einiger Zeit in schnöden Worten erklären, daß er mit dem unbelehrbaren badischen Hofe nichts mehr zu schaffen haben wolle.*) In Berlin urtheilte man milder, doch die erneuten Verhandlungen blieben fruchtlos. Der königliche Dichter in München hinterließ die imaginären Sponheimer An- sprüche seinen Nachfolgern als ein heiliges Vermächtniß, unterthänigen Historikern als einen köstlichen Stoff für bajuvarische Großsprechereien. Also ward Baden, früherhin immer ein wackerer Vorkämpfer der deutschen Handelseinheit, theils durch die Thorheit seiner Kammern theils durch eine seltsame diplomatische Verwicklung ganz in das Hintertreffen gedrängt und von den entscheidenden Verhandlungen der Zollvereinspolitik mehrere Jahre hindurch ausgeschlossen. --
Die leidenschaftliche, uns heute fast räthselhafte Erbitterung dieser bairisch-badischen Händel spiegelte sich wieder in einem seltsamen Abenteuer, das die Zeitgenossen viele Jahre hindurch lebhaft beschäftigte. Zu Pfingsten 1828 kam ein junger Bauerbursch, angeblich Kaspar Hauser benamset, nach Nürnberg um bei den Chevauxlegers als Reiter einzutreten; der verwahrloste Mensch war geimpft, konnte etwas lesen und schreiben, auch einfache Fragen in seinem oberpfälzischen Dialekt nothdürftig beantworten, und trug die unter bairischen Bauersleuten üblichen katholischen Gebet- bücher bei sich. Er überbrachte einen geheimnißvollen Brief, dessen Hand- schrift seiner eigenen sehr ähnlich sah. Der dunkle Sinn dieses Schreibens und das scheue, sonderbare Wesen des Burschen erregten die öffentliche Neugier; durch thörichte Fragen ward bald ein ungeheuerliches Märchen aus ihm herausgeforscht: er wollte von Kindesbeinen an in einem finsteren unterirdischen Kerker gelegen, dann urplötzlich von seinem unsichtbaren Kerkermeister das Sprechen, Lesen und Schreiben gelernt haben. Der Bürgermeister Binder von Nürnberg verkündete alsdann in einer schwül- stigen, die gefühlsselige Lesewelt zerknirschenden Bekanntmachung, daß die Gemeinde den Findling "als ein ihr von der Vorsehung anvertrautes Pfand der Liebe betrachte", und übergab seinem Schwiegersohne Daumer, einem geistreichen, aber unerfahrenen und durchaus verschrobenen Gelehrten, die Erziehung des Wunderkindes. Pädagogen, Aerzte und Criminalisten, Ho- möopathen, Wunderthäter und Geisterseher, blasirte Weltmänner, Wiß- begierige aller Stände eilten herbei um diesen Thiermenschen, der in Allem von den gemeinen Sterblichen abweichen sollte, zu ergründen, jedes Organ seines Leibes und seiner Seele verwegenen Experimenten zu unterwerfen.
Eine ganze Literatur von Aufsätzen und Flugschriften beschäftigte sich mit dem "Kinde von Europa". Alle Schwächen einer thatenarmen und doch nach Thaten dürstenden Zeit, der romantische Wunderglaube, die nervöse Reizbarkeit, der überkluge Scharfsinn, die Lust am Skandal und der radicale Haß gegen die vornehme Welt fanden hier ihre Rechnung.
*) Note des württemb. Gesandten Frhr. v. Linden an Bernstorff, 20. April 1832.
Abbruch der Verhandlungen mit Baden.
einiger Zeit in ſchnöden Worten erklären, daß er mit dem unbelehrbaren badiſchen Hofe nichts mehr zu ſchaffen haben wolle.*) In Berlin urtheilte man milder, doch die erneuten Verhandlungen blieben fruchtlos. Der königliche Dichter in München hinterließ die imaginären Sponheimer An- ſprüche ſeinen Nachfolgern als ein heiliges Vermächtniß, unterthänigen Hiſtorikern als einen köſtlichen Stoff für bajuvariſche Großſprechereien. Alſo ward Baden, früherhin immer ein wackerer Vorkämpfer der deutſchen Handelseinheit, theils durch die Thorheit ſeiner Kammern theils durch eine ſeltſame diplomatiſche Verwicklung ganz in das Hintertreffen gedrängt und von den entſcheidenden Verhandlungen der Zollvereinspolitik mehrere Jahre hindurch ausgeſchloſſen. —
Die leidenſchaftliche, uns heute faſt räthſelhafte Erbitterung dieſer bairiſch-badiſchen Händel ſpiegelte ſich wieder in einem ſeltſamen Abenteuer, das die Zeitgenoſſen viele Jahre hindurch lebhaft beſchäftigte. Zu Pfingſten 1828 kam ein junger Bauerburſch, angeblich Kaspar Hauſer benamſet, nach Nürnberg um bei den Chevauxlegers als Reiter einzutreten; der verwahrloſte Menſch war geimpft, konnte etwas leſen und ſchreiben, auch einfache Fragen in ſeinem oberpfälziſchen Dialekt nothdürftig beantworten, und trug die unter bairiſchen Bauersleuten üblichen katholiſchen Gebet- bücher bei ſich. Er überbrachte einen geheimnißvollen Brief, deſſen Hand- ſchrift ſeiner eigenen ſehr ähnlich ſah. Der dunkle Sinn dieſes Schreibens und das ſcheue, ſonderbare Weſen des Burſchen erregten die öffentliche Neugier; durch thörichte Fragen ward bald ein ungeheuerliches Märchen aus ihm herausgeforſcht: er wollte von Kindesbeinen an in einem finſteren unterirdiſchen Kerker gelegen, dann urplötzlich von ſeinem unſichtbaren Kerkermeiſter das Sprechen, Leſen und Schreiben gelernt haben. Der Bürgermeiſter Binder von Nürnberg verkündete alsdann in einer ſchwül- ſtigen, die gefühlsſelige Leſewelt zerknirſchenden Bekanntmachung, daß die Gemeinde den Findling „als ein ihr von der Vorſehung anvertrautes Pfand der Liebe betrachte“, und übergab ſeinem Schwiegerſohne Daumer, einem geiſtreichen, aber unerfahrenen und durchaus verſchrobenen Gelehrten, die Erziehung des Wunderkindes. Pädagogen, Aerzte und Criminaliſten, Ho- möopathen, Wunderthäter und Geiſterſeher, blaſirte Weltmänner, Wiß- begierige aller Stände eilten herbei um dieſen Thiermenſchen, der in Allem von den gemeinen Sterblichen abweichen ſollte, zu ergründen, jedes Organ ſeines Leibes und ſeiner Seele verwegenen Experimenten zu unterwerfen.
Eine ganze Literatur von Aufſätzen und Flugſchriften beſchäftigte ſich mit dem „Kinde von Europa“. Alle Schwächen einer thatenarmen und doch nach Thaten dürſtenden Zeit, der romantiſche Wunderglaube, die nervöſe Reizbarkeit, der überkluge Scharfſinn, die Luſt am Skandal und der radicale Haß gegen die vornehme Welt fanden hier ihre Rechnung.
*) Note des württemb. Geſandten Frhr. v. Linden an Bernſtorff, 20. April 1832.
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Abbruch der Verhandlungen mit Baden.
einiger Zeit in ſchnöden Worten erklären, daß er mit dem unbelehrbaren
badiſchen Hofe nichts mehr zu ſchaffen haben wolle. *) In Berlin urtheilte
man milder, doch die erneuten Verhandlungen blieben fruchtlos. Der
königliche Dichter in München hinterließ die imaginären Sponheimer An-
ſprüche ſeinen Nachfolgern als ein heiliges Vermächtniß, unterthänigen
Hiſtorikern als einen köſtlichen Stoff für bajuvariſche Großſprechereien.
Alſo ward Baden, früherhin immer ein wackerer Vorkämpfer der deutſchen
Handelseinheit, theils durch die Thorheit ſeiner Kammern theils durch
eine ſeltſame diplomatiſche Verwicklung ganz in das Hintertreffen gedrängt
und von den entſcheidenden Verhandlungen der Zollvereinspolitik mehrere
Jahre hindurch ausgeſchloſſen. —
Die leidenſchaftliche, uns heute faſt räthſelhafte Erbitterung dieſer
bairiſch-badiſchen Händel ſpiegelte ſich wieder in einem ſeltſamen Abenteuer,
das die Zeitgenoſſen viele Jahre hindurch lebhaft beſchäftigte. Zu Pfingſten
1828 kam ein junger Bauerburſch, angeblich Kaspar Hauſer benamſet,
nach Nürnberg um bei den Chevauxlegers als Reiter einzutreten; der
verwahrloſte Menſch war geimpft, konnte etwas leſen und ſchreiben, auch
einfache Fragen in ſeinem oberpfälziſchen Dialekt nothdürftig beantworten,
und trug die unter bairiſchen Bauersleuten üblichen katholiſchen Gebet-
bücher bei ſich. Er überbrachte einen geheimnißvollen Brief, deſſen Hand-
ſchrift ſeiner eigenen ſehr ähnlich ſah. Der dunkle Sinn dieſes Schreibens
und das ſcheue, ſonderbare Weſen des Burſchen erregten die öffentliche
Neugier; durch thörichte Fragen ward bald ein ungeheuerliches Märchen
aus ihm herausgeforſcht: er wollte von Kindesbeinen an in einem finſteren
unterirdiſchen Kerker gelegen, dann urplötzlich von ſeinem unſichtbaren
Kerkermeiſter das Sprechen, Leſen und Schreiben gelernt haben. Der
Bürgermeiſter Binder von Nürnberg verkündete alsdann in einer ſchwül-
ſtigen, die gefühlsſelige Leſewelt zerknirſchenden Bekanntmachung, daß die
Gemeinde den Findling „als ein ihr von der Vorſehung anvertrautes Pfand
der Liebe betrachte“, und übergab ſeinem Schwiegerſohne Daumer, einem
geiſtreichen, aber unerfahrenen und durchaus verſchrobenen Gelehrten, die
Erziehung des Wunderkindes. Pädagogen, Aerzte und Criminaliſten, Ho-
möopathen, Wunderthäter und Geiſterſeher, blaſirte Weltmänner, Wiß-
begierige aller Stände eilten herbei um dieſen Thiermenſchen, der in Allem
von den gemeinen Sterblichen abweichen ſollte, zu ergründen, jedes Organ
ſeines Leibes und ſeiner Seele verwegenen Experimenten zu unterwerfen.
Eine ganze Literatur von Aufſätzen und Flugſchriften beſchäftigte ſich
mit dem „Kinde von Europa“. Alle Schwächen einer thatenarmen und
doch nach Thaten dürſtenden Zeit, der romantiſche Wunderglaube, die
nervöſe Reizbarkeit, der überkluge Scharfſinn, die Luſt am Skandal und
der radicale Haß gegen die vornehme Welt fanden hier ihre Rechnung.
*) Note des württemb. Geſandten Frhr. v. Linden an Bernſtorff, 20. April 1832.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/375>, abgerufen am 24.11.2024.
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