Aus solchen Erwägungen entstand, noch bevor die erste große deutsche Eisenbahn vollendet war, das preußische Eisenbahngesetz vom 3. Nov. 1838, eines der letzten denkwürdigen Werke des alten Beamtenstaates, ein Gesetz, das zur Regelung ganz unbekannter Verhältnisse bestimmt war und doch ein halbes Jahrhundert voll ungeahnter Wandlungen lebenskräftig über- dauert hat.*) Seine Stärke lag darin, daß die Staatsgewalt sich ein sehr weit ausgedehntes Aufsichtsrecht über die Privatbahnen, auch die Möglich- keit eines künftigen Staatseisenbahnsystems vorbehielt und doch sich weislich hütete, durch gehäufte Einzelvorschriften einer noch nicht übersehbaren Ent- wicklung vorzugreifen. Alle Eisenbahnen unterlagen der königlichen Geneh- migung, desgleichen im Einzelnen die Bahnlinie, der Bau der Bahn und seine Fristen, die Einrichtung der Wagen und Maschinen; sie mußten jederzeit in sicherem und dem Zwecke entsprechendem Zustande erhalten werden. Der Staat ertheilte ihnen das Recht der Enteignung, wie den Chausseen, er prüfte ihre Rechnungen und beaufsichtigte sie durch ständige Commissäre. Er behielt sich vor, die Bahnen nach dreißig Jahren anzukaufen und be- legte sie mit einer noch näher zu bestimmenden Steuer, welche theils zur Amortisation des Aktiencapitals, theils zur Entschädigung der Post dienen sollte. Die Höhe dieser Entschädigung blieb auch noch vorbehalten; vor- läufig schloß man mit den einzelnen Bahnen besondere Verträge und ver- pflichtete alle zur unentgeltlichen Beförderung der Postsendungen -- eine wohlberechtigte Vorschrift, welche allein der Post ermöglichte, auch unter veränderten Verhältnissen ihre culturfördernde Arbeit zu vollziehen, doch freilich in der Folge zahlreiche, noch heute nicht beendigte Zwistigkeiten hervorrufen sollte. Außerdem behielt die Krone das Recht, die Bestim- mungen des Gesetzes nach freiem Ermessen abzuändern oder zu ergänzen, und die bestehenden Gesellschaften mußten sich im Voraus solchen Aende- rungen unterwerfen. Also war dem Monopolgeiste ein starker Riegel vor- geschoben. Die Geschäftswelt klagte über die unmäßige Bevormundung; Hansemann veröffentlichte eine scharfe Kritik und beschwor die Regierung, die Capitalien des In- und Auslandes nicht abzuschrecken. Aber die dehn- baren Vorschriften wurden verständig gehandhabt, und sie genügten für eine Reihe von Jahren, so lange der Staat noch nicht in der Lage war, selber den Bahnbetrieb zu übernehmen.
Inzwischen hatte auch in Preußen der Bahnbau begonnen. Zuerst wurde die kleine Strecke von Düsseldorf nach Erkrath eröffnet; dann folgte, noch im Jahre 1838, die Berlin-Potsdamer Bahn, und groß war das Erstaunen, als dort täglich 2000, an Festtagen sogar 4000 Menschen ver- kehrten. Schon nach Jahresfrist mußte man dieser Gesellschaft gestatten, daß ihre Züge auch in der Dunkelheit fahren durften, natürlich langsam und unter mannichfachen Vorsichtsmaßregeln. Dem Könige war das neue
*) Cabinetsordre an Müffling, 3. Nov. 1838.
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 38
Das preußiſche Eiſenbahngeſetz.
Aus ſolchen Erwägungen entſtand, noch bevor die erſte große deutſche Eiſenbahn vollendet war, das preußiſche Eiſenbahngeſetz vom 3. Nov. 1838, eines der letzten denkwürdigen Werke des alten Beamtenſtaates, ein Geſetz, das zur Regelung ganz unbekannter Verhältniſſe beſtimmt war und doch ein halbes Jahrhundert voll ungeahnter Wandlungen lebenskräftig über- dauert hat.*) Seine Stärke lag darin, daß die Staatsgewalt ſich ein ſehr weit ausgedehntes Aufſichtsrecht über die Privatbahnen, auch die Möglich- keit eines künftigen Staatseiſenbahnſyſtems vorbehielt und doch ſich weislich hütete, durch gehäufte Einzelvorſchriften einer noch nicht überſehbaren Ent- wicklung vorzugreifen. Alle Eiſenbahnen unterlagen der königlichen Geneh- migung, desgleichen im Einzelnen die Bahnlinie, der Bau der Bahn und ſeine Friſten, die Einrichtung der Wagen und Maſchinen; ſie mußten jederzeit in ſicherem und dem Zwecke entſprechendem Zuſtande erhalten werden. Der Staat ertheilte ihnen das Recht der Enteignung, wie den Chauſſeen, er prüfte ihre Rechnungen und beaufſichtigte ſie durch ſtändige Commiſſäre. Er behielt ſich vor, die Bahnen nach dreißig Jahren anzukaufen und be- legte ſie mit einer noch näher zu beſtimmenden Steuer, welche theils zur Amortiſation des Aktiencapitals, theils zur Entſchädigung der Poſt dienen ſollte. Die Höhe dieſer Entſchädigung blieb auch noch vorbehalten; vor- läufig ſchloß man mit den einzelnen Bahnen beſondere Verträge und ver- pflichtete alle zur unentgeltlichen Beförderung der Poſtſendungen — eine wohlberechtigte Vorſchrift, welche allein der Poſt ermöglichte, auch unter veränderten Verhältniſſen ihre culturfördernde Arbeit zu vollziehen, doch freilich in der Folge zahlreiche, noch heute nicht beendigte Zwiſtigkeiten hervorrufen ſollte. Außerdem behielt die Krone das Recht, die Beſtim- mungen des Geſetzes nach freiem Ermeſſen abzuändern oder zu ergänzen, und die beſtehenden Geſellſchaften mußten ſich im Voraus ſolchen Aende- rungen unterwerfen. Alſo war dem Monopolgeiſte ein ſtarker Riegel vor- geſchoben. Die Geſchäftswelt klagte über die unmäßige Bevormundung; Hanſemann veröffentlichte eine ſcharfe Kritik und beſchwor die Regierung, die Capitalien des In- und Auslandes nicht abzuſchrecken. Aber die dehn- baren Vorſchriften wurden verſtändig gehandhabt, und ſie genügten für eine Reihe von Jahren, ſo lange der Staat noch nicht in der Lage war, ſelber den Bahnbetrieb zu übernehmen.
Inzwiſchen hatte auch in Preußen der Bahnbau begonnen. Zuerſt wurde die kleine Strecke von Düſſeldorf nach Erkrath eröffnet; dann folgte, noch im Jahre 1838, die Berlin-Potsdamer Bahn, und groß war das Erſtaunen, als dort täglich 2000, an Feſttagen ſogar 4000 Menſchen ver- kehrten. Schon nach Jahresfriſt mußte man dieſer Geſellſchaft geſtatten, daß ihre Züge auch in der Dunkelheit fahren durften, natürlich langſam und unter mannichfachen Vorſichtsmaßregeln. Dem Könige war das neue
*) Cabinetsordre an Müffling, 3. Nov. 1838.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 38
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Das preußiſche Eiſenbahngeſetz.
Aus ſolchen Erwägungen entſtand, noch bevor die erſte große deutſche
Eiſenbahn vollendet war, das preußiſche Eiſenbahngeſetz vom 3. Nov. 1838,
eines der letzten denkwürdigen Werke des alten Beamtenſtaates, ein Geſetz,
das zur Regelung ganz unbekannter Verhältniſſe beſtimmt war und doch
ein halbes Jahrhundert voll ungeahnter Wandlungen lebenskräftig über-
dauert hat. *) Seine Stärke lag darin, daß die Staatsgewalt ſich ein ſehr
weit ausgedehntes Aufſichtsrecht über die Privatbahnen, auch die Möglich-
keit eines künftigen Staatseiſenbahnſyſtems vorbehielt und doch ſich weislich
hütete, durch gehäufte Einzelvorſchriften einer noch nicht überſehbaren Ent-
wicklung vorzugreifen. Alle Eiſenbahnen unterlagen der königlichen Geneh-
migung, desgleichen im Einzelnen die Bahnlinie, der Bau der Bahn und
ſeine Friſten, die Einrichtung der Wagen und Maſchinen; ſie mußten jederzeit
in ſicherem und dem Zwecke entſprechendem Zuſtande erhalten werden. Der
Staat ertheilte ihnen das Recht der Enteignung, wie den Chauſſeen, er
prüfte ihre Rechnungen und beaufſichtigte ſie durch ſtändige Commiſſäre.
Er behielt ſich vor, die Bahnen nach dreißig Jahren anzukaufen und be-
legte ſie mit einer noch näher zu beſtimmenden Steuer, welche theils zur
Amortiſation des Aktiencapitals, theils zur Entſchädigung der Poſt dienen
ſollte. Die Höhe dieſer Entſchädigung blieb auch noch vorbehalten; vor-
läufig ſchloß man mit den einzelnen Bahnen beſondere Verträge und ver-
pflichtete alle zur unentgeltlichen Beförderung der Poſtſendungen — eine
wohlberechtigte Vorſchrift, welche allein der Poſt ermöglichte, auch unter
veränderten Verhältniſſen ihre culturfördernde Arbeit zu vollziehen, doch
freilich in der Folge zahlreiche, noch heute nicht beendigte Zwiſtigkeiten
hervorrufen ſollte. Außerdem behielt die Krone das Recht, die Beſtim-
mungen des Geſetzes nach freiem Ermeſſen abzuändern oder zu ergänzen,
und die beſtehenden Geſellſchaften mußten ſich im Voraus ſolchen Aende-
rungen unterwerfen. Alſo war dem Monopolgeiſte ein ſtarker Riegel vor-
geſchoben. Die Geſchäftswelt klagte über die unmäßige Bevormundung;
Hanſemann veröffentlichte eine ſcharfe Kritik und beſchwor die Regierung,
die Capitalien des In- und Auslandes nicht abzuſchrecken. Aber die dehn-
baren Vorſchriften wurden verſtändig gehandhabt, und ſie genügten für
eine Reihe von Jahren, ſo lange der Staat noch nicht in der Lage war,
ſelber den Bahnbetrieb zu übernehmen.
Inzwiſchen hatte auch in Preußen der Bahnbau begonnen. Zuerſt
wurde die kleine Strecke von Düſſeldorf nach Erkrath eröffnet; dann folgte,
noch im Jahre 1838, die Berlin-Potsdamer Bahn, und groß war das
Erſtaunen, als dort täglich 2000, an Feſttagen ſogar 4000 Menſchen ver-
kehrten. Schon nach Jahresfriſt mußte man dieſer Geſellſchaft geſtatten,
daß ihre Züge auch in der Dunkelheit fahren durften, natürlich langſam
und unter mannichfachen Vorſichtsmaßregeln. Dem Könige war das neue
*) Cabinetsordre an Müffling, 3. Nov. 1838.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 38
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/607>, abgerufen am 24.11.2024.
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