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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Ludwig Philipp.

Da der Herzog mit seiner ganzen Weltanschauung dem neuen Frank-
reich angehörte, so täuschte er sich nicht über die gefährdete Lage der alten
Dynastie, und schon nach den hundert Tagen erwog man in diplomati-
schen Kreisen die Möglichkeit seiner Thronbesteigung. Die jüngere Linie
des königlichen Hauses bildete wieder den Mittelpunkt der Opposition, wie
es im Geschlechte der Capetinger seit Jahrhunderten üblich war; liberale
Börsenmänner, Abgeordnete, Schriftsteller verkehrten im Palais Royal,
und P. L. Courier feierte den Herzog als den einzigen nationalen und
liberalen Prinzen von Geblüt. In weitere Kreise drang sein Ruhm erst,
als er seine Söhne gut bürgerlich in einem Pariser Lyceum unterrichten
ließ. So lange es Monarchien gab war die Welt bisher der Meinung
gewesen, daß Fürsten einer anderen Erziehung bedürfen als Unterthanen,
weil sie im Leben Anderes leisten sollen. Der Gleichheitseifer des libe-
ralen Bürgerthums setzte sich indeß über die Lehren der Erfahrung leicht-
füßig hinweg und pries den volksfreundlichen Sinn des Herzogs, obgleich
seine Prinzen den besten Segen der öffentlichen Erziehung, den vollkom-
men freien Wetteifer der jugendlichen Köpfe und Fäuste, selbstverständlich
niemals kennen lernten und an Hochmuth ihren Standesgenossen nichts
nachgaben. Als Ludwig Philipp zagend die Krone an sich nahm, da be-
drückte ihn die frevelhafte Rechtsverletzung nur wenig; dem aufgeklärten,
durchaus ungläubigen Sohne Philipp Egalite's fiel es nicht allzu schwer,
"die Linie der königlichen Vorurtheile zu durchbrechen", wie sein getreuer
Thiers sagte. Um so ernstlicher beunruhigte ihn die Sorge um die Zu-
kunft seiner Familie. Sein Eigenthum mußte, nach dem alten, stets un-
verbrüchlich eingehaltenen Hausgesetze der Capetinger, im Augenblicke der
Thronbesteigung von Rechtswegen an die Krone fallen. Der Bürgerkönig
aber bekundete sogleich den kaufmännischen Charakter seines Regiments,
indem er diesen stolzen königlichen Rechtssatz mit der Gewandtheit eines
Börsenspielers umging: unmittelbar bevor er die Königswürde annahm,
trat er sein Vermögen seinen Kindern ab und behielt sich nur die Nutz-
nießung vor, die er denn auch mit Hilfe der befreundeten Bankfirmen
sehr wirksam handhabte. Gleichwohl empfand er täglich den Fluch der
Usurpation; ich sage Ihnen, wiederholte er beständig, meine Kinder wer-
den kein Brot zum Essen haben.

Um sich zu halten durfte er anfangs persönliche Demüthigungen und
demagogische Schliche nicht verschmähen. Er verstand sich dazu, die Lilien
selbst aus seinem Familienwappen zu entfernen, er ließ den Wortschwall
seiner süßen Reden unaufhaltsam spielen und verbeugte sich auf den Pa-
raden verbindlich vor dem souveränen Volke. Bei zweifelhaftem Wetter

gedenkt, erinnerte Hortensia Bonaparte die Höfe, als Ludwig Philipp den Nachkommen
Eugen's den belgischen Thron streitig machte (Schreiben Hortensia's an die Herzogin
Auguste v. Leuchtenberg, Rom 27. Jan. 1831, den Cabinetten von Wien und Berlin mit-
getheilt Febr. 1831).
2*
Ludwig Philipp.

Da der Herzog mit ſeiner ganzen Weltanſchauung dem neuen Frank-
reich angehörte, ſo täuſchte er ſich nicht über die gefährdete Lage der alten
Dynaſtie, und ſchon nach den hundert Tagen erwog man in diplomati-
ſchen Kreiſen die Möglichkeit ſeiner Thronbeſteigung. Die jüngere Linie
des königlichen Hauſes bildete wieder den Mittelpunkt der Oppoſition, wie
es im Geſchlechte der Capetinger ſeit Jahrhunderten üblich war; liberale
Börſenmänner, Abgeordnete, Schriftſteller verkehrten im Palais Royal,
und P. L. Courier feierte den Herzog als den einzigen nationalen und
liberalen Prinzen von Geblüt. In weitere Kreiſe drang ſein Ruhm erſt,
als er ſeine Söhne gut bürgerlich in einem Pariſer Lyceum unterrichten
ließ. So lange es Monarchien gab war die Welt bisher der Meinung
geweſen, daß Fürſten einer anderen Erziehung bedürfen als Unterthanen,
weil ſie im Leben Anderes leiſten ſollen. Der Gleichheitseifer des libe-
ralen Bürgerthums ſetzte ſich indeß über die Lehren der Erfahrung leicht-
füßig hinweg und pries den volksfreundlichen Sinn des Herzogs, obgleich
ſeine Prinzen den beſten Segen der öffentlichen Erziehung, den vollkom-
men freien Wetteifer der jugendlichen Köpfe und Fäuſte, ſelbſtverſtändlich
niemals kennen lernten und an Hochmuth ihren Standesgenoſſen nichts
nachgaben. Als Ludwig Philipp zagend die Krone an ſich nahm, da be-
drückte ihn die frevelhafte Rechtsverletzung nur wenig; dem aufgeklärten,
durchaus ungläubigen Sohne Philipp Egalité’s fiel es nicht allzu ſchwer,
„die Linie der königlichen Vorurtheile zu durchbrechen“, wie ſein getreuer
Thiers ſagte. Um ſo ernſtlicher beunruhigte ihn die Sorge um die Zu-
kunft ſeiner Familie. Sein Eigenthum mußte, nach dem alten, ſtets un-
verbrüchlich eingehaltenen Hausgeſetze der Capetinger, im Augenblicke der
Thronbeſteigung von Rechtswegen an die Krone fallen. Der Bürgerkönig
aber bekundete ſogleich den kaufmänniſchen Charakter ſeines Regiments,
indem er dieſen ſtolzen königlichen Rechtsſatz mit der Gewandtheit eines
Börſenſpielers umging: unmittelbar bevor er die Königswürde annahm,
trat er ſein Vermögen ſeinen Kindern ab und behielt ſich nur die Nutz-
nießung vor, die er denn auch mit Hilfe der befreundeten Bankfirmen
ſehr wirkſam handhabte. Gleichwohl empfand er täglich den Fluch der
Uſurpation; ich ſage Ihnen, wiederholte er beſtändig, meine Kinder wer-
den kein Brot zum Eſſen haben.

Um ſich zu halten durfte er anfangs perſönliche Demüthigungen und
demagogiſche Schliche nicht verſchmähen. Er verſtand ſich dazu, die Lilien
ſelbſt aus ſeinem Familienwappen zu entfernen, er ließ den Wortſchwall
ſeiner ſüßen Reden unaufhaltſam ſpielen und verbeugte ſich auf den Pa-
raden verbindlich vor dem ſouveränen Volke. Bei zweifelhaftem Wetter

gedenkt, erinnerte Hortenſia Bonaparte die Höfe, als Ludwig Philipp den Nachkommen
Eugen’s den belgiſchen Thron ſtreitig machte (Schreiben Hortenſia’s an die Herzogin
Auguſte v. Leuchtenberg, Rom 27. Jan. 1831, den Cabinetten von Wien und Berlin mit-
getheilt Febr. 1831).
2*
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[19/0033] Ludwig Philipp. Da der Herzog mit ſeiner ganzen Weltanſchauung dem neuen Frank- reich angehörte, ſo täuſchte er ſich nicht über die gefährdete Lage der alten Dynaſtie, und ſchon nach den hundert Tagen erwog man in diplomati- ſchen Kreiſen die Möglichkeit ſeiner Thronbeſteigung. Die jüngere Linie des königlichen Hauſes bildete wieder den Mittelpunkt der Oppoſition, wie es im Geſchlechte der Capetinger ſeit Jahrhunderten üblich war; liberale Börſenmänner, Abgeordnete, Schriftſteller verkehrten im Palais Royal, und P. L. Courier feierte den Herzog als den einzigen nationalen und liberalen Prinzen von Geblüt. In weitere Kreiſe drang ſein Ruhm erſt, als er ſeine Söhne gut bürgerlich in einem Pariſer Lyceum unterrichten ließ. So lange es Monarchien gab war die Welt bisher der Meinung geweſen, daß Fürſten einer anderen Erziehung bedürfen als Unterthanen, weil ſie im Leben Anderes leiſten ſollen. Der Gleichheitseifer des libe- ralen Bürgerthums ſetzte ſich indeß über die Lehren der Erfahrung leicht- füßig hinweg und pries den volksfreundlichen Sinn des Herzogs, obgleich ſeine Prinzen den beſten Segen der öffentlichen Erziehung, den vollkom- men freien Wetteifer der jugendlichen Köpfe und Fäuſte, ſelbſtverſtändlich niemals kennen lernten und an Hochmuth ihren Standesgenoſſen nichts nachgaben. Als Ludwig Philipp zagend die Krone an ſich nahm, da be- drückte ihn die frevelhafte Rechtsverletzung nur wenig; dem aufgeklärten, durchaus ungläubigen Sohne Philipp Egalité’s fiel es nicht allzu ſchwer, „die Linie der königlichen Vorurtheile zu durchbrechen“, wie ſein getreuer Thiers ſagte. Um ſo ernſtlicher beunruhigte ihn die Sorge um die Zu- kunft ſeiner Familie. Sein Eigenthum mußte, nach dem alten, ſtets un- verbrüchlich eingehaltenen Hausgeſetze der Capetinger, im Augenblicke der Thronbeſteigung von Rechtswegen an die Krone fallen. Der Bürgerkönig aber bekundete ſogleich den kaufmänniſchen Charakter ſeines Regiments, indem er dieſen ſtolzen königlichen Rechtsſatz mit der Gewandtheit eines Börſenſpielers umging: unmittelbar bevor er die Königswürde annahm, trat er ſein Vermögen ſeinen Kindern ab und behielt ſich nur die Nutz- nießung vor, die er denn auch mit Hilfe der befreundeten Bankfirmen ſehr wirkſam handhabte. Gleichwohl empfand er täglich den Fluch der Uſurpation; ich ſage Ihnen, wiederholte er beſtändig, meine Kinder wer- den kein Brot zum Eſſen haben. Um ſich zu halten durfte er anfangs perſönliche Demüthigungen und demagogiſche Schliche nicht verſchmähen. Er verſtand ſich dazu, die Lilien ſelbſt aus ſeinem Familienwappen zu entfernen, er ließ den Wortſchwall ſeiner ſüßen Reden unaufhaltſam ſpielen und verbeugte ſich auf den Pa- raden verbindlich vor dem ſouveränen Volke. Bei zweifelhaftem Wetter *) *) gedenkt, erinnerte Hortenſia Bonaparte die Höfe, als Ludwig Philipp den Nachkommen Eugen’s den belgiſchen Thron ſtreitig machte (Schreiben Hortenſia’s an die Herzogin Auguſte v. Leuchtenberg, Rom 27. Jan. 1831, den Cabinetten von Wien und Berlin mit- getheilt Febr. 1831). 2*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/33>, abgerufen am 23.11.2024.