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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
waltung sich in den alten Provinzen hohes Ansehen erwarb und selbst die
verfallenen Patrimonialgerichte, soweit dies noch möglich war, in leidlichen
Stand brachte, rückte das große Werk der Gesetzrevision unter Kamptz's
Leitung nicht von der Stelle. An Eifer gebrach es weder dem schwer-
gelehrten Minister, noch der Commission ausgezeichneter Juristen, die mit
ihm zusammenarbeitete. Binnen acht Jahren wurden die Entwürfe für
das Strafgesetzbuch, die Proceßordnung, die Gerichtsverfassung und die
Anfänge des bürgerlichen Gesetzbuchs vorgelegt, dazu die ungeheure Samm-
lung der Provinzialrechte, ein erstaunliches Werk deutschen Gelehrten-
fleißes. Doch das Alles blieb nur Vorarbeit, Kamptz verstand nicht zur
rechten Zeit abzuschließen. Nur ein einziges, die Rechtspflege wahrhaft
förderndes Gesetz kam unter seiner Verwaltung zu Stande, und auch dies
nur auf die persönliche Mahnung des Königs. Der Berliner Rechtsan-
walt Marchand hatte in einer Flugschrift die unendliche Weitläufigkeit der
Bagatellprocesse geschildert und seine Arbeit dem Monarchen eingesendet.
Friedrich Wilhelm fühlte sich betroffen durch die überzeugende, gemeinver-
ständliche Darstellung, und befahl sofort Abhilfe. Im Jahre 1833 er-
schien die Verordnung über den summarischen Proceß, die für einfache
Rechtsstreitigkeiten ein abgekürztes mündliches Verfahren, wie es schon in
Posen bestand*), vorschrieb und also den Weg zeigte zur Reform des ge-
sammten Civilprocesses.

Sonst blieb die gewaltige Arbeit der Gesetzrevision unfruchtbar; und
in der rheinischen Justizverwaltung, die ihm übertragen war, stiftete Kamptz
nur Unfrieden. Den Rheinländern schien der harte Demagogenverfolger
von vornherein verdächtig. Bald brachte er auch den gesammten preußi-
schen Richterstand gegen sich auf, als der König einen Naumburger Ober-
landesgerichtsrath, der wegen eines thörichten Trinkspruchs auf die Polen
zu einer Freiheitsstrafe verurtheilt worden war, aus dem Amte entließ und
Kamptz mit gewohntem Ungestüm dies Verfahren öffentlich vertheidigte. Die
allerdings schlecht redigirten und nicht ganz unzweideutigen Vorschriften des
Allgemeinen Landrechts waren bisher immer dahin ausgelegt worden, daß
der Richter nur durch Urtheil und Recht entlassen werden könne; nun gar
am Rheine galt die Unabsetzbarkeit der Richter für ein Bollwerk der Volks-
freiheit. Seitdem betrachteten die Rheinländer ihren Justizminister als ihren
geschworenen Feind. Sie schalten wieder über Cabinetsjustiz, als der König
noch zweimal, wie einst im Processe Fonk, ein von den rheinischen Ge-
schworenen gefälltes Todesurtheil nicht bestätigte; nimmer wollten sie sich
darein finden, daß der Monarch nach preußischem Rechte nicht blos be-
gnadigen durfte, sondern auch kraft seiner oberstrichterlichen Gewalt befugt
war, jedem Todesurtheile die Bestätigung zu gewähren oder zu versagen.**)

*) S. o. II. 222.
**) Diesen Umstand, der das Verfahren des Königs im Proceß Fonk erklärt, habe

IV. 8. Stille Jahre.
waltung ſich in den alten Provinzen hohes Anſehen erwarb und ſelbſt die
verfallenen Patrimonialgerichte, ſoweit dies noch möglich war, in leidlichen
Stand brachte, rückte das große Werk der Geſetzreviſion unter Kamptz’s
Leitung nicht von der Stelle. An Eifer gebrach es weder dem ſchwer-
gelehrten Miniſter, noch der Commiſſion ausgezeichneter Juriſten, die mit
ihm zuſammenarbeitete. Binnen acht Jahren wurden die Entwürfe für
das Strafgeſetzbuch, die Proceßordnung, die Gerichtsverfaſſung und die
Anfänge des bürgerlichen Geſetzbuchs vorgelegt, dazu die ungeheure Samm-
lung der Provinzialrechte, ein erſtaunliches Werk deutſchen Gelehrten-
fleißes. Doch das Alles blieb nur Vorarbeit, Kamptz verſtand nicht zur
rechten Zeit abzuſchließen. Nur ein einziges, die Rechtspflege wahrhaft
förderndes Geſetz kam unter ſeiner Verwaltung zu Stande, und auch dies
nur auf die perſönliche Mahnung des Königs. Der Berliner Rechtsan-
walt Marchand hatte in einer Flugſchrift die unendliche Weitläufigkeit der
Bagatellproceſſe geſchildert und ſeine Arbeit dem Monarchen eingeſendet.
Friedrich Wilhelm fühlte ſich betroffen durch die überzeugende, gemeinver-
ſtändliche Darſtellung, und befahl ſofort Abhilfe. Im Jahre 1833 er-
ſchien die Verordnung über den ſummariſchen Proceß, die für einfache
Rechtsſtreitigkeiten ein abgekürztes mündliches Verfahren, wie es ſchon in
Poſen beſtand*), vorſchrieb und alſo den Weg zeigte zur Reform des ge-
ſammten Civilproceſſes.

Sonſt blieb die gewaltige Arbeit der Geſetzreviſion unfruchtbar; und
in der rheiniſchen Juſtizverwaltung, die ihm übertragen war, ſtiftete Kamptz
nur Unfrieden. Den Rheinländern ſchien der harte Demagogenverfolger
von vornherein verdächtig. Bald brachte er auch den geſammten preußi-
ſchen Richterſtand gegen ſich auf, als der König einen Naumburger Ober-
landesgerichtsrath, der wegen eines thörichten Trinkſpruchs auf die Polen
zu einer Freiheitsſtrafe verurtheilt worden war, aus dem Amte entließ und
Kamptz mit gewohntem Ungeſtüm dies Verfahren öffentlich vertheidigte. Die
allerdings ſchlecht redigirten und nicht ganz unzweideutigen Vorſchriften des
Allgemeinen Landrechts waren bisher immer dahin ausgelegt worden, daß
der Richter nur durch Urtheil und Recht entlaſſen werden könne; nun gar
am Rheine galt die Unabſetzbarkeit der Richter für ein Bollwerk der Volks-
freiheit. Seitdem betrachteten die Rheinländer ihren Juſtizminiſter als ihren
geſchworenen Feind. Sie ſchalten wieder über Cabinetsjuſtiz, als der König
noch zweimal, wie einſt im Proceſſe Fonk, ein von den rheiniſchen Ge-
ſchworenen gefälltes Todesurtheil nicht beſtätigte; nimmer wollten ſie ſich
darein finden, daß der Monarch nach preußiſchem Rechte nicht blos be-
gnadigen durfte, ſondern auch kraft ſeiner oberſtrichterlichen Gewalt befugt
war, jedem Todesurtheile die Beſtätigung zu gewähren oder zu verſagen.**)

*) S. o. II. 222.
**) Dieſen Umſtand, der das Verfahren des Königs im Proceß Fonk erklärt, habe
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[550/0564] IV. 8. Stille Jahre. waltung ſich in den alten Provinzen hohes Anſehen erwarb und ſelbſt die verfallenen Patrimonialgerichte, ſoweit dies noch möglich war, in leidlichen Stand brachte, rückte das große Werk der Geſetzreviſion unter Kamptz’s Leitung nicht von der Stelle. An Eifer gebrach es weder dem ſchwer- gelehrten Miniſter, noch der Commiſſion ausgezeichneter Juriſten, die mit ihm zuſammenarbeitete. Binnen acht Jahren wurden die Entwürfe für das Strafgeſetzbuch, die Proceßordnung, die Gerichtsverfaſſung und die Anfänge des bürgerlichen Geſetzbuchs vorgelegt, dazu die ungeheure Samm- lung der Provinzialrechte, ein erſtaunliches Werk deutſchen Gelehrten- fleißes. Doch das Alles blieb nur Vorarbeit, Kamptz verſtand nicht zur rechten Zeit abzuſchließen. Nur ein einziges, die Rechtspflege wahrhaft förderndes Geſetz kam unter ſeiner Verwaltung zu Stande, und auch dies nur auf die perſönliche Mahnung des Königs. Der Berliner Rechtsan- walt Marchand hatte in einer Flugſchrift die unendliche Weitläufigkeit der Bagatellproceſſe geſchildert und ſeine Arbeit dem Monarchen eingeſendet. Friedrich Wilhelm fühlte ſich betroffen durch die überzeugende, gemeinver- ſtändliche Darſtellung, und befahl ſofort Abhilfe. Im Jahre 1833 er- ſchien die Verordnung über den ſummariſchen Proceß, die für einfache Rechtsſtreitigkeiten ein abgekürztes mündliches Verfahren, wie es ſchon in Poſen beſtand *), vorſchrieb und alſo den Weg zeigte zur Reform des ge- ſammten Civilproceſſes. Sonſt blieb die gewaltige Arbeit der Geſetzreviſion unfruchtbar; und in der rheiniſchen Juſtizverwaltung, die ihm übertragen war, ſtiftete Kamptz nur Unfrieden. Den Rheinländern ſchien der harte Demagogenverfolger von vornherein verdächtig. Bald brachte er auch den geſammten preußi- ſchen Richterſtand gegen ſich auf, als der König einen Naumburger Ober- landesgerichtsrath, der wegen eines thörichten Trinkſpruchs auf die Polen zu einer Freiheitsſtrafe verurtheilt worden war, aus dem Amte entließ und Kamptz mit gewohntem Ungeſtüm dies Verfahren öffentlich vertheidigte. Die allerdings ſchlecht redigirten und nicht ganz unzweideutigen Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts waren bisher immer dahin ausgelegt worden, daß der Richter nur durch Urtheil und Recht entlaſſen werden könne; nun gar am Rheine galt die Unabſetzbarkeit der Richter für ein Bollwerk der Volks- freiheit. Seitdem betrachteten die Rheinländer ihren Juſtizminiſter als ihren geſchworenen Feind. Sie ſchalten wieder über Cabinetsjuſtiz, als der König noch zweimal, wie einſt im Proceſſe Fonk, ein von den rheiniſchen Ge- ſchworenen gefälltes Todesurtheil nicht beſtätigte; nimmer wollten ſie ſich darein finden, daß der Monarch nach preußiſchem Rechte nicht blos be- gnadigen durfte, ſondern auch kraft ſeiner oberſtrichterlichen Gewalt befugt war, jedem Todesurtheile die Beſtätigung zu gewähren oder zu verſagen. **) *) S. o. II. 222. **) Dieſen Umſtand, der das Verfahren des Königs im Proceß Fonk erklärt, habe

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 550. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/564>, abgerufen am 24.11.2024.