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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 3. Preußens Mittelstellung.
geschah zum ersten male, daß ein deutscher Meister diese nahe Vergangen-
heit zu einem Gesammtbilde zusammenfaßte. Die Darstellung litt, wie be-
greiflich, an manchen thatsächlichen Irrthümern und Ungerechtigkeiten, doch
sie traf den Kern der Sache, sie schilderte schonungslos ehrlich den un-
reinen Charakter der Bewegung von 89, den die Deutschen vormals wohl
gekannt hatten, jetzt aber unter den Eindrücken der liberalen Mythen-
bildung schon wieder zu vergessen begannen, und gab also der Nachwelt
ein letztes schönes Vermächtniß der Weltanschauung der Restauration.
Bei aller Schärfe seines Urtheils dachte Niebuhr doch noch keineswegs
hoffnungslos über Frankreichs Zukunft; er glaubte vielmehr, die Charte
der Bourbonen stehe schon so fest wie eine hundertjährige Verfassung.

Mittlerweile wurde der reizbare Mann durch den Brand seines
Hauses sowie durch anderes häusliches Ungemach heimgesucht, und die krank-
hafte Verstimmung dieser trüben Tage verleugnete sich auch nicht, als der
Kronprinz ihm jetzt in Berlin eine neue Heimath zu eröffnen suchte. Der
Thronfolger bat den König, sich seines lieben Freundes anzunehmen, des
großen Gelehrten, dessen Gesinnungen "so echt royalistisch sind, so ganz
auf dem erhaltenden und fördernden, nicht wie die der meisten seiner
Art auf dem umwälzenden Princip beruhen;" er schlug vor, Niebuhr eine
ganz freie Stellung mit hohem Gehalte in der Hauptstadt anzubieten, so
daß er, ähnlich wie Alexander Humboldt, nur nach Belieben literarisch
oder akademisch thätig sein und außerdem an den Arbeiten des Staats-
raths sich betheiligen sollte. Der König war gern bereit, aber nur wenn
der Historiker selbst wünsche, seinen segensreichen Wirkungskreis am Rhein
zu verlassen. Nun begannen die bei Gelehrten-Berufungen üblichen
Zwischenträgereien, der Kronprinz zeigte wieder sein verhängnißvolles
Talent alle Geschäfte zu verderben. Niebuhr glaubte zu wissen (schwerlich
mit Recht), daß "die Pietisten" in der Umgebung des Thronfolgers seiner
Berufung entgegenarbeiteten; sichtlich aufgeregt gab er nur schwankende
Antworten, und als man endlich eine bestimmte Erklärung verlangte, er-
widerte er, daß er in Bonn mehr zu nützen glaube. Dabei blieb ihm
doch das Gefühl einer erlittenen Kränkung.*)

Ihm graute längst vor dem Verfalle der deutschen Literatur: "Heine,
Börne, Saphir, diese drei Götter aus Israel sind ja die Götzen des
deutschen Israels, selbst Goethe ist schon abgesetzt." Ihm graute mehr
noch vor den demokratischen Sitten der neuen Zeit. Ich finde, sagte

*) So hat sich mir, sehr gegen meine Erwartung, das Urtheil gestaltet nach Ver-
gleichung des gedruckten Materials mit den Aktenstücken des Geh. St. Archivs (der
Kronprinz an den König 13. Febr., an Albrecht 14. Febr.; Lottum an Niebuhr 22. März,
Albrecht an Lottum 10. April; Niebuhr an Lottum 30. März, 20. April, an den König
13. Mai; Cabinetsordres an Niebuhr, 3. 30. Mai 1830). Die an Niebuhr gerichteten
Schreiben sind alle so wohlwollend und achtungsvoll, daß ich mir seine unbestimmten,
ausweichenden Erwiderungen nur aus seiner nervösen Aufregung erklären kann.

IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
geſchah zum erſten male, daß ein deutſcher Meiſter dieſe nahe Vergangen-
heit zu einem Geſammtbilde zuſammenfaßte. Die Darſtellung litt, wie be-
greiflich, an manchen thatſächlichen Irrthümern und Ungerechtigkeiten, doch
ſie traf den Kern der Sache, ſie ſchilderte ſchonungslos ehrlich den un-
reinen Charakter der Bewegung von 89, den die Deutſchen vormals wohl
gekannt hatten, jetzt aber unter den Eindrücken der liberalen Mythen-
bildung ſchon wieder zu vergeſſen begannen, und gab alſo der Nachwelt
ein letztes ſchönes Vermächtniß der Weltanſchauung der Reſtauration.
Bei aller Schärfe ſeines Urtheils dachte Niebuhr doch noch keineswegs
hoffnungslos über Frankreichs Zukunft; er glaubte vielmehr, die Charte
der Bourbonen ſtehe ſchon ſo feſt wie eine hundertjährige Verfaſſung.

Mittlerweile wurde der reizbare Mann durch den Brand ſeines
Hauſes ſowie durch anderes häusliches Ungemach heimgeſucht, und die krank-
hafte Verſtimmung dieſer trüben Tage verleugnete ſich auch nicht, als der
Kronprinz ihm jetzt in Berlin eine neue Heimath zu eröffnen ſuchte. Der
Thronfolger bat den König, ſich ſeines lieben Freundes anzunehmen, des
großen Gelehrten, deſſen Geſinnungen „ſo echt royaliſtiſch ſind, ſo ganz
auf dem erhaltenden und fördernden, nicht wie die der meiſten ſeiner
Art auf dem umwälzenden Princip beruhen;“ er ſchlug vor, Niebuhr eine
ganz freie Stellung mit hohem Gehalte in der Hauptſtadt anzubieten, ſo
daß er, ähnlich wie Alexander Humboldt, nur nach Belieben literariſch
oder akademiſch thätig ſein und außerdem an den Arbeiten des Staats-
raths ſich betheiligen ſollte. Der König war gern bereit, aber nur wenn
der Hiſtoriker ſelbſt wünſche, ſeinen ſegensreichen Wirkungskreis am Rhein
zu verlaſſen. Nun begannen die bei Gelehrten-Berufungen üblichen
Zwiſchenträgereien, der Kronprinz zeigte wieder ſein verhängnißvolles
Talent alle Geſchäfte zu verderben. Niebuhr glaubte zu wiſſen (ſchwerlich
mit Recht), daß „die Pietiſten“ in der Umgebung des Thronfolgers ſeiner
Berufung entgegenarbeiteten; ſichtlich aufgeregt gab er nur ſchwankende
Antworten, und als man endlich eine beſtimmte Erklärung verlangte, er-
widerte er, daß er in Bonn mehr zu nützen glaube. Dabei blieb ihm
doch das Gefühl einer erlittenen Kränkung.*)

Ihm graute längſt vor dem Verfalle der deutſchen Literatur: „Heine,
Börne, Saphir, dieſe drei Götter aus Israel ſind ja die Götzen des
deutſchen Israels, ſelbſt Goethe iſt ſchon abgeſetzt.“ Ihm graute mehr
noch vor den demokratiſchen Sitten der neuen Zeit. Ich finde, ſagte

*) So hat ſich mir, ſehr gegen meine Erwartung, das Urtheil geſtaltet nach Ver-
gleichung des gedruckten Materials mit den Aktenſtücken des Geh. St. Archivs (der
Kronprinz an den König 13. Febr., an Albrecht 14. Febr.; Lottum an Niebuhr 22. März,
Albrecht an Lottum 10. April; Niebuhr an Lottum 30. März, 20. April, an den König
13. Mai; Cabinetsordres an Niebuhr, 3. 30. Mai 1830). Die an Niebuhr gerichteten
Schreiben ſind alle ſo wohlwollend und achtungsvoll, daß ich mir ſeine unbeſtimmten,
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[200/0214] IV. 3. Preußens Mittelſtellung. geſchah zum erſten male, daß ein deutſcher Meiſter dieſe nahe Vergangen- heit zu einem Geſammtbilde zuſammenfaßte. Die Darſtellung litt, wie be- greiflich, an manchen thatſächlichen Irrthümern und Ungerechtigkeiten, doch ſie traf den Kern der Sache, ſie ſchilderte ſchonungslos ehrlich den un- reinen Charakter der Bewegung von 89, den die Deutſchen vormals wohl gekannt hatten, jetzt aber unter den Eindrücken der liberalen Mythen- bildung ſchon wieder zu vergeſſen begannen, und gab alſo der Nachwelt ein letztes ſchönes Vermächtniß der Weltanſchauung der Reſtauration. Bei aller Schärfe ſeines Urtheils dachte Niebuhr doch noch keineswegs hoffnungslos über Frankreichs Zukunft; er glaubte vielmehr, die Charte der Bourbonen ſtehe ſchon ſo feſt wie eine hundertjährige Verfaſſung. Mittlerweile wurde der reizbare Mann durch den Brand ſeines Hauſes ſowie durch anderes häusliches Ungemach heimgeſucht, und die krank- hafte Verſtimmung dieſer trüben Tage verleugnete ſich auch nicht, als der Kronprinz ihm jetzt in Berlin eine neue Heimath zu eröffnen ſuchte. Der Thronfolger bat den König, ſich ſeines lieben Freundes anzunehmen, des großen Gelehrten, deſſen Geſinnungen „ſo echt royaliſtiſch ſind, ſo ganz auf dem erhaltenden und fördernden, nicht wie die der meiſten ſeiner Art auf dem umwälzenden Princip beruhen;“ er ſchlug vor, Niebuhr eine ganz freie Stellung mit hohem Gehalte in der Hauptſtadt anzubieten, ſo daß er, ähnlich wie Alexander Humboldt, nur nach Belieben literariſch oder akademiſch thätig ſein und außerdem an den Arbeiten des Staats- raths ſich betheiligen ſollte. Der König war gern bereit, aber nur wenn der Hiſtoriker ſelbſt wünſche, ſeinen ſegensreichen Wirkungskreis am Rhein zu verlaſſen. Nun begannen die bei Gelehrten-Berufungen üblichen Zwiſchenträgereien, der Kronprinz zeigte wieder ſein verhängnißvolles Talent alle Geſchäfte zu verderben. Niebuhr glaubte zu wiſſen (ſchwerlich mit Recht), daß „die Pietiſten“ in der Umgebung des Thronfolgers ſeiner Berufung entgegenarbeiteten; ſichtlich aufgeregt gab er nur ſchwankende Antworten, und als man endlich eine beſtimmte Erklärung verlangte, er- widerte er, daß er in Bonn mehr zu nützen glaube. Dabei blieb ihm doch das Gefühl einer erlittenen Kränkung. *) Ihm graute längſt vor dem Verfalle der deutſchen Literatur: „Heine, Börne, Saphir, dieſe drei Götter aus Israel ſind ja die Götzen des deutſchen Israels, ſelbſt Goethe iſt ſchon abgeſetzt.“ Ihm graute mehr noch vor den demokratiſchen Sitten der neuen Zeit. Ich finde, ſagte *) So hat ſich mir, ſehr gegen meine Erwartung, das Urtheil geſtaltet nach Ver- gleichung des gedruckten Materials mit den Aktenſtücken des Geh. St. Archivs (der Kronprinz an den König 13. Febr., an Albrecht 14. Febr.; Lottum an Niebuhr 22. März, Albrecht an Lottum 10. April; Niebuhr an Lottum 30. März, 20. April, an den König 13. Mai; Cabinetsordres an Niebuhr, 3. 30. Mai 1830). Die an Niebuhr gerichteten Schreiben ſind alle ſo wohlwollend und achtungsvoll, daß ich mir ſeine unbeſtimmten, ausweichenden Erwiderungen nur aus ſeiner nervöſen Aufregung erklären kann.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/214>, abgerufen am 27.11.2024.