen gar nicht die Rede. Selbst die Altpreußen hielten sich still, ob-
gleich ihr ständischer Ausschuß schon vor'm Jahre erklärt hatte, Preußen
bedürfe einer reichsständischen Verfassung, da die Nachbarstaaten durch
ihre Institutionen allmählich ein Uebergewicht gewännen *); der Landtag
wagte nur in aller Ehrfurcht um die Oeffentlichkeit der provinzialständischen
Verhandlungen zu bitten.

Auch in den zahlreichen Flugschriften der Preußen wurde das Ver-
langen nach einer Verfassung nirgends laut; kaum daß einmal ein stiller
Gelehrter, wie der Schlesier Thilo in seiner Schrift "was ist Verfassung"
den theoretischen Beweis führte: der Fürst vertrete den Staat doch nur
nach außen, folglich müsse das Volk im inneren Staatsleben seine eigene
Vertretung erhalten. Nur ein Mann wagte in diesen Jahren den König
unumwunden an die alte Verheißung zu erinnern: der rheinische Kauf-
herr David Hansemann, ein evangelischer Predigerssohn aus dem Ham-
burgischen, der in jungen Jahren die französische Verwaltung gründlich
kennen und leider auch überschätzen gelernt, dann in Aachen die große
Feuerversicherungs-Gesellschaft gegründet und durch seine glänzende ge-
schäftliche Begabung in der strengkatholischen Stadt ein unbestrittenes An-
sehen errungen hatte. In einer "Denkschrift über Preußens Lage und
Politik", die er im Dec. 1830 dem König einsendete, sprach er durchaus
als treuer preußischer Patriot; er erkannte dankbar an, wie stark sein
Staat in dem zerfahrenen Treiben der deutschen Kleinstaaterei dastehe,
und hoffte die Zeit noch zu erleben, da die undeutschen Länder dereinst
aus dem Bunde ausscheiden, Preußen aber die Führung eines Bundes-
raths und eines deutschen Reichstags übernehmen würde. Doch mit der
ganzen Rücksichtslosigkeit, welche alle neuen socialen Mächte auszeichnet,
vertrat er zugleich die Interessen seines jungen rheinischen Bürgerthums.
Ihm war unzweifelhaft, daß "die bei dem lebendigsten und mittheilendsten
Volke Europas herrschenden Principien" sich überall in der Welt ver-
breiten müßten, daß jede vernünftige Regierung sich auf die Mehrheit des
Vermögens und der Bildung -- gleichviel woher diese stammten -- zu
stützen habe, und Preußen jetzt im Begriff stehe aus der Feudalzeit durch
den Beamtenstaat zu dieser Mehrheitsherrschaft überzugehen. Die stän-
dische Gliederung der Provinziallandtage verwarf er gänzlich, weil jeder
Abgeordnete von Köln oder Aachen hundertundzwanzigmal mehr Köpfe,
vierunddreißigmal mehr Steuerkraft vertrete als ein Mitglied der rhei-
nischen Ritterschaft. Er glaubte zu wissen, daß die Städte durch Kennt-
nisse und politische Bildung weit mehr bedeuteten als das flache Land,
daß der Thron an den großen Kaufleuten und Fabrikanten, die bei Krieg
oder bürgerlichen Unruhen Alles zu verlieren hätten, mindestens eine

*) Protokoll des ständischen Ausschusses (v. Kuhnheim, v. Hake, Graf Dohna-
Reichertswalde) Königsberg 23. Jan. 1829.

Hanſemann’s Denkſchrift über die Verfaſſung.
ſtänden gar nicht die Rede. Selbſt die Altpreußen hielten ſich ſtill, ob-
gleich ihr ſtändiſcher Ausſchuß ſchon vor’m Jahre erklärt hatte, Preußen
bedürfe einer reichsſtändiſchen Verfaſſung, da die Nachbarſtaaten durch
ihre Inſtitutionen allmählich ein Uebergewicht gewännen *); der Landtag
wagte nur in aller Ehrfurcht um die Oeffentlichkeit der provinzialſtändiſchen
Verhandlungen zu bitten.

Auch in den zahlreichen Flugſchriften der Preußen wurde das Ver-
langen nach einer Verfaſſung nirgends laut; kaum daß einmal ein ſtiller
Gelehrter, wie der Schleſier Thilo in ſeiner Schrift „was iſt Verfaſſung“
den theoretiſchen Beweis führte: der Fürſt vertrete den Staat doch nur
nach außen, folglich müſſe das Volk im inneren Staatsleben ſeine eigene
Vertretung erhalten. Nur ein Mann wagte in dieſen Jahren den König
unumwunden an die alte Verheißung zu erinnern: der rheiniſche Kauf-
herr David Hanſemann, ein evangeliſcher Predigersſohn aus dem Ham-
burgiſchen, der in jungen Jahren die franzöſiſche Verwaltung gründlich
kennen und leider auch überſchätzen gelernt, dann in Aachen die große
Feuerverſicherungs-Geſellſchaft gegründet und durch ſeine glänzende ge-
ſchäftliche Begabung in der ſtrengkatholiſchen Stadt ein unbeſtrittenes An-
ſehen errungen hatte. In einer „Denkſchrift über Preußens Lage und
Politik“, die er im Dec. 1830 dem König einſendete, ſprach er durchaus
als treuer preußiſcher Patriot; er erkannte dankbar an, wie ſtark ſein
Staat in dem zerfahrenen Treiben der deutſchen Kleinſtaaterei daſtehe,
und hoffte die Zeit noch zu erleben, da die undeutſchen Länder dereinſt
aus dem Bunde ausſcheiden, Preußen aber die Führung eines Bundes-
raths und eines deutſchen Reichstags übernehmen würde. Doch mit der
ganzen Rückſichtsloſigkeit, welche alle neuen ſocialen Mächte auszeichnet,
vertrat er zugleich die Intereſſen ſeines jungen rheiniſchen Bürgerthums.
Ihm war unzweifelhaft, daß „die bei dem lebendigſten und mittheilendſten
Volke Europas herrſchenden Principien“ ſich überall in der Welt ver-
breiten müßten, daß jede vernünftige Regierung ſich auf die Mehrheit des
Vermögens und der Bildung — gleichviel woher dieſe ſtammten — zu
ſtützen habe, und Preußen jetzt im Begriff ſtehe aus der Feudalzeit durch
den Beamtenſtaat zu dieſer Mehrheitsherrſchaft überzugehen. Die ſtän-
diſche Gliederung der Provinziallandtage verwarf er gänzlich, weil jeder
Abgeordnete von Köln oder Aachen hundertundzwanzigmal mehr Köpfe,
vierunddreißigmal mehr Steuerkraft vertrete als ein Mitglied der rhei-
niſchen Ritterſchaft. Er glaubte zu wiſſen, daß die Städte durch Kennt-
niſſe und politiſche Bildung weit mehr bedeuteten als das flache Land,
daß der Thron an den großen Kaufleuten und Fabrikanten, die bei Krieg
oder bürgerlichen Unruhen Alles zu verlieren hätten, mindeſtens eine

*) Protokoll des ſtändiſchen Ausſchuſſes (v. Kuhnheim, v. Hake, Graf Dohna-
Reichertswalde) Königsberg 23. Jan. 1829.
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[187/0201] Hanſemann’s Denkſchrift über die Verfaſſung. ſtänden gar nicht die Rede. Selbſt die Altpreußen hielten ſich ſtill, ob- gleich ihr ſtändiſcher Ausſchuß ſchon vor’m Jahre erklärt hatte, Preußen bedürfe einer reichsſtändiſchen Verfaſſung, da die Nachbarſtaaten durch ihre Inſtitutionen allmählich ein Uebergewicht gewännen *); der Landtag wagte nur in aller Ehrfurcht um die Oeffentlichkeit der provinzialſtändiſchen Verhandlungen zu bitten. Auch in den zahlreichen Flugſchriften der Preußen wurde das Ver- langen nach einer Verfaſſung nirgends laut; kaum daß einmal ein ſtiller Gelehrter, wie der Schleſier Thilo in ſeiner Schrift „was iſt Verfaſſung“ den theoretiſchen Beweis führte: der Fürſt vertrete den Staat doch nur nach außen, folglich müſſe das Volk im inneren Staatsleben ſeine eigene Vertretung erhalten. Nur ein Mann wagte in dieſen Jahren den König unumwunden an die alte Verheißung zu erinnern: der rheiniſche Kauf- herr David Hanſemann, ein evangeliſcher Predigersſohn aus dem Ham- burgiſchen, der in jungen Jahren die franzöſiſche Verwaltung gründlich kennen und leider auch überſchätzen gelernt, dann in Aachen die große Feuerverſicherungs-Geſellſchaft gegründet und durch ſeine glänzende ge- ſchäftliche Begabung in der ſtrengkatholiſchen Stadt ein unbeſtrittenes An- ſehen errungen hatte. In einer „Denkſchrift über Preußens Lage und Politik“, die er im Dec. 1830 dem König einſendete, ſprach er durchaus als treuer preußiſcher Patriot; er erkannte dankbar an, wie ſtark ſein Staat in dem zerfahrenen Treiben der deutſchen Kleinſtaaterei daſtehe, und hoffte die Zeit noch zu erleben, da die undeutſchen Länder dereinſt aus dem Bunde ausſcheiden, Preußen aber die Führung eines Bundes- raths und eines deutſchen Reichstags übernehmen würde. Doch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit, welche alle neuen ſocialen Mächte auszeichnet, vertrat er zugleich die Intereſſen ſeines jungen rheiniſchen Bürgerthums. Ihm war unzweifelhaft, daß „die bei dem lebendigſten und mittheilendſten Volke Europas herrſchenden Principien“ ſich überall in der Welt ver- breiten müßten, daß jede vernünftige Regierung ſich auf die Mehrheit des Vermögens und der Bildung — gleichviel woher dieſe ſtammten — zu ſtützen habe, und Preußen jetzt im Begriff ſtehe aus der Feudalzeit durch den Beamtenſtaat zu dieſer Mehrheitsherrſchaft überzugehen. Die ſtän- diſche Gliederung der Provinziallandtage verwarf er gänzlich, weil jeder Abgeordnete von Köln oder Aachen hundertundzwanzigmal mehr Köpfe, vierunddreißigmal mehr Steuerkraft vertrete als ein Mitglied der rhei- niſchen Ritterſchaft. Er glaubte zu wiſſen, daß die Städte durch Kennt- niſſe und politiſche Bildung weit mehr bedeuteten als das flache Land, daß der Thron an den großen Kaufleuten und Fabrikanten, die bei Krieg oder bürgerlichen Unruhen Alles zu verlieren hätten, mindeſtens eine *) Protokoll des ſtändiſchen Ausſchuſſes (v. Kuhnheim, v. Hake, Graf Dohna- Reichertswalde) Königsberg 23. Jan. 1829.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/201>, abgerufen am 28.11.2024.