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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Heine's Salon.
ganz steuerlos wie auf der hohen See der Politik. In den Kern der Sache
vermochte er freilich auch hier nicht einzudringen; was konnte ein Mann,
dem jede tiefe religiöse Empfindung fremd war, über die Religion sagen?
Er half sich nach Dilettantenbrauch durch eine starre Formel, indem er
den gesammten wechselreichen Ideenkampf der Geschichte auf den einfachen
Gegensatz von Sensualismus und Spiritualismus, Weltbejahung und
Weltverneinung zurückführte, das ganze Menschengeschlecht in fette Griechen
und dürre Nazarener eintheilte. Unter seinen Händen ward jetzt Alles
unrein. In den seltenen Augenblicken, da er noch ein Dichter war, ver-
suchte er "die religiöse Verklärung, die Rehabilitation der Materie" als
einen Cultus der Schönheit zu rechtfertigen; doch sobald er sich gehen ließ,
betete er nicht mehr zu den olympischen Göttern der Hellenen, sondern zu
der Astarte und dem goldenen Kalbe der Semiten. Zu geistreich und zu
weltklug um seinen ingrimmigen Christenhaß offen zu bekennen, verfiel er
aus einem Widerspruche in den andren; bald verglich er das Christenthum
mit einer ansteckenden Krankheit, bald nannte er es eine Wohlthat für die
leidende Menschheit. In Luther sah er nur den Helden des strengen
Spiritualismus -- in ihm, der doch grade die Weltbejahung auf dem
Boden des Christenthums erneuert, dem Staate, dem Hause, aller red-
lichen irdischen Arbeit ihre sittliche Berechtigung wiedergegeben hat. Ebenso
oberflächlich betrachtete er die deutsche Philosophie lediglich als eine Macht
der Zerstörung und Zersetzung; also konnte er leicht zu dem erwünschten
Schlusse gelangen, daß der Pantheismus die verborgene Religion unseres
Volkes sei, und die Deutschen demnächst, nach Vollendung ihrer Philo-
sophie, gleich den Franzosen "ihre Revolution ausarbeiten" würden. Die
sittliche Strenge der Pflichtenlehre Kant's verstand er ebenso wenig wie die
erhaltenden, aufbauenden Gedanken der Schelling-Hegel'schen Geschichts-
philosophie, und von dem stillen Wachsthum der kirchlichen Frömmigkeit,
das dem Uebermuthe des philosophischen Radicalismus als nothwendiger
Rückschlag folgte, ahnte er gar nichts. Wie leer, öde, langweilig erschien
doch diese neue Form des Unglaubens! Die alte Aufklärung glaubte noch
an den ewigen Fortschritt der Menschheit, sie hoffte noch auf einen Tag
des Lichtes; die moderne Lehre der Verklärung des Fleisches verhöhnte Alles
was Menschen menschlich an einander bindet, und schließlich blieb ihr nichts
mehr übrig als der souveräne Einzelmensch, der sich nach Belieben im Ge-
nusse ungezählter Grisetten und Trüffelpasteten ergehen konnte.

In seinen Kunstberichten besprach Heine die Ausstellungen des Pariser
"Salons" mit feinem Verständniß; er lenkte die Blicke der Deutschen zu-
erst auf die farbenfrohe Malerei der Franzosen, und manches der neuen
Gemälde begeisterte ihn zu schönen, hochpoetischen Schilderungen. Doch
überall drängte sich sein Ich anmaßend und gefallsüchtig vor; seine besten
Arbeiten verdarb er sich durch Zoten oder Lästerungen, durch politische
Kannegießerei oder unfläthige Ausfälle auf seine literarischen Gegner, die

Heine’s Salon.
ganz ſteuerlos wie auf der hohen See der Politik. In den Kern der Sache
vermochte er freilich auch hier nicht einzudringen; was konnte ein Mann,
dem jede tiefe religiöſe Empfindung fremd war, über die Religion ſagen?
Er half ſich nach Dilettantenbrauch durch eine ſtarre Formel, indem er
den geſammten wechſelreichen Ideenkampf der Geſchichte auf den einfachen
Gegenſatz von Senſualismus und Spiritualismus, Weltbejahung und
Weltverneinung zurückführte, das ganze Menſchengeſchlecht in fette Griechen
und dürre Nazarener eintheilte. Unter ſeinen Händen ward jetzt Alles
unrein. In den ſeltenen Augenblicken, da er noch ein Dichter war, ver-
ſuchte er „die religiöſe Verklärung, die Rehabilitation der Materie“ als
einen Cultus der Schönheit zu rechtfertigen; doch ſobald er ſich gehen ließ,
betete er nicht mehr zu den olympiſchen Göttern der Hellenen, ſondern zu
der Aſtarte und dem goldenen Kalbe der Semiten. Zu geiſtreich und zu
weltklug um ſeinen ingrimmigen Chriſtenhaß offen zu bekennen, verfiel er
aus einem Widerſpruche in den andren; bald verglich er das Chriſtenthum
mit einer anſteckenden Krankheit, bald nannte er es eine Wohlthat für die
leidende Menſchheit. In Luther ſah er nur den Helden des ſtrengen
Spiritualismus — in ihm, der doch grade die Weltbejahung auf dem
Boden des Chriſtenthums erneuert, dem Staate, dem Hauſe, aller red-
lichen irdiſchen Arbeit ihre ſittliche Berechtigung wiedergegeben hat. Ebenſo
oberflächlich betrachtete er die deutſche Philoſophie lediglich als eine Macht
der Zerſtörung und Zerſetzung; alſo konnte er leicht zu dem erwünſchten
Schluſſe gelangen, daß der Pantheismus die verborgene Religion unſeres
Volkes ſei, und die Deutſchen demnächſt, nach Vollendung ihrer Philo-
ſophie, gleich den Franzoſen „ihre Revolution ausarbeiten“ würden. Die
ſittliche Strenge der Pflichtenlehre Kant’s verſtand er ebenſo wenig wie die
erhaltenden, aufbauenden Gedanken der Schelling-Hegel’ſchen Geſchichts-
philoſophie, und von dem ſtillen Wachsthum der kirchlichen Frömmigkeit,
das dem Uebermuthe des philoſophiſchen Radicalismus als nothwendiger
Rückſchlag folgte, ahnte er gar nichts. Wie leer, öde, langweilig erſchien
doch dieſe neue Form des Unglaubens! Die alte Aufklärung glaubte noch
an den ewigen Fortſchritt der Menſchheit, ſie hoffte noch auf einen Tag
des Lichtes; die moderne Lehre der Verklärung des Fleiſches verhöhnte Alles
was Menſchen menſchlich an einander bindet, und ſchließlich blieb ihr nichts
mehr übrig als der ſouveräne Einzelmenſch, der ſich nach Belieben im Ge-
nuſſe ungezählter Griſetten und Trüffelpaſteten ergehen konnte.

In ſeinen Kunſtberichten beſprach Heine die Ausſtellungen des Pariſer
„Salons“ mit feinem Verſtändniß; er lenkte die Blicke der Deutſchen zu-
erſt auf die farbenfrohe Malerei der Franzoſen, und manches der neuen
Gemälde begeiſterte ihn zu ſchönen, hochpoetiſchen Schilderungen. Doch
überall drängte ſich ſein Ich anmaßend und gefallſüchtig vor; ſeine beſten
Arbeiten verdarb er ſich durch Zoten oder Läſterungen, durch politiſche
Kannegießerei oder unfläthige Ausfälle auf ſeine literariſchen Gegner, die

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[421/0435] Heine’s Salon. ganz ſteuerlos wie auf der hohen See der Politik. In den Kern der Sache vermochte er freilich auch hier nicht einzudringen; was konnte ein Mann, dem jede tiefe religiöſe Empfindung fremd war, über die Religion ſagen? Er half ſich nach Dilettantenbrauch durch eine ſtarre Formel, indem er den geſammten wechſelreichen Ideenkampf der Geſchichte auf den einfachen Gegenſatz von Senſualismus und Spiritualismus, Weltbejahung und Weltverneinung zurückführte, das ganze Menſchengeſchlecht in fette Griechen und dürre Nazarener eintheilte. Unter ſeinen Händen ward jetzt Alles unrein. In den ſeltenen Augenblicken, da er noch ein Dichter war, ver- ſuchte er „die religiöſe Verklärung, die Rehabilitation der Materie“ als einen Cultus der Schönheit zu rechtfertigen; doch ſobald er ſich gehen ließ, betete er nicht mehr zu den olympiſchen Göttern der Hellenen, ſondern zu der Aſtarte und dem goldenen Kalbe der Semiten. Zu geiſtreich und zu weltklug um ſeinen ingrimmigen Chriſtenhaß offen zu bekennen, verfiel er aus einem Widerſpruche in den andren; bald verglich er das Chriſtenthum mit einer anſteckenden Krankheit, bald nannte er es eine Wohlthat für die leidende Menſchheit. In Luther ſah er nur den Helden des ſtrengen Spiritualismus — in ihm, der doch grade die Weltbejahung auf dem Boden des Chriſtenthums erneuert, dem Staate, dem Hauſe, aller red- lichen irdiſchen Arbeit ihre ſittliche Berechtigung wiedergegeben hat. Ebenſo oberflächlich betrachtete er die deutſche Philoſophie lediglich als eine Macht der Zerſtörung und Zerſetzung; alſo konnte er leicht zu dem erwünſchten Schluſſe gelangen, daß der Pantheismus die verborgene Religion unſeres Volkes ſei, und die Deutſchen demnächſt, nach Vollendung ihrer Philo- ſophie, gleich den Franzoſen „ihre Revolution ausarbeiten“ würden. Die ſittliche Strenge der Pflichtenlehre Kant’s verſtand er ebenſo wenig wie die erhaltenden, aufbauenden Gedanken der Schelling-Hegel’ſchen Geſchichts- philoſophie, und von dem ſtillen Wachsthum der kirchlichen Frömmigkeit, das dem Uebermuthe des philoſophiſchen Radicalismus als nothwendiger Rückſchlag folgte, ahnte er gar nichts. Wie leer, öde, langweilig erſchien doch dieſe neue Form des Unglaubens! Die alte Aufklärung glaubte noch an den ewigen Fortſchritt der Menſchheit, ſie hoffte noch auf einen Tag des Lichtes; die moderne Lehre der Verklärung des Fleiſches verhöhnte Alles was Menſchen menſchlich an einander bindet, und ſchließlich blieb ihr nichts mehr übrig als der ſouveräne Einzelmenſch, der ſich nach Belieben im Ge- nuſſe ungezählter Griſetten und Trüffelpaſteten ergehen konnte. In ſeinen Kunſtberichten beſprach Heine die Ausſtellungen des Pariſer „Salons“ mit feinem Verſtändniß; er lenkte die Blicke der Deutſchen zu- erſt auf die farbenfrohe Malerei der Franzoſen, und manches der neuen Gemälde begeiſterte ihn zu ſchönen, hochpoetiſchen Schilderungen. Doch überall drängte ſich ſein Ich anmaßend und gefallſüchtig vor; ſeine beſten Arbeiten verdarb er ſich durch Zoten oder Läſterungen, durch politiſche Kannegießerei oder unfläthige Ausfälle auf ſeine literariſchen Gegner, die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/435>, abgerufen am 24.11.2024.