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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Nationale Gegensätze in Posen.

Unablässig waren die Verschwörer am Werke. Unter den Flüchtlingen
in Paris hatte die Partei der Rothen das Uebergewicht erlangt und einen
polnisch-demokratischen Verein gegründet mit Sektionen und Bundesgerichten,
mit regelmäßigen Abgaben und der eidlichen Verpflichtung zu unbedingtem
Gehorsam. Seine geheimen Agenten trieben überall ihr Wesen, in den
Casinos zu Posen, Gnesen, Samter und auf allen den Adelsschlössern,
wo sich die Edelleute nach altpolnischem Brauche zur Winterszeit wechsel-
seitig zu besuchen pflegten, bis in Küche und Keller die letzten Vorräthe
verzehrt waren. Nur selten erlangte die Regierung einige Kunde von
diesem unterirdischen Treiben;*) und wer sollte gar alle die schlechten Ver-
führungskünste kennen, denen die Pflichttreue der deutschen Beamten täglich
widerstehen mußte? Nicht jeder Richter blieb standhaft, wenn der polnische
Edelmann am Vorabend des Proceßtages den landesüblichen "Vortermin"
hielt und durch ein gewaltiges Zechgelage die Gemüther der Beamten be-
arbeitete. Als der König die vom polnischen Aufstande heimkehrenden jungen
Beamten und Aspiranten begnadigte, versetzte er sie, auf den Rath seiner
Minister, allesammt in andere Provinzen**) und sagte dem Provinzial-
landtage rundweg: diese verführten jungen Leute müßten sich an das
deutsche Leben gewöhnen, die Sitten eines gesetzliebenden Volkes erst kennen
lernen.

Gefährlicher als alles Andere blieb doch die unversöhnliche Feind-
seligkeit des katholischen Clerus, an dessen Spitze erst der eifrige polnische
Patriot Wolicki, nachher der unberechenbar schwache Erzbischof Dunin stand.
Fast in jedem Lande gemischten Volksthums begünstigt das römische Priester-
thum die minder gebildete Sprache; wie viel mehr hier, wo das Polnische
zugleich die Sprache der katholischen Mehrheit war. Auch die deutschen
Priester konnten sich der vorherrschenden Gesinnung des Clerus so wenig
entziehen, daß Flottwell, nachdem er ein halb Jahr im Lande war, zum
Entsetzen des allezeit vertrauensvollen Ministers Altenstein ehrlich ein-
gestand: einen ganz zuverlässigen Geistlichen habe ich bisher noch nicht ge-
sehen.***) Alle katholischen Deutschen saßen zwischen zwei Stühlen. Unter
den Bambergern, den aus Franken eingewanderten katholischen Bauern,
wühlte der Clerus schon im Stillen, vorerst noch ohne sichtbaren Erfolg;
und wenn ein Deutscher eine Polin heirathete, so ging die Nachkommen-
schaft regelmäßig dem Deutschthum verloren, weil in den Ehen der Durch-
schnittsmenschen die Frau über Volksthum und Glauben der Kinder zu
entscheiden pflegt. Auch die socialen Verhältnisse der Bevölkerung waren
den Deutschen nicht günstig; denn die Mehrzahl der Polen gehörte den

*) Flottwell's Berichte an Brenn, 7. Febr., 11. März 1832. Tzschoppe an Flott-
well 18. Oct. 1834.
**) Tzschoppe's Votum über die Begnadigung der Beamten, 15. Oct. 1832.
***) Flottwell's Bericht an Altenstein und Brenn, 17. März; Altenstein an Brenn,
8. April 1831.
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 36
Nationale Gegenſätze in Poſen.

Unabläſſig waren die Verſchwörer am Werke. Unter den Flüchtlingen
in Paris hatte die Partei der Rothen das Uebergewicht erlangt und einen
polniſch-demokratiſchen Verein gegründet mit Sektionen und Bundesgerichten,
mit regelmäßigen Abgaben und der eidlichen Verpflichtung zu unbedingtem
Gehorſam. Seine geheimen Agenten trieben überall ihr Weſen, in den
Caſinos zu Poſen, Gneſen, Samter und auf allen den Adelsſchlöſſern,
wo ſich die Edelleute nach altpolniſchem Brauche zur Winterszeit wechſel-
ſeitig zu beſuchen pflegten, bis in Küche und Keller die letzten Vorräthe
verzehrt waren. Nur ſelten erlangte die Regierung einige Kunde von
dieſem unterirdiſchen Treiben;*) und wer ſollte gar alle die ſchlechten Ver-
führungskünſte kennen, denen die Pflichttreue der deutſchen Beamten täglich
widerſtehen mußte? Nicht jeder Richter blieb ſtandhaft, wenn der polniſche
Edelmann am Vorabend des Proceßtages den landesüblichen „Vortermin“
hielt und durch ein gewaltiges Zechgelage die Gemüther der Beamten be-
arbeitete. Als der König die vom polniſchen Aufſtande heimkehrenden jungen
Beamten und Aspiranten begnadigte, verſetzte er ſie, auf den Rath ſeiner
Miniſter, alleſammt in andere Provinzen**) und ſagte dem Provinzial-
landtage rundweg: dieſe verführten jungen Leute müßten ſich an das
deutſche Leben gewöhnen, die Sitten eines geſetzliebenden Volkes erſt kennen
lernen.

Gefährlicher als alles Andere blieb doch die unverſöhnliche Feind-
ſeligkeit des katholiſchen Clerus, an deſſen Spitze erſt der eifrige polniſche
Patriot Wolicki, nachher der unberechenbar ſchwache Erzbiſchof Dunin ſtand.
Faſt in jedem Lande gemiſchten Volksthums begünſtigt das römiſche Prieſter-
thum die minder gebildete Sprache; wie viel mehr hier, wo das Polniſche
zugleich die Sprache der katholiſchen Mehrheit war. Auch die deutſchen
Prieſter konnten ſich der vorherrſchenden Geſinnung des Clerus ſo wenig
entziehen, daß Flottwell, nachdem er ein halb Jahr im Lande war, zum
Entſetzen des allezeit vertrauensvollen Miniſters Altenſtein ehrlich ein-
geſtand: einen ganz zuverläſſigen Geiſtlichen habe ich bisher noch nicht ge-
ſehen.***) Alle katholiſchen Deutſchen ſaßen zwiſchen zwei Stühlen. Unter
den Bambergern, den aus Franken eingewanderten katholiſchen Bauern,
wühlte der Clerus ſchon im Stillen, vorerſt noch ohne ſichtbaren Erfolg;
und wenn ein Deutſcher eine Polin heirathete, ſo ging die Nachkommen-
ſchaft regelmäßig dem Deutſchthum verloren, weil in den Ehen der Durch-
ſchnittsmenſchen die Frau über Volksthum und Glauben der Kinder zu
entſcheiden pflegt. Auch die ſocialen Verhältniſſe der Bevölkerung waren
den Deutſchen nicht günſtig; denn die Mehrzahl der Polen gehörte den

*) Flottwell’s Berichte an Brenn, 7. Febr., 11. März 1832. Tzſchoppe an Flott-
well 18. Oct. 1834.
**) Tzſchoppe’s Votum über die Begnadigung der Beamten, 15. Oct. 1832.
***) Flottwell’s Bericht an Altenſtein und Brenn, 17. März; Altenſtein an Brenn,
8. April 1831.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 36
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[561/0575] Nationale Gegenſätze in Poſen. Unabläſſig waren die Verſchwörer am Werke. Unter den Flüchtlingen in Paris hatte die Partei der Rothen das Uebergewicht erlangt und einen polniſch-demokratiſchen Verein gegründet mit Sektionen und Bundesgerichten, mit regelmäßigen Abgaben und der eidlichen Verpflichtung zu unbedingtem Gehorſam. Seine geheimen Agenten trieben überall ihr Weſen, in den Caſinos zu Poſen, Gneſen, Samter und auf allen den Adelsſchlöſſern, wo ſich die Edelleute nach altpolniſchem Brauche zur Winterszeit wechſel- ſeitig zu beſuchen pflegten, bis in Küche und Keller die letzten Vorräthe verzehrt waren. Nur ſelten erlangte die Regierung einige Kunde von dieſem unterirdiſchen Treiben; *) und wer ſollte gar alle die ſchlechten Ver- führungskünſte kennen, denen die Pflichttreue der deutſchen Beamten täglich widerſtehen mußte? Nicht jeder Richter blieb ſtandhaft, wenn der polniſche Edelmann am Vorabend des Proceßtages den landesüblichen „Vortermin“ hielt und durch ein gewaltiges Zechgelage die Gemüther der Beamten be- arbeitete. Als der König die vom polniſchen Aufſtande heimkehrenden jungen Beamten und Aspiranten begnadigte, verſetzte er ſie, auf den Rath ſeiner Miniſter, alleſammt in andere Provinzen **) und ſagte dem Provinzial- landtage rundweg: dieſe verführten jungen Leute müßten ſich an das deutſche Leben gewöhnen, die Sitten eines geſetzliebenden Volkes erſt kennen lernen. Gefährlicher als alles Andere blieb doch die unverſöhnliche Feind- ſeligkeit des katholiſchen Clerus, an deſſen Spitze erſt der eifrige polniſche Patriot Wolicki, nachher der unberechenbar ſchwache Erzbiſchof Dunin ſtand. Faſt in jedem Lande gemiſchten Volksthums begünſtigt das römiſche Prieſter- thum die minder gebildete Sprache; wie viel mehr hier, wo das Polniſche zugleich die Sprache der katholiſchen Mehrheit war. Auch die deutſchen Prieſter konnten ſich der vorherrſchenden Geſinnung des Clerus ſo wenig entziehen, daß Flottwell, nachdem er ein halb Jahr im Lande war, zum Entſetzen des allezeit vertrauensvollen Miniſters Altenſtein ehrlich ein- geſtand: einen ganz zuverläſſigen Geiſtlichen habe ich bisher noch nicht ge- ſehen. ***) Alle katholiſchen Deutſchen ſaßen zwiſchen zwei Stühlen. Unter den Bambergern, den aus Franken eingewanderten katholiſchen Bauern, wühlte der Clerus ſchon im Stillen, vorerſt noch ohne ſichtbaren Erfolg; und wenn ein Deutſcher eine Polin heirathete, ſo ging die Nachkommen- ſchaft regelmäßig dem Deutſchthum verloren, weil in den Ehen der Durch- ſchnittsmenſchen die Frau über Volksthum und Glauben der Kinder zu entſcheiden pflegt. Auch die ſocialen Verhältniſſe der Bevölkerung waren den Deutſchen nicht günſtig; denn die Mehrzahl der Polen gehörte den *) Flottwell’s Berichte an Brenn, 7. Febr., 11. März 1832. Tzſchoppe an Flott- well 18. Oct. 1834. **) Tzſchoppe’s Votum über die Begnadigung der Beamten, 15. Oct. 1832. ***) Flottwell’s Bericht an Altenſtein und Brenn, 17. März; Altenſtein an Brenn, 8. April 1831. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 36

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/575>, abgerufen am 24.11.2024.