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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
er mit der ganzen Unersättlichkeit jüdischen Hasses bis über das Grab
hinaus verfolgte. Eben jetzt befand sich die französische Literatur in trüber
Gährung, auf die kurze schöne Blüthezeit der Restauration folgte ein jäher
Verfall. Der Kampf des Tages riß alle guten Köpfe in seine Strudel;
zu reinem künstlerischen Schaffen vermochte in der allgemeinen Hast fast
Niemand mehr sich zu sammeln, unter unzähligen lärmenden Mittel-
mäßigkeiten brachte die neue Zeit nur einen einzigen starken Dichtergeist
hervor, die George Sand. Die classische Formenschönheit des Zeitalters
Ludwig's XIV. wurzelte sehr tief in den Gefühlen und Ueberlieferungen
der Nation; darum führte der Kampf wider die akademischen Regeln hier
nicht, wie vormals in Deutschland, zu einem neuen freieren Idealismus,
sondern zur Auflösung aller Kunstformen, zur Zersetzung aller Ideale.
Die französische Romantik ging in einem wüsten socialen Radicalismus zu
Grunde. Sinnlich, unklar, weichlich, setzte sie das Obscöne und Gräßliche
an die Stelle der Leidenschaft, sie bekämpfte den Staat, die Gesellschaft,
die Ehe, sie wühlte in Blut und Koth, sie schwelgte bald in begehrlichen
Träumen bald in dem Weltschmerz der Uebersättigung und vermochte
gleichwohl nichts Neues zu schaffen. Nur im Widerspruche gegen die be-
stehende Ordnung fand sich die Willkür dieses zügellosen Subjectivismus
zusammen; seit Beranger und Chateaubriand ihre neue Freundschaft
schlossen, gehörten die literarischen Talente fortan allesammt der Opposition.

Ohne Widerstand überließ sich Heine's empfänglicher, unselbständiger
Geist allen den verworrenen Gedanken, welche dieser fieberisch erregten,
und doch altersschwachen, epigonenhaften Literatur entströmten. Begierig
schlürfte er den Schaum von jedem Pariser Feuertranke; sogar die socia-
listischen Hirngespinnste des Vaters Enfantin begeisterten ihn eine Zeit
lang, bis ihn der ästhetische Widerwille des Dichters und des Weltkindes
von dem "ganz communen, feigenblattlosen Communismus" wieder abzog.
Von dauernden Ergebnissen ließ diese zerfahrene Schriftstellerei nichts zu-
rück als einige schöne Lieder und eine Masse theils guter, theils gemeiner
Witze; jedoch ihre augenblickliche Wirksamkeit war ungeheuer. Heine wurde,
die Franzosen selbst überflügelnd, der Meister des europäischen Feuilleton-
stils, der Bannerträger jener journalistischen Frechheit, die alle Höhen und
Tiefen des Menschenlebens mit einigen flüchtigen Einfällen abthat. Seine
internationalen Stammgenossen, die überall schon, vorerst noch vorsichtig
in zweiter Reihe, ihre Zeitungsgeschäfte aufschlugen, verherrlichten ihn
darum über alles Maß hinaus. Man nannte ihn den anderen Aristo-
phanes, den ungezogenen Liebling der Grazien, und vergaß nur den hand-
greiflichen Unterschied, daß die aristophanische Ausgelassenheit der Ueber-
kraft eines schöpferischen Genius entsprang, die Ungezogenheit Heine's dem
künstlerischen Unvermögen eines kleineren Geistes, der nichts Mächtiges
schaffen konnte und sich durch spöttischen Uebermuth selber trösten mußte.

Seine verlassenen Landsleute bethörte Heine durch jenen Zauber des

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
er mit der ganzen Unerſättlichkeit jüdiſchen Haſſes bis über das Grab
hinaus verfolgte. Eben jetzt befand ſich die franzöſiſche Literatur in trüber
Gährung, auf die kurze ſchöne Blüthezeit der Reſtauration folgte ein jäher
Verfall. Der Kampf des Tages riß alle guten Köpfe in ſeine Strudel;
zu reinem künſtleriſchen Schaffen vermochte in der allgemeinen Haſt faſt
Niemand mehr ſich zu ſammeln, unter unzähligen lärmenden Mittel-
mäßigkeiten brachte die neue Zeit nur einen einzigen ſtarken Dichtergeiſt
hervor, die George Sand. Die claſſiſche Formenſchönheit des Zeitalters
Ludwig’s XIV. wurzelte ſehr tief in den Gefühlen und Ueberlieferungen
der Nation; darum führte der Kampf wider die akademiſchen Regeln hier
nicht, wie vormals in Deutſchland, zu einem neuen freieren Idealismus,
ſondern zur Auflöſung aller Kunſtformen, zur Zerſetzung aller Ideale.
Die franzöſiſche Romantik ging in einem wüſten ſocialen Radicalismus zu
Grunde. Sinnlich, unklar, weichlich, ſetzte ſie das Obſcöne und Gräßliche
an die Stelle der Leidenſchaft, ſie bekämpfte den Staat, die Geſellſchaft,
die Ehe, ſie wühlte in Blut und Koth, ſie ſchwelgte bald in begehrlichen
Träumen bald in dem Weltſchmerz der Ueberſättigung und vermochte
gleichwohl nichts Neues zu ſchaffen. Nur im Widerſpruche gegen die be-
ſtehende Ordnung fand ſich die Willkür dieſes zügelloſen Subjectivismus
zuſammen; ſeit Beranger und Chateaubriand ihre neue Freundſchaft
ſchloſſen, gehörten die literariſchen Talente fortan alleſammt der Oppoſition.

Ohne Widerſtand überließ ſich Heine’s empfänglicher, unſelbſtändiger
Geiſt allen den verworrenen Gedanken, welche dieſer fieberiſch erregten,
und doch altersſchwachen, epigonenhaften Literatur entſtrömten. Begierig
ſchlürfte er den Schaum von jedem Pariſer Feuertranke; ſogar die ſocia-
liſtiſchen Hirngeſpinnſte des Vaters Enfantin begeiſterten ihn eine Zeit
lang, bis ihn der äſthetiſche Widerwille des Dichters und des Weltkindes
von dem „ganz communen, feigenblattloſen Communismus“ wieder abzog.
Von dauernden Ergebniſſen ließ dieſe zerfahrene Schriftſtellerei nichts zu-
rück als einige ſchöne Lieder und eine Maſſe theils guter, theils gemeiner
Witze; jedoch ihre augenblickliche Wirkſamkeit war ungeheuer. Heine wurde,
die Franzoſen ſelbſt überflügelnd, der Meiſter des europäiſchen Feuilleton-
ſtils, der Bannerträger jener journaliſtiſchen Frechheit, die alle Höhen und
Tiefen des Menſchenlebens mit einigen flüchtigen Einfällen abthat. Seine
internationalen Stammgenoſſen, die überall ſchon, vorerſt noch vorſichtig
in zweiter Reihe, ihre Zeitungsgeſchäfte aufſchlugen, verherrlichten ihn
darum über alles Maß hinaus. Man nannte ihn den anderen Ariſto-
phanes, den ungezogenen Liebling der Grazien, und vergaß nur den hand-
greiflichen Unterſchied, daß die ariſtophaniſche Ausgelaſſenheit der Ueber-
kraft eines ſchöpferiſchen Genius entſprang, die Ungezogenheit Heine’s dem
künſtleriſchen Unvermögen eines kleineren Geiſtes, der nichts Mächtiges
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Seine verlaſſenen Landsleute bethörte Heine durch jenen Zauber des

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[422/0436] IV. 7. Das Junge Deutſchland. er mit der ganzen Unerſättlichkeit jüdiſchen Haſſes bis über das Grab hinaus verfolgte. Eben jetzt befand ſich die franzöſiſche Literatur in trüber Gährung, auf die kurze ſchöne Blüthezeit der Reſtauration folgte ein jäher Verfall. Der Kampf des Tages riß alle guten Köpfe in ſeine Strudel; zu reinem künſtleriſchen Schaffen vermochte in der allgemeinen Haſt faſt Niemand mehr ſich zu ſammeln, unter unzähligen lärmenden Mittel- mäßigkeiten brachte die neue Zeit nur einen einzigen ſtarken Dichtergeiſt hervor, die George Sand. Die claſſiſche Formenſchönheit des Zeitalters Ludwig’s XIV. wurzelte ſehr tief in den Gefühlen und Ueberlieferungen der Nation; darum führte der Kampf wider die akademiſchen Regeln hier nicht, wie vormals in Deutſchland, zu einem neuen freieren Idealismus, ſondern zur Auflöſung aller Kunſtformen, zur Zerſetzung aller Ideale. Die franzöſiſche Romantik ging in einem wüſten ſocialen Radicalismus zu Grunde. Sinnlich, unklar, weichlich, ſetzte ſie das Obſcöne und Gräßliche an die Stelle der Leidenſchaft, ſie bekämpfte den Staat, die Geſellſchaft, die Ehe, ſie wühlte in Blut und Koth, ſie ſchwelgte bald in begehrlichen Träumen bald in dem Weltſchmerz der Ueberſättigung und vermochte gleichwohl nichts Neues zu ſchaffen. Nur im Widerſpruche gegen die be- ſtehende Ordnung fand ſich die Willkür dieſes zügelloſen Subjectivismus zuſammen; ſeit Beranger und Chateaubriand ihre neue Freundſchaft ſchloſſen, gehörten die literariſchen Talente fortan alleſammt der Oppoſition. Ohne Widerſtand überließ ſich Heine’s empfänglicher, unſelbſtändiger Geiſt allen den verworrenen Gedanken, welche dieſer fieberiſch erregten, und doch altersſchwachen, epigonenhaften Literatur entſtrömten. Begierig ſchlürfte er den Schaum von jedem Pariſer Feuertranke; ſogar die ſocia- liſtiſchen Hirngeſpinnſte des Vaters Enfantin begeiſterten ihn eine Zeit lang, bis ihn der äſthetiſche Widerwille des Dichters und des Weltkindes von dem „ganz communen, feigenblattloſen Communismus“ wieder abzog. Von dauernden Ergebniſſen ließ dieſe zerfahrene Schriftſtellerei nichts zu- rück als einige ſchöne Lieder und eine Maſſe theils guter, theils gemeiner Witze; jedoch ihre augenblickliche Wirkſamkeit war ungeheuer. Heine wurde, die Franzoſen ſelbſt überflügelnd, der Meiſter des europäiſchen Feuilleton- ſtils, der Bannerträger jener journaliſtiſchen Frechheit, die alle Höhen und Tiefen des Menſchenlebens mit einigen flüchtigen Einfällen abthat. Seine internationalen Stammgenoſſen, die überall ſchon, vorerſt noch vorſichtig in zweiter Reihe, ihre Zeitungsgeſchäfte aufſchlugen, verherrlichten ihn darum über alles Maß hinaus. Man nannte ihn den anderen Ariſto- phanes, den ungezogenen Liebling der Grazien, und vergaß nur den hand- greiflichen Unterſchied, daß die ariſtophaniſche Ausgelaſſenheit der Ueber- kraft eines ſchöpferiſchen Genius entſprang, die Ungezogenheit Heine’s dem künſtleriſchen Unvermögen eines kleineren Geiſtes, der nichts Mächtiges ſchaffen konnte und ſich durch ſpöttiſchen Uebermuth ſelber tröſten mußte. Seine verlaſſenen Landsleute bethörte Heine durch jenen Zauber des

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/436>, abgerufen am 24.11.2024.