neuen Friedensbruch der Franzosen zu gewähren, gerieth nachher Bülow zuerst auf den Gedanken, Belgien solle wie die Schweiz für neutral erklärt und seine Neutralität unter die Gesammtbürgschaft der großen Mächte ge- stellt werden. Es war ein Nothbehelf, aber ein unvermeidlicher. Für eine große Entscheidung, welche den tausendjährigen Erbfolgestreit der Gallier und Germanen um die Trümmer des alten lotharingischen Zwischen- reiches endgiltig erledigt hätte, fehlten zur Zeit noch alle Vorbedingungen. Nach den jüngsten Proben britischer Vertragstreue blieb es freilich sehr zweifelhaft, ob England seinen neuen Schützling nicht dereinst ebenso ge- müthsruhig preisgeben würde, wie jetzt den alten; aber für zwei oder drei Jahrzehnte vielleicht bot die Gesammtbürgschaft der großen Mächte immerhin einige Sicherheit. --
Wie friedlich auch die Londoner Conferenzen sich anließen, die Gefahr eines allgemeinen Krieges war noch mit nichten verschwunden. Ueber Talleyrand's Redlichkeit wußten die Ostmächte besser Bescheid als Wel- lington; die glatten Worte des Botschafters widersprachen doch gar zu auffällig den Thaten seiner Regierung. Frankreich rüstete unaufhörlich; im September wurden 128000 Mann, im December nochmals 80000 Mann einberufen, und dies zu einer Zeit, da Preußen zwar einige Truppen an den Rhein vorgeschoben, aber noch kein Regiment auf Kriegs- fuß gestellt hatte. Das Kriegsgeschrei der Pariser Presse ward täglich frecher; in Belgien, in Deutschland, in Italien, überall trieben fran- zösische Aufwiegler ihr Wesen, an den kleinen deutschen Höfen sprachen die Gesandten des Bürgerkönigs gern von den glücklichen Zeiten des Rheinbundes; und als im November, fast gleichzeitig mit dem Sturze der Torys, das "Ministerium der Bewegung" ins Amt trat, schlug auch die Regierung selber einen höheren Ton an. Der neue Ministerpräsi- dent Laffitte, einer jener liberalen Börsenmänner, welche den Bürger- thron aufrichten halfen, glaubte an die welterobernde Macht der Ideen von 1789 mit der ganzen Unschuld, deren die Seele eines lebenslustigen Millionärs fähig ist, und der Minister des Auswärtigen, der Corse Sebastiani, hatte auch als Vertrauter der friedfertigen Orleans die an- maßliche Ruhmredigkeit des napoleonischen Generals noch nicht verlernt.
Unter den Schlagwörtern, mit denen diese Regierung die kriegslustigen Radicalen halb zu gewinnen, halb zu beschwichtigen suchte, war keines wirksamer als der prahlerisch verkündigte Grundsatz der Nicht-Einmischung. Erst in halbamtlichen Zeitungsaufsätzen, dann in Talleyrand's Begrüßungs- worten an den König von England, nachher in verschiedenen Depeschen an die Großmächte, endlich in einer feierlichen Kammerrede Laffitte's wurde die Behauptung aufgestellt, jedes Volk sei befugt seine Regierung nach Gutdünken zu verändern, und keine fremde Macht dürfe sich anmaßen in solche Händel einzugreifen. Die harte legitimistische Doctrin der Inter- ventionspolitik hatte die Selbständigkeit aller Staaten gefährdet; nun trat
Die Politik der Nicht-Einmiſchung.
neuen Friedensbruch der Franzoſen zu gewähren, gerieth nachher Bülow zuerſt auf den Gedanken, Belgien ſolle wie die Schweiz für neutral erklärt und ſeine Neutralität unter die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte ge- ſtellt werden. Es war ein Nothbehelf, aber ein unvermeidlicher. Für eine große Entſcheidung, welche den tauſendjährigen Erbfolgeſtreit der Gallier und Germanen um die Trümmer des alten lotharingiſchen Zwiſchen- reiches endgiltig erledigt hätte, fehlten zur Zeit noch alle Vorbedingungen. Nach den jüngſten Proben britiſcher Vertragstreue blieb es freilich ſehr zweifelhaft, ob England ſeinen neuen Schützling nicht dereinſt ebenſo ge- müthsruhig preisgeben würde, wie jetzt den alten; aber für zwei oder drei Jahrzehnte vielleicht bot die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte immerhin einige Sicherheit. —
Wie friedlich auch die Londoner Conferenzen ſich anließen, die Gefahr eines allgemeinen Krieges war noch mit nichten verſchwunden. Ueber Talleyrand’s Redlichkeit wußten die Oſtmächte beſſer Beſcheid als Wel- lington; die glatten Worte des Botſchafters widerſprachen doch gar zu auffällig den Thaten ſeiner Regierung. Frankreich rüſtete unaufhörlich; im September wurden 128000 Mann, im December nochmals 80000 Mann einberufen, und dies zu einer Zeit, da Preußen zwar einige Truppen an den Rhein vorgeſchoben, aber noch kein Regiment auf Kriegs- fuß geſtellt hatte. Das Kriegsgeſchrei der Pariſer Preſſe ward täglich frecher; in Belgien, in Deutſchland, in Italien, überall trieben fran- zöſiſche Aufwiegler ihr Weſen, an den kleinen deutſchen Höfen ſprachen die Geſandten des Bürgerkönigs gern von den glücklichen Zeiten des Rheinbundes; und als im November, faſt gleichzeitig mit dem Sturze der Torys, das „Miniſterium der Bewegung“ ins Amt trat, ſchlug auch die Regierung ſelber einen höheren Ton an. Der neue Miniſterpräſi- dent Laffitte, einer jener liberalen Börſenmänner, welche den Bürger- thron aufrichten halfen, glaubte an die welterobernde Macht der Ideen von 1789 mit der ganzen Unſchuld, deren die Seele eines lebensluſtigen Millionärs fähig iſt, und der Miniſter des Auswärtigen, der Corſe Sebaſtiani, hatte auch als Vertrauter der friedfertigen Orleans die an- maßliche Ruhmredigkeit des napoleoniſchen Generals noch nicht verlernt.
Unter den Schlagwörtern, mit denen dieſe Regierung die kriegsluſtigen Radicalen halb zu gewinnen, halb zu beſchwichtigen ſuchte, war keines wirkſamer als der prahleriſch verkündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Erſt in halbamtlichen Zeitungsaufſätzen, dann in Talleyrand’s Begrüßungs- worten an den König von England, nachher in verſchiedenen Depeſchen an die Großmächte, endlich in einer feierlichen Kammerrede Laffitte’s wurde die Behauptung aufgeſtellt, jedes Volk ſei befugt ſeine Regierung nach Gutdünken zu verändern, und keine fremde Macht dürfe ſich anmaßen in ſolche Händel einzugreifen. Die harte legitimiſtiſche Doctrin der Inter- ventionspolitik hatte die Selbſtändigkeit aller Staaten gefährdet; nun trat
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[53/0067]
Die Politik der Nicht-Einmiſchung.
neuen Friedensbruch der Franzoſen zu gewähren, gerieth nachher Bülow
zuerſt auf den Gedanken, Belgien ſolle wie die Schweiz für neutral erklärt
und ſeine Neutralität unter die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte ge-
ſtellt werden. Es war ein Nothbehelf, aber ein unvermeidlicher. Für eine
große Entſcheidung, welche den tauſendjährigen Erbfolgeſtreit der Gallier
und Germanen um die Trümmer des alten lotharingiſchen Zwiſchen-
reiches endgiltig erledigt hätte, fehlten zur Zeit noch alle Vorbedingungen.
Nach den jüngſten Proben britiſcher Vertragstreue blieb es freilich ſehr
zweifelhaft, ob England ſeinen neuen Schützling nicht dereinſt ebenſo ge-
müthsruhig preisgeben würde, wie jetzt den alten; aber für zwei oder
drei Jahrzehnte vielleicht bot die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte
immerhin einige Sicherheit. —
Wie friedlich auch die Londoner Conferenzen ſich anließen, die Gefahr
eines allgemeinen Krieges war noch mit nichten verſchwunden. Ueber
Talleyrand’s Redlichkeit wußten die Oſtmächte beſſer Beſcheid als Wel-
lington; die glatten Worte des Botſchafters widerſprachen doch gar zu
auffällig den Thaten ſeiner Regierung. Frankreich rüſtete unaufhörlich;
im September wurden 128000 Mann, im December nochmals 80000
Mann einberufen, und dies zu einer Zeit, da Preußen zwar einige
Truppen an den Rhein vorgeſchoben, aber noch kein Regiment auf Kriegs-
fuß geſtellt hatte. Das Kriegsgeſchrei der Pariſer Preſſe ward täglich
frecher; in Belgien, in Deutſchland, in Italien, überall trieben fran-
zöſiſche Aufwiegler ihr Weſen, an den kleinen deutſchen Höfen ſprachen
die Geſandten des Bürgerkönigs gern von den glücklichen Zeiten des
Rheinbundes; und als im November, faſt gleichzeitig mit dem Sturze
der Torys, das „Miniſterium der Bewegung“ ins Amt trat, ſchlug
auch die Regierung ſelber einen höheren Ton an. Der neue Miniſterpräſi-
dent Laffitte, einer jener liberalen Börſenmänner, welche den Bürger-
thron aufrichten halfen, glaubte an die welterobernde Macht der Ideen
von 1789 mit der ganzen Unſchuld, deren die Seele eines lebensluſtigen
Millionärs fähig iſt, und der Miniſter des Auswärtigen, der Corſe
Sebaſtiani, hatte auch als Vertrauter der friedfertigen Orleans die an-
maßliche Ruhmredigkeit des napoleoniſchen Generals noch nicht verlernt.
Unter den Schlagwörtern, mit denen dieſe Regierung die kriegsluſtigen
Radicalen halb zu gewinnen, halb zu beſchwichtigen ſuchte, war keines
wirkſamer als der prahleriſch verkündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung.
Erſt in halbamtlichen Zeitungsaufſätzen, dann in Talleyrand’s Begrüßungs-
worten an den König von England, nachher in verſchiedenen Depeſchen an
die Großmächte, endlich in einer feierlichen Kammerrede Laffitte’s wurde
die Behauptung aufgeſtellt, jedes Volk ſei befugt ſeine Regierung nach
Gutdünken zu verändern, und keine fremde Macht dürfe ſich anmaßen
in ſolche Händel einzugreifen. Die harte legitimiſtiſche Doctrin der Inter-
ventionspolitik hatte die Selbſtändigkeit aller Staaten gefährdet; nun trat
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/67>, abgerufen am 25.11.2024.
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