Veränderungen seines Länderbestandes hat jedes große Volk von Zeit zu Zeit erlebt, aber nur den Deutschen beschied eine wechselreiche Ge- schichte, daß sich die Marken ihres Vaterlandes die Jahrhunderte hindurch fast unaufhörlich verschoben und Niemand zu sagen wußte, welchen Ge- bieten eigentlich der große Name Deutschland gebühre. Derweil das alte Reich seine wälschen Vorlande im Süden und Westen verlor, Oesterreich, die Schweiz, die Niederlande ihrem Sonderleben überließ, erwuchs ihm ein köstlicher Ersatz in den Kolonien jenseits der Elbe, und aus diesen Landen des Nordostens, die zum guten Theile dem Reichsverbande nicht angehörten, erhoben sich die staatenbildenden Kräfte unserer neuen Ge- schichte. Auch der Deutsche Bund war gleich dem heiligen Reiche noch ein unfertiges politisches Gebilde ohne feste Grenzen, halb weltbürgerlich, halb national, zugleich zu weit und zu eng, mit Oesterreich und noch drei an- deren undeutschen Mächten wunderlich verkettet und doch den preußischen Staat nicht ganz umschließend. Erst durch den Zollverein begann sich's zu entscheiden, welche Theile der ewig beweglichen Ländermassen Mittel- europas fortan das politische Deutschland der neuen Geschichte bilden sollten. Er umfaßte, Oesterreich in weitem Bogen umklammernd, das deutsche Land vom Memelstrom bis zum Bodensee -- denn da die Küste immer dem Binnenlande gehört, so war der Zutritt der Staaten des hannoverschen Steuervereins nur noch eine Frage der Zeit -- nicht alle die Gebiete, auf denen einst der Ruhm des deutschen Namens geruht hatte, aber ihren edlen Kern, die fröhliche Heimath deutscher Kunst im Südwesten und die waffenstolzen Adlerlande des Nordens, herrliche Kräfte, die im treuen Verein dereinst eine neue Zeit vaterländischen Glanzes her- aufführen konnten. An den idealen Mächten der Sprache und Gesittung, des rechtsbildenden Gemeingeistes, der Hoffnungen und Erinnerungen hatte die Nation bisher das Bewußtsein ihrer Größe genährt; jetzt erlangte sie auch die Gemeinschaft des wirthschaftlichen Lebens, den natürlichen Unter- bau der politischen Einheit, der ihr immer gefehlt hatte. In denselben schicksalsschweren Januartagen des Jahres 1834, da der Wiener Hof den
Siebenter Abſchnitt. Das Junge Deutſchland.
Veränderungen ſeines Länderbeſtandes hat jedes große Volk von Zeit zu Zeit erlebt, aber nur den Deutſchen beſchied eine wechſelreiche Ge- ſchichte, daß ſich die Marken ihres Vaterlandes die Jahrhunderte hindurch faſt unaufhörlich verſchoben und Niemand zu ſagen wußte, welchen Ge- bieten eigentlich der große Name Deutſchland gebühre. Derweil das alte Reich ſeine wälſchen Vorlande im Süden und Weſten verlor, Oeſterreich, die Schweiz, die Niederlande ihrem Sonderleben überließ, erwuchs ihm ein köſtlicher Erſatz in den Kolonien jenſeits der Elbe, und aus dieſen Landen des Nordoſtens, die zum guten Theile dem Reichsverbande nicht angehörten, erhoben ſich die ſtaatenbildenden Kräfte unſerer neuen Ge- ſchichte. Auch der Deutſche Bund war gleich dem heiligen Reiche noch ein unfertiges politiſches Gebilde ohne feſte Grenzen, halb weltbürgerlich, halb national, zugleich zu weit und zu eng, mit Oeſterreich und noch drei an- deren undeutſchen Mächten wunderlich verkettet und doch den preußiſchen Staat nicht ganz umſchließend. Erſt durch den Zollverein begann ſich’s zu entſcheiden, welche Theile der ewig beweglichen Ländermaſſen Mittel- europas fortan das politiſche Deutſchland der neuen Geſchichte bilden ſollten. Er umfaßte, Oeſterreich in weitem Bogen umklammernd, das deutſche Land vom Memelſtrom bis zum Bodenſee — denn da die Küſte immer dem Binnenlande gehört, ſo war der Zutritt der Staaten des hannoverſchen Steuervereins nur noch eine Frage der Zeit — nicht alle die Gebiete, auf denen einſt der Ruhm des deutſchen Namens geruht hatte, aber ihren edlen Kern, die fröhliche Heimath deutſcher Kunſt im Südweſten und die waffenſtolzen Adlerlande des Nordens, herrliche Kräfte, die im treuen Verein dereinſt eine neue Zeit vaterländiſchen Glanzes her- aufführen konnten. An den idealen Mächten der Sprache und Geſittung, des rechtsbildenden Gemeingeiſtes, der Hoffnungen und Erinnerungen hatte die Nation bisher das Bewußtſein ihrer Größe genährt; jetzt erlangte ſie auch die Gemeinſchaft des wirthſchaftlichen Lebens, den natürlichen Unter- bau der politiſchen Einheit, der ihr immer gefehlt hatte. In denſelben ſchickſalsſchweren Januartagen des Jahres 1834, da der Wiener Hof den
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Siebenter Abſchnitt.
Das Junge Deutſchland.
Veränderungen ſeines Länderbeſtandes hat jedes große Volk von Zeit
zu Zeit erlebt, aber nur den Deutſchen beſchied eine wechſelreiche Ge-
ſchichte, daß ſich die Marken ihres Vaterlandes die Jahrhunderte hindurch
faſt unaufhörlich verſchoben und Niemand zu ſagen wußte, welchen Ge-
bieten eigentlich der große Name Deutſchland gebühre. Derweil das alte
Reich ſeine wälſchen Vorlande im Süden und Weſten verlor, Oeſterreich,
die Schweiz, die Niederlande ihrem Sonderleben überließ, erwuchs ihm
ein köſtlicher Erſatz in den Kolonien jenſeits der Elbe, und aus dieſen
Landen des Nordoſtens, die zum guten Theile dem Reichsverbande nicht
angehörten, erhoben ſich die ſtaatenbildenden Kräfte unſerer neuen Ge-
ſchichte. Auch der Deutſche Bund war gleich dem heiligen Reiche noch ein
unfertiges politiſches Gebilde ohne feſte Grenzen, halb weltbürgerlich, halb
national, zugleich zu weit und zu eng, mit Oeſterreich und noch drei an-
deren undeutſchen Mächten wunderlich verkettet und doch den preußiſchen
Staat nicht ganz umſchließend. Erſt durch den Zollverein begann ſich’s
zu entſcheiden, welche Theile der ewig beweglichen Ländermaſſen Mittel-
europas fortan das politiſche Deutſchland der neuen Geſchichte bilden
ſollten. Er umfaßte, Oeſterreich in weitem Bogen umklammernd, das
deutſche Land vom Memelſtrom bis zum Bodenſee — denn da die Küſte
immer dem Binnenlande gehört, ſo war der Zutritt der Staaten des
hannoverſchen Steuervereins nur noch eine Frage der Zeit — nicht alle
die Gebiete, auf denen einſt der Ruhm des deutſchen Namens geruht
hatte, aber ihren edlen Kern, die fröhliche Heimath deutſcher Kunſt im
Südweſten und die waffenſtolzen Adlerlande des Nordens, herrliche Kräfte,
die im treuen Verein dereinſt eine neue Zeit vaterländiſchen Glanzes her-
aufführen konnten. An den idealen Mächten der Sprache und Geſittung,
des rechtsbildenden Gemeingeiſtes, der Hoffnungen und Erinnerungen hatte
die Nation bisher das Bewußtſein ihrer Größe genährt; jetzt erlangte ſie
auch die Gemeinſchaft des wirthſchaftlichen Lebens, den natürlichen Unter-
bau der politiſchen Einheit, der ihr immer gefehlt hatte. In denſelben
ſchickſalsſchweren Januartagen des Jahres 1834, da der Wiener Hof den
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [407]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/421>, abgerufen am 24.11.2024.
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