Bis zu diesem blöden Hasse, der dem Fanatismus Eschenmayer's nichts nachgab, war der geistreiche Mann in fünf Jahren harter Kämpfe herabgesunken; nannten seine Feinde ihn einen Ischariot, so schimpfte er sie Idioten. Aus der Fülle seiner Belesenheit suchte er zu erweisen, daß im Grunde alle großen modernen Denker dieselbe Meinung über das Christenthum gehegt hätten, und wollte der Beweis gar nicht glücken, so verschmähte er auch schlechte Sophistenkünste nicht. Wenn Lessing gesagt hatte: trotz aller Zweifel des Verstandes bleibe doch "die Reli- gion unverrückt in den Herzen derjenigen Christen, welche ein inneres Gefühl von dem Wahrhaften derselben erlangt hätten" -- eines jener herrlichen, ursprünglichen Worte, aus denen sich abnehmen läßt, wie hoch Lessing über der gemeinen Aufklärung seiner Tage stand -- so meinte Strauß kurzab, das sei nicht ernst gemeint, sondern lediglich ein dialek- tischer Fechterstreich. Nachdem er also haarklein bewiesen hatte, daß es mit dem Christenthum nichts sei, hielt er sich zwanzig Jahre lang von allen theologischen Arbeiten fern. In diesem negirenden Kritiker lag gar nichts von der gestaltenden Kraft, von dem sittlichen Ernste des Refor- mators, der sein Herzblut dahingiebt, bis er der widerstrebenden Welt seine Gedanken aufgezwungen hat; er warf die Feder aus der Hand, sobald er gefunden zu haben glaubte, daß die Geschichte von achtzehn reichen Jahr- hunderten nichts als ein großer Irrthum gewesen sei.
Die Einwirkung dieser Schriften auf die Zeitgenossen war zwei- schneidig, zugleich wohlthätig und tief verderblich. Strauß erweckte die Theologie aus einer falschen Ruheseligkeit, er machte die natürlichen Wun- dererklärungen und die künstelnde Harmonistik für immer unmöglich. Sein Tübinger Lehrer Ferdinand Christian Baur, ein minder glänzender, aber ungleich stärkerer und tieferer Geist, der trotz seiner wissenschaftlichen Kühnheit an der ewigen Wahrheit des Christenthums nie verzweifelte, wurde durch das Auftreten des Schülers veranlaßt, die historischen Unter- suchungen über die Anfänge des Christenthums, an denen er seit Jahren gearbeitet, weiter zu führen. Baur gab endlich, was bisher noch ganz ge- fehlt hatte, eine Kritik der Evangelien selber und gelangte zu dem Ergebnisse, das ursprüngliche Judenchristenthum sei erst durch den Apostel Paulus zu einer Weltreligion geworden. Mehrere tüchtige junge Gelehrte, Zeller, Schwegler, Köstlin schlossen sich ihm an. Diese neue Tübinger Schule bereitete durch ernste scharfsinnige Forschungen erst den wissenschaftlichen Boden für eine historische Darstellung der ersten christlichen Zeiten, ob- wohl sie für die Macht der historischen Persönlichkeit auch nur wenig Ver- ständniß zeigte, und viele ihrer Behauptungen heute schon längst wider- legt sind.
Die Pietisten dagegen und die Orthodoxen, überhaupt Alle, denen die Offenbarung oder die theologische Standesehre am Herzen lag, mußten durch Straußens Angriff auf die christlichen Idioten erbittert werden; sie sahen
Die Tübinger Schule.
Bis zu dieſem blöden Haſſe, der dem Fanatismus Eſchenmayer’s nichts nachgab, war der geiſtreiche Mann in fünf Jahren harter Kämpfe herabgeſunken; nannten ſeine Feinde ihn einen Iſchariot, ſo ſchimpfte er ſie Idioten. Aus der Fülle ſeiner Beleſenheit ſuchte er zu erweiſen, daß im Grunde alle großen modernen Denker dieſelbe Meinung über das Chriſtenthum gehegt hätten, und wollte der Beweis gar nicht glücken, ſo verſchmähte er auch ſchlechte Sophiſtenkünſte nicht. Wenn Leſſing geſagt hatte: trotz aller Zweifel des Verſtandes bleibe doch „die Reli- gion unverrückt in den Herzen derjenigen Chriſten, welche ein inneres Gefühl von dem Wahrhaften derſelben erlangt hätten“ — eines jener herrlichen, urſprünglichen Worte, aus denen ſich abnehmen läßt, wie hoch Leſſing über der gemeinen Aufklärung ſeiner Tage ſtand — ſo meinte Strauß kurzab, das ſei nicht ernſt gemeint, ſondern lediglich ein dialek- tiſcher Fechterſtreich. Nachdem er alſo haarklein bewieſen hatte, daß es mit dem Chriſtenthum nichts ſei, hielt er ſich zwanzig Jahre lang von allen theologiſchen Arbeiten fern. In dieſem negirenden Kritiker lag gar nichts von der geſtaltenden Kraft, von dem ſittlichen Ernſte des Refor- mators, der ſein Herzblut dahingiebt, bis er der widerſtrebenden Welt ſeine Gedanken aufgezwungen hat; er warf die Feder aus der Hand, ſobald er gefunden zu haben glaubte, daß die Geſchichte von achtzehn reichen Jahr- hunderten nichts als ein großer Irrthum geweſen ſei.
Die Einwirkung dieſer Schriften auf die Zeitgenoſſen war zwei- ſchneidig, zugleich wohlthätig und tief verderblich. Strauß erweckte die Theologie aus einer falſchen Ruheſeligkeit, er machte die natürlichen Wun- dererklärungen und die künſtelnde Harmoniſtik für immer unmöglich. Sein Tübinger Lehrer Ferdinand Chriſtian Baur, ein minder glänzender, aber ungleich ſtärkerer und tieferer Geiſt, der trotz ſeiner wiſſenſchaftlichen Kühnheit an der ewigen Wahrheit des Chriſtenthums nie verzweifelte, wurde durch das Auftreten des Schülers veranlaßt, die hiſtoriſchen Unter- ſuchungen über die Anfänge des Chriſtenthums, an denen er ſeit Jahren gearbeitet, weiter zu führen. Baur gab endlich, was bisher noch ganz ge- fehlt hatte, eine Kritik der Evangelien ſelber und gelangte zu dem Ergebniſſe, das urſprüngliche Judenchriſtenthum ſei erſt durch den Apoſtel Paulus zu einer Weltreligion geworden. Mehrere tüchtige junge Gelehrte, Zeller, Schwegler, Köſtlin ſchloſſen ſich ihm an. Dieſe neue Tübinger Schule bereitete durch ernſte ſcharfſinnige Forſchungen erſt den wiſſenſchaftlichen Boden für eine hiſtoriſche Darſtellung der erſten chriſtlichen Zeiten, ob- wohl ſie für die Macht der hiſtoriſchen Perſönlichkeit auch nur wenig Ver- ſtändniß zeigte, und viele ihrer Behauptungen heute ſchon längſt wider- legt ſind.
Die Pietiſten dagegen und die Orthodoxen, überhaupt Alle, denen die Offenbarung oder die theologiſche Standesehre am Herzen lag, mußten durch Straußens Angriff auf die chriſtlichen Idioten erbittert werden; ſie ſahen
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Die Tübinger Schule.
Bis zu dieſem blöden Haſſe, der dem Fanatismus Eſchenmayer’s
nichts nachgab, war der geiſtreiche Mann in fünf Jahren harter Kämpfe
herabgeſunken; nannten ſeine Feinde ihn einen Iſchariot, ſo ſchimpfte
er ſie Idioten. Aus der Fülle ſeiner Beleſenheit ſuchte er zu erweiſen,
daß im Grunde alle großen modernen Denker dieſelbe Meinung über
das Chriſtenthum gehegt hätten, und wollte der Beweis gar nicht glücken,
ſo verſchmähte er auch ſchlechte Sophiſtenkünſte nicht. Wenn Leſſing
geſagt hatte: trotz aller Zweifel des Verſtandes bleibe doch „die Reli-
gion unverrückt in den Herzen derjenigen Chriſten, welche ein inneres
Gefühl von dem Wahrhaften derſelben erlangt hätten“ — eines jener
herrlichen, urſprünglichen Worte, aus denen ſich abnehmen läßt, wie hoch
Leſſing über der gemeinen Aufklärung ſeiner Tage ſtand — ſo meinte
Strauß kurzab, das ſei nicht ernſt gemeint, ſondern lediglich ein dialek-
tiſcher Fechterſtreich. Nachdem er alſo haarklein bewieſen hatte, daß es
mit dem Chriſtenthum nichts ſei, hielt er ſich zwanzig Jahre lang von
allen theologiſchen Arbeiten fern. In dieſem negirenden Kritiker lag gar
nichts von der geſtaltenden Kraft, von dem ſittlichen Ernſte des Refor-
mators, der ſein Herzblut dahingiebt, bis er der widerſtrebenden Welt ſeine
Gedanken aufgezwungen hat; er warf die Feder aus der Hand, ſobald er
gefunden zu haben glaubte, daß die Geſchichte von achtzehn reichen Jahr-
hunderten nichts als ein großer Irrthum geweſen ſei.
Die Einwirkung dieſer Schriften auf die Zeitgenoſſen war zwei-
ſchneidig, zugleich wohlthätig und tief verderblich. Strauß erweckte die
Theologie aus einer falſchen Ruheſeligkeit, er machte die natürlichen Wun-
dererklärungen und die künſtelnde Harmoniſtik für immer unmöglich. Sein
Tübinger Lehrer Ferdinand Chriſtian Baur, ein minder glänzender, aber
ungleich ſtärkerer und tieferer Geiſt, der trotz ſeiner wiſſenſchaftlichen
Kühnheit an der ewigen Wahrheit des Chriſtenthums nie verzweifelte,
wurde durch das Auftreten des Schülers veranlaßt, die hiſtoriſchen Unter-
ſuchungen über die Anfänge des Chriſtenthums, an denen er ſeit Jahren
gearbeitet, weiter zu führen. Baur gab endlich, was bisher noch ganz ge-
fehlt hatte, eine Kritik der Evangelien ſelber und gelangte zu dem Ergebniſſe,
das urſprüngliche Judenchriſtenthum ſei erſt durch den Apoſtel Paulus zu
einer Weltreligion geworden. Mehrere tüchtige junge Gelehrte, Zeller,
Schwegler, Köſtlin ſchloſſen ſich ihm an. Dieſe neue Tübinger Schule
bereitete durch ernſte ſcharfſinnige Forſchungen erſt den wiſſenſchaftlichen
Boden für eine hiſtoriſche Darſtellung der erſten chriſtlichen Zeiten, ob-
wohl ſie für die Macht der hiſtoriſchen Perſönlichkeit auch nur wenig Ver-
ſtändniß zeigte, und viele ihrer Behauptungen heute ſchon längſt wider-
legt ſind.
Die Pietiſten dagegen und die Orthodoxen, überhaupt Alle, denen die
Offenbarung oder die theologiſche Standesehre am Herzen lag, mußten durch
Straußens Angriff auf die chriſtlichen Idioten erbittert werden; ſie ſahen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/507>, abgerufen am 24.11.2024.
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