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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Abfertigung der Westmächte.
furt seien die Sechs Artikel einmüthig beschlossen, dort möge England seine
Beschwerden vorbringen, der König von Preußen nehme sie gar nicht an.
Trotzdem erdreistete sich der Engländer mit dem eigenthümlichen Zart-
gefühle seiner Nation noch eine Abschrift der Depesche an Ancillon zu
senden; sofort ward ihm das Schriftstück ungelesen mit einem kurz ab-
weisenden Briefe zurückgeschickt.*) Nunmehr wendete sich Cathcart in
Frankfurt an die Bundesgesandten und empfing von Münch wie von
Nagler die schroffe Antwort, daß der Bund sich jede Einmischung des
Auslands verbitten müsse. Dem Dresdener Hofe dankte Ancillon warm
für seine würdige Haltung und fügte hinzu: "Die deutschen Staaten ent-
zweien um selbst in Deutschland zu herrschen, das ist immer Frankreichs
Losung gewesen und ist es heute mehr denn je; denn Frankreich fühlt,
daß Deutschland, geschlossen, einig und in voller Uebereinstimmung unter
dem Banner des Bundes kämpfend, seinem mächtigen Nachbarn zum min-
desten gewachsen sein würde."**) Metternich aber konnte sich's nicht ver-
sagen, den englischen Minister, der solches Unterrichts allerdings bedurfte,
durch eine lange Depesche über die Grundzüge des deutschen Bundesrechts
zu belehren (31. Oct.) und erließ sodann noch ein Rundschreiben an die
deutschen Höfe um sie in ihrer guten Gesinnung zu bestärken. Nichts über-
flüssiger als diese Mahnung. Dem Auslande gegenüber waren Deutsch-
lands Fürsten einig; was konnten sie auch von England hoffen? was von
dem schwächlichen, beständig um's Dasein ringenden Bürgerkönigthum?

Verbittert wie sie war zeigte die Nation für diese ehrenwerthe Hal-
tung ihres Fürstenstandes gar kein Verständniß. Die Ueberklugen meinten,
das Alles sei nur ein Gaukelspiel; die Meisten sagten: den liberalen
Westmächten zeigt man die Zähne, vor dem weißen Czaren kriecht man
im Staube. Von der europäischen Politik hatten unsere liberalen Zei-
tungen nicht die leiseste Ahnung, obgleich sie den größten Theil ihrer
Spalten dem Auslande widmeten und sich beständig den Kopf anderer
Völker zerbrachen; sie redeten nur nach was die Handlungsreisenden der
Revolution, die polnischen Flüchtlinge ihnen vorsagten. Darum glaubten
sie bestimmt, daß Deutschland von den Russen beherrscht werde. Und
doch hatte der Czar sich von der Berathung der Sechs Artikel ganz fern
gehalten, da er auf die conservative Gesinnung der deutschen Großmächte
zählen konnte; er hatte nur einmal durch einen freundschaftlichen Brief
den König von Baiern zur Bundestreue ermahnt, während die Westmächte
dem Deutschen Bunde mit schamloser Anmaßung entgegentraten. Auch
in der großen Politik gab Rußland keineswegs den Ausschlag; bisher
waren noch alle seine Kriegspläne durch Preußens Mäßigung vereitelt
worden. Aber die beharrlichen Angriffe der liberalen Presse mußten den

*) Ancillon an Abercrombie, 24. Sept., an Brockhausen, 24. Sept. 1832.
**) Ancillon an Jordan, 11. Aug. 1832.

Abfertigung der Weſtmächte.
furt ſeien die Sechs Artikel einmüthig beſchloſſen, dort möge England ſeine
Beſchwerden vorbringen, der König von Preußen nehme ſie gar nicht an.
Trotzdem erdreiſtete ſich der Engländer mit dem eigenthümlichen Zart-
gefühle ſeiner Nation noch eine Abſchrift der Depeſche an Ancillon zu
ſenden; ſofort ward ihm das Schriftſtück ungeleſen mit einem kurz ab-
weiſenden Briefe zurückgeſchickt.*) Nunmehr wendete ſich Cathcart in
Frankfurt an die Bundesgeſandten und empfing von Münch wie von
Nagler die ſchroffe Antwort, daß der Bund ſich jede Einmiſchung des
Auslands verbitten müſſe. Dem Dresdener Hofe dankte Ancillon warm
für ſeine würdige Haltung und fügte hinzu: „Die deutſchen Staaten ent-
zweien um ſelbſt in Deutſchland zu herrſchen, das iſt immer Frankreichs
Loſung geweſen und iſt es heute mehr denn je; denn Frankreich fühlt,
daß Deutſchland, geſchloſſen, einig und in voller Uebereinſtimmung unter
dem Banner des Bundes kämpfend, ſeinem mächtigen Nachbarn zum min-
deſten gewachſen ſein würde.“**) Metternich aber konnte ſich’s nicht ver-
ſagen, den engliſchen Miniſter, der ſolches Unterrichts allerdings bedurfte,
durch eine lange Depeſche über die Grundzüge des deutſchen Bundesrechts
zu belehren (31. Oct.) und erließ ſodann noch ein Rundſchreiben an die
deutſchen Höfe um ſie in ihrer guten Geſinnung zu beſtärken. Nichts über-
flüſſiger als dieſe Mahnung. Dem Auslande gegenüber waren Deutſch-
lands Fürſten einig; was konnten ſie auch von England hoffen? was von
dem ſchwächlichen, beſtändig um’s Daſein ringenden Bürgerkönigthum?

Verbittert wie ſie war zeigte die Nation für dieſe ehrenwerthe Hal-
tung ihres Fürſtenſtandes gar kein Verſtändniß. Die Ueberklugen meinten,
das Alles ſei nur ein Gaukelſpiel; die Meiſten ſagten: den liberalen
Weſtmächten zeigt man die Zähne, vor dem weißen Czaren kriecht man
im Staube. Von der europäiſchen Politik hatten unſere liberalen Zei-
tungen nicht die leiſeſte Ahnung, obgleich ſie den größten Theil ihrer
Spalten dem Auslande widmeten und ſich beſtändig den Kopf anderer
Völker zerbrachen; ſie redeten nur nach was die Handlungsreiſenden der
Revolution, die polniſchen Flüchtlinge ihnen vorſagten. Darum glaubten
ſie beſtimmt, daß Deutſchland von den Ruſſen beherrſcht werde. Und
doch hatte der Czar ſich von der Berathung der Sechs Artikel ganz fern
gehalten, da er auf die conſervative Geſinnung der deutſchen Großmächte
zählen konnte; er hatte nur einmal durch einen freundſchaftlichen Brief
den König von Baiern zur Bundestreue ermahnt, während die Weſtmächte
dem Deutſchen Bunde mit ſchamloſer Anmaßung entgegentraten. Auch
in der großen Politik gab Rußland keineswegs den Ausſchlag; bisher
waren noch alle ſeine Kriegspläne durch Preußens Mäßigung vereitelt
worden. Aber die beharrlichen Angriffe der liberalen Preſſe mußten den

*) Ancillon an Abercrombie, 24. Sept., an Brockhauſen, 24. Sept. 1832.
**) Ancillon an Jordan, 11. Aug. 1832.
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[287/0301] Abfertigung der Weſtmächte. furt ſeien die Sechs Artikel einmüthig beſchloſſen, dort möge England ſeine Beſchwerden vorbringen, der König von Preußen nehme ſie gar nicht an. Trotzdem erdreiſtete ſich der Engländer mit dem eigenthümlichen Zart- gefühle ſeiner Nation noch eine Abſchrift der Depeſche an Ancillon zu ſenden; ſofort ward ihm das Schriftſtück ungeleſen mit einem kurz ab- weiſenden Briefe zurückgeſchickt. *) Nunmehr wendete ſich Cathcart in Frankfurt an die Bundesgeſandten und empfing von Münch wie von Nagler die ſchroffe Antwort, daß der Bund ſich jede Einmiſchung des Auslands verbitten müſſe. Dem Dresdener Hofe dankte Ancillon warm für ſeine würdige Haltung und fügte hinzu: „Die deutſchen Staaten ent- zweien um ſelbſt in Deutſchland zu herrſchen, das iſt immer Frankreichs Loſung geweſen und iſt es heute mehr denn je; denn Frankreich fühlt, daß Deutſchland, geſchloſſen, einig und in voller Uebereinſtimmung unter dem Banner des Bundes kämpfend, ſeinem mächtigen Nachbarn zum min- deſten gewachſen ſein würde.“ **) Metternich aber konnte ſich’s nicht ver- ſagen, den engliſchen Miniſter, der ſolches Unterrichts allerdings bedurfte, durch eine lange Depeſche über die Grundzüge des deutſchen Bundesrechts zu belehren (31. Oct.) und erließ ſodann noch ein Rundſchreiben an die deutſchen Höfe um ſie in ihrer guten Geſinnung zu beſtärken. Nichts über- flüſſiger als dieſe Mahnung. Dem Auslande gegenüber waren Deutſch- lands Fürſten einig; was konnten ſie auch von England hoffen? was von dem ſchwächlichen, beſtändig um’s Daſein ringenden Bürgerkönigthum? Verbittert wie ſie war zeigte die Nation für dieſe ehrenwerthe Hal- tung ihres Fürſtenſtandes gar kein Verſtändniß. Die Ueberklugen meinten, das Alles ſei nur ein Gaukelſpiel; die Meiſten ſagten: den liberalen Weſtmächten zeigt man die Zähne, vor dem weißen Czaren kriecht man im Staube. Von der europäiſchen Politik hatten unſere liberalen Zei- tungen nicht die leiſeſte Ahnung, obgleich ſie den größten Theil ihrer Spalten dem Auslande widmeten und ſich beſtändig den Kopf anderer Völker zerbrachen; ſie redeten nur nach was die Handlungsreiſenden der Revolution, die polniſchen Flüchtlinge ihnen vorſagten. Darum glaubten ſie beſtimmt, daß Deutſchland von den Ruſſen beherrſcht werde. Und doch hatte der Czar ſich von der Berathung der Sechs Artikel ganz fern gehalten, da er auf die conſervative Geſinnung der deutſchen Großmächte zählen konnte; er hatte nur einmal durch einen freundſchaftlichen Brief den König von Baiern zur Bundestreue ermahnt, während die Weſtmächte dem Deutſchen Bunde mit ſchamloſer Anmaßung entgegentraten. Auch in der großen Politik gab Rußland keineswegs den Ausſchlag; bisher waren noch alle ſeine Kriegspläne durch Preußens Mäßigung vereitelt worden. Aber die beharrlichen Angriffe der liberalen Preſſe mußten den *) Ancillon an Abercrombie, 24. Sept., an Brockhauſen, 24. Sept. 1832. **) Ancillon an Jordan, 11. Aug. 1832.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/301>, abgerufen am 24.11.2024.