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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
ihre Erinnerungsfeste hielten. Im Gürzenich zu Köln waren ihrer drei-
hundert versammelt, General Pfuel commandirte den Aufmarsch, Immer-
mann feierte in einem schwungvollen Festgedichte die silberne Hochzeit des
Volkes in Waffen: "Borussia blieb frisch und schön, und unser Muth
blieb auch bestehn." Als darauf der alte Arndt, feierlich eingeladen, im
Saale erschien, da drängten sich die Generale und die hohen Beamten
mit warmen Grüßen zu dem bescholtenen Demagogen. Gleichwohl blieb
auch dies volksthümlichste aller Heere von der Schlaffheit der langen
Friedenszeit nicht unberührt. Geborene Helden wie Hauptmann Moltke
und Leutnant Göben vermochten das mechanische Einerlei des Garnison-
dienstes auf die Dauer nicht zu ertragen und suchten sich im Auslande
ein Ziel für ihren Thatendrang. Gemeine Naturen verführte die ewige
Langeweile zu Verirrungen, selbst zu Verbrechen. Im Jahre 1837 wurde
der Fähnrich v. Arnstedt vom Leib-Regimente, der seinen Vorgesetzten
ermordet hatte, zu Frankfurt a. O. mit dem Beile hingerichtet, und die
strenge, durchaus gerechte Strafe erregte in der vornehmen Frauenwelt
viel schwächliches Mitleid. Ernste Männer aber fühlten, daß sich in
solchen Freveln nur das allgemeine Leiden der müden Zeit verrieth: die
unbändige Jugend wußte in dem eintönigen Leben gar nichts mehr mit
sich anzufangen.

Den denkenden, älteren Offizieren hingegen brachten diese stillen Jahre
ein unschätzbares Geschenk, das nachgelassene Buch des Generals Clause-
witz "Vom Kriege". Es war das theoretische Vermächtniß der Befreiungs-
kriege, das Meisterwerk der Militärwissenschaft des Jahrhunderts. Jene
politische Auffassung des Krieges, welche Napoleon, Scharnhorst, Gneisenau
einst durch Thaten bewährt hatten, wurde hier mit durchsichtiger Klarheit
wissenschaftlich begründet: der Krieg ist die gewaltsame Form der Politik,
das Mittel um dem Feinde unseren politischen Willen aufzuzwingen, sein
nächster Zweck also die Vernichtung der feindlichen Streitmacht. Aus
diesem Vordersatze ergab sich dann Schlag auf Schlag die Unhaltbarkeit
jener alten, bisher noch immer nicht ganz beseitigten Doctrinen, welche in
kunstvollen Manövern, in der Besetzung von Wasserscheiden und Gebirgs-
kämmen, in der Benutzung der inneren Operationslinien die Aufgabe des
Feldherrn suchten. Dann und wann schien Clausewitz selbst noch in diese
Anschauungen einer überwundenen Vergangenheit zurückzufallen und die
Vertheidigung als die sicherere Form des Kampfes zu überschätzen; schließlich
kam er doch immer wieder auf den Satz zurück, daß der positive Zweck
des Krieges sich nur durch den Angriff erreichen lasse. Einen von vorn-
herein gefaßten, streng festgehaltenen Kriegsplan erklärte er für unmöglich,
weil dem Feldherrn stets der lebendige Wille des Feindes gegenüberstehe;
jeder Corpsführer müsse vielmehr entschlossen sein, auf eigene Gefahr den
Feind aufzusuchen, dem Donner der Kanonen entgegenzuziehen. Das
schöne Capitel über den Kriegsplan und "die absolute Gestalt des Krie-

IV. 8. Stille Jahre.
ihre Erinnerungsfeſte hielten. Im Gürzenich zu Köln waren ihrer drei-
hundert verſammelt, General Pfuel commandirte den Aufmarſch, Immer-
mann feierte in einem ſchwungvollen Feſtgedichte die ſilberne Hochzeit des
Volkes in Waffen: „Boruſſia blieb friſch und ſchön, und unſer Muth
blieb auch beſtehn.“ Als darauf der alte Arndt, feierlich eingeladen, im
Saale erſchien, da drängten ſich die Generale und die hohen Beamten
mit warmen Grüßen zu dem beſcholtenen Demagogen. Gleichwohl blieb
auch dies volksthümlichſte aller Heere von der Schlaffheit der langen
Friedenszeit nicht unberührt. Geborene Helden wie Hauptmann Moltke
und Leutnant Göben vermochten das mechaniſche Einerlei des Garniſon-
dienſtes auf die Dauer nicht zu ertragen und ſuchten ſich im Auslande
ein Ziel für ihren Thatendrang. Gemeine Naturen verführte die ewige
Langeweile zu Verirrungen, ſelbſt zu Verbrechen. Im Jahre 1837 wurde
der Fähnrich v. Arnſtedt vom Leib-Regimente, der ſeinen Vorgeſetzten
ermordet hatte, zu Frankfurt a. O. mit dem Beile hingerichtet, und die
ſtrenge, durchaus gerechte Strafe erregte in der vornehmen Frauenwelt
viel ſchwächliches Mitleid. Ernſte Männer aber fühlten, daß ſich in
ſolchen Freveln nur das allgemeine Leiden der müden Zeit verrieth: die
unbändige Jugend wußte in dem eintönigen Leben gar nichts mehr mit
ſich anzufangen.

Den denkenden, älteren Offizieren hingegen brachten dieſe ſtillen Jahre
ein unſchätzbares Geſchenk, das nachgelaſſene Buch des Generals Clauſe-
witz „Vom Kriege“. Es war das theoretiſche Vermächtniß der Befreiungs-
kriege, das Meiſterwerk der Militärwiſſenſchaft des Jahrhunderts. Jene
politiſche Auffaſſung des Krieges, welche Napoleon, Scharnhorſt, Gneiſenau
einſt durch Thaten bewährt hatten, wurde hier mit durchſichtiger Klarheit
wiſſenſchaftlich begründet: der Krieg iſt die gewaltſame Form der Politik,
das Mittel um dem Feinde unſeren politiſchen Willen aufzuzwingen, ſein
nächſter Zweck alſo die Vernichtung der feindlichen Streitmacht. Aus
dieſem Vorderſatze ergab ſich dann Schlag auf Schlag die Unhaltbarkeit
jener alten, bisher noch immer nicht ganz beſeitigten Doctrinen, welche in
kunſtvollen Manövern, in der Beſetzung von Waſſerſcheiden und Gebirgs-
kämmen, in der Benutzung der inneren Operationslinien die Aufgabe des
Feldherrn ſuchten. Dann und wann ſchien Clauſewitz ſelbſt noch in dieſe
Anſchauungen einer überwundenen Vergangenheit zurückzufallen und die
Vertheidigung als die ſicherere Form des Kampfes zu überſchätzen; ſchließlich
kam er doch immer wieder auf den Satz zurück, daß der poſitive Zweck
des Krieges ſich nur durch den Angriff erreichen laſſe. Einen von vorn-
herein gefaßten, ſtreng feſtgehaltenen Kriegsplan erklärte er für unmöglich,
weil dem Feldherrn ſtets der lebendige Wille des Feindes gegenüberſtehe;
jeder Corpsführer müſſe vielmehr entſchloſſen ſein, auf eigene Gefahr den
Feind aufzuſuchen, dem Donner der Kanonen entgegenzuziehen. Das
ſchöne Capitel über den Kriegsplan und „die abſolute Geſtalt des Krie-

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[548/0562] IV. 8. Stille Jahre. ihre Erinnerungsfeſte hielten. Im Gürzenich zu Köln waren ihrer drei- hundert verſammelt, General Pfuel commandirte den Aufmarſch, Immer- mann feierte in einem ſchwungvollen Feſtgedichte die ſilberne Hochzeit des Volkes in Waffen: „Boruſſia blieb friſch und ſchön, und unſer Muth blieb auch beſtehn.“ Als darauf der alte Arndt, feierlich eingeladen, im Saale erſchien, da drängten ſich die Generale und die hohen Beamten mit warmen Grüßen zu dem beſcholtenen Demagogen. Gleichwohl blieb auch dies volksthümlichſte aller Heere von der Schlaffheit der langen Friedenszeit nicht unberührt. Geborene Helden wie Hauptmann Moltke und Leutnant Göben vermochten das mechaniſche Einerlei des Garniſon- dienſtes auf die Dauer nicht zu ertragen und ſuchten ſich im Auslande ein Ziel für ihren Thatendrang. Gemeine Naturen verführte die ewige Langeweile zu Verirrungen, ſelbſt zu Verbrechen. Im Jahre 1837 wurde der Fähnrich v. Arnſtedt vom Leib-Regimente, der ſeinen Vorgeſetzten ermordet hatte, zu Frankfurt a. O. mit dem Beile hingerichtet, und die ſtrenge, durchaus gerechte Strafe erregte in der vornehmen Frauenwelt viel ſchwächliches Mitleid. Ernſte Männer aber fühlten, daß ſich in ſolchen Freveln nur das allgemeine Leiden der müden Zeit verrieth: die unbändige Jugend wußte in dem eintönigen Leben gar nichts mehr mit ſich anzufangen. Den denkenden, älteren Offizieren hingegen brachten dieſe ſtillen Jahre ein unſchätzbares Geſchenk, das nachgelaſſene Buch des Generals Clauſe- witz „Vom Kriege“. Es war das theoretiſche Vermächtniß der Befreiungs- kriege, das Meiſterwerk der Militärwiſſenſchaft des Jahrhunderts. Jene politiſche Auffaſſung des Krieges, welche Napoleon, Scharnhorſt, Gneiſenau einſt durch Thaten bewährt hatten, wurde hier mit durchſichtiger Klarheit wiſſenſchaftlich begründet: der Krieg iſt die gewaltſame Form der Politik, das Mittel um dem Feinde unſeren politiſchen Willen aufzuzwingen, ſein nächſter Zweck alſo die Vernichtung der feindlichen Streitmacht. Aus dieſem Vorderſatze ergab ſich dann Schlag auf Schlag die Unhaltbarkeit jener alten, bisher noch immer nicht ganz beſeitigten Doctrinen, welche in kunſtvollen Manövern, in der Beſetzung von Waſſerſcheiden und Gebirgs- kämmen, in der Benutzung der inneren Operationslinien die Aufgabe des Feldherrn ſuchten. Dann und wann ſchien Clauſewitz ſelbſt noch in dieſe Anſchauungen einer überwundenen Vergangenheit zurückzufallen und die Vertheidigung als die ſicherere Form des Kampfes zu überſchätzen; ſchließlich kam er doch immer wieder auf den Satz zurück, daß der poſitive Zweck des Krieges ſich nur durch den Angriff erreichen laſſe. Einen von vorn- herein gefaßten, ſtreng feſtgehaltenen Kriegsplan erklärte er für unmöglich, weil dem Feldherrn ſtets der lebendige Wille des Feindes gegenüberſtehe; jeder Corpsführer müſſe vielmehr entſchloſſen ſein, auf eigene Gefahr den Feind aufzuſuchen, dem Donner der Kanonen entgegenzuziehen. Das ſchöne Capitel über den Kriegsplan und „die abſolute Geſtalt des Krie-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/562>, abgerufen am 24.11.2024.