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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ihr, durch einen nothwendigen Rückschlag, eine ganz ebenso doctrinäre
radicale Lehre entgegen, welche die Gemeinschaft des Staatensystems zu
zersprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker-
freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt sei, jede Einmischung der
Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen
abzuweisen. Hatten die Ostmächte einst in Troppau sich angemaßt, jede
Revolution in der Welt zu unterdrücken, so erhob jetzt das Juli-König-
thum den noch weit gefährlicheren Anspruch, jeden Aufruhr zu unter-
stützen. Es war der alte Grundsatz der revolutionären Propaganda:
Krieg den Palästen, Friede den Hütten; nur erschien er jetzt nicht mehr
in seiner nackten Roheit, sondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit schönen
Worten vom Selbstbestimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerston
säumte nicht, sich die Lehre der Nicht-Einmischung zu nutze zu machen;
kaum am Ruder, verkündigte er sie sofort als sein Glaubensbekenntniß
dem russischen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtsam,
um sich im Ernst durch eine doctrinäre Formel bestimmen zu lassen; jedoch
die Politik der Orleans bedurfte, da sie nur aus der Hand in den Mund
lebte, des Aushängeschildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit
befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich Alles willkommen, was den
Unfrieden auf dem Festlande nährte. In Wahrheit sagte der neue Grund-
satz nur, daß die Westmächte sich vorbehielten, nach den Umständen zu han-
deln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenschaften für ihr
Interesse zu verwerthen. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf, als er
einer wißbegierigen englischen Dame mit seinem faunischen Lächeln er-
widerte: "Nicht-Intervention ist ein geheimnißvolles diplomatisches Wort,
es bedeutet ungefähr dasselbe wie Intervention."

Den Ostmächten mußte diese neue Völkerrechtslehre als ein unge-
heuerlicher Frevel erscheinen; denn sie schlug allen Anschauungen des
vergangenen Jahrzehnts ins Gesicht und drohte die so lange behauptete
vormundschaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte System
der europäischen Pentarchie zu vernichten. Metternich sagte entrüstet:
"Die Räuber weisen die Polizei zurück, die Brandstifter verwahren sich
gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anspruch anerkennen, der
so jede Ordnung der Gesellschaft zerstört." Nüchterner blieb Bernstorff;
er ertheilte an Bülow die Weisung, den doctrinären Streit auf der Lon-
doner Conferenz nicht ohne Noth anzuregen. Aber auch er fand, "in
dem neu erfundenen Systeme der Nicht-Einmischung sei der Grundsatz
der anmaßlichsten, übermüthigsten und unzulässigsten Einmischung aus-
gesprochen"; und in seinem Auftrage schrieb Ancillon nach Wien: "Gewiß,
durch den Grundsatz der Nicht-Einmischung und durch den Anspruch, den
Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer
Grenzen zu untersagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jeder
Regierung verloren." Czar Nikolaus dagegen brauste in wildem Zorne

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ihr, durch einen nothwendigen Rückſchlag, eine ganz ebenſo doctrinäre
radicale Lehre entgegen, welche die Gemeinſchaft des Staatenſyſtems zu
zerſprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker-
freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt ſei, jede Einmiſchung der
Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen
abzuweiſen. Hatten die Oſtmächte einſt in Troppau ſich angemaßt, jede
Revolution in der Welt zu unterdrücken, ſo erhob jetzt das Juli-König-
thum den noch weit gefährlicheren Anſpruch, jeden Aufruhr zu unter-
ſtützen. Es war der alte Grundſatz der revolutionären Propaganda:
Krieg den Paläſten, Friede den Hütten; nur erſchien er jetzt nicht mehr
in ſeiner nackten Roheit, ſondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit ſchönen
Worten vom Selbſtbeſtimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerſton
ſäumte nicht, ſich die Lehre der Nicht-Einmiſchung zu nutze zu machen;
kaum am Ruder, verkündigte er ſie ſofort als ſein Glaubensbekenntniß
dem ruſſiſchen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtſam,
um ſich im Ernſt durch eine doctrinäre Formel beſtimmen zu laſſen; jedoch
die Politik der Orleans bedurfte, da ſie nur aus der Hand in den Mund
lebte, des Aushängeſchildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit
befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich Alles willkommen, was den
Unfrieden auf dem Feſtlande nährte. In Wahrheit ſagte der neue Grund-
ſatz nur, daß die Weſtmächte ſich vorbehielten, nach den Umſtänden zu han-
deln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenſchaften für ihr
Intereſſe zu verwerthen. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf, als er
einer wißbegierigen engliſchen Dame mit ſeinem fauniſchen Lächeln er-
widerte: „Nicht-Intervention iſt ein geheimnißvolles diplomatiſches Wort,
es bedeutet ungefähr daſſelbe wie Intervention.“

Den Oſtmächten mußte dieſe neue Völkerrechtslehre als ein unge-
heuerlicher Frevel erſcheinen; denn ſie ſchlug allen Anſchauungen des
vergangenen Jahrzehnts ins Geſicht und drohte die ſo lange behauptete
vormundſchaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte Syſtem
der europäiſchen Pentarchie zu vernichten. Metternich ſagte entrüſtet:
„Die Räuber weiſen die Polizei zurück, die Brandſtifter verwahren ſich
gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anſpruch anerkennen, der
ſo jede Ordnung der Geſellſchaft zerſtört.“ Nüchterner blieb Bernſtorff;
er ertheilte an Bülow die Weiſung, den doctrinären Streit auf der Lon-
doner Conferenz nicht ohne Noth anzuregen. Aber auch er fand, „in
dem neu erfundenen Syſteme der Nicht-Einmiſchung ſei der Grundſatz
der anmaßlichſten, übermüthigſten und unzuläſſigſten Einmiſchung aus-
geſprochen“; und in ſeinem Auftrage ſchrieb Ancillon nach Wien: „Gewiß,
durch den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung und durch den Anſpruch, den
Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer
Grenzen zu unterſagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit jeder
Regierung verloren.“ Czar Nikolaus dagegen brauſte in wildem Zorne

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[54/0068] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. ihr, durch einen nothwendigen Rückſchlag, eine ganz ebenſo doctrinäre radicale Lehre entgegen, welche die Gemeinſchaft des Staatenſyſtems zu zerſprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker- freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt ſei, jede Einmiſchung der Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen abzuweiſen. Hatten die Oſtmächte einſt in Troppau ſich angemaßt, jede Revolution in der Welt zu unterdrücken, ſo erhob jetzt das Juli-König- thum den noch weit gefährlicheren Anſpruch, jeden Aufruhr zu unter- ſtützen. Es war der alte Grundſatz der revolutionären Propaganda: Krieg den Paläſten, Friede den Hütten; nur erſchien er jetzt nicht mehr in ſeiner nackten Roheit, ſondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit ſchönen Worten vom Selbſtbeſtimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerſton ſäumte nicht, ſich die Lehre der Nicht-Einmiſchung zu nutze zu machen; kaum am Ruder, verkündigte er ſie ſofort als ſein Glaubensbekenntniß dem ruſſiſchen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtſam, um ſich im Ernſt durch eine doctrinäre Formel beſtimmen zu laſſen; jedoch die Politik der Orleans bedurfte, da ſie nur aus der Hand in den Mund lebte, des Aushängeſchildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich Alles willkommen, was den Unfrieden auf dem Feſtlande nährte. In Wahrheit ſagte der neue Grund- ſatz nur, daß die Weſtmächte ſich vorbehielten, nach den Umſtänden zu han- deln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenſchaften für ihr Intereſſe zu verwerthen. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf, als er einer wißbegierigen engliſchen Dame mit ſeinem fauniſchen Lächeln er- widerte: „Nicht-Intervention iſt ein geheimnißvolles diplomatiſches Wort, es bedeutet ungefähr daſſelbe wie Intervention.“ Den Oſtmächten mußte dieſe neue Völkerrechtslehre als ein unge- heuerlicher Frevel erſcheinen; denn ſie ſchlug allen Anſchauungen des vergangenen Jahrzehnts ins Geſicht und drohte die ſo lange behauptete vormundſchaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte Syſtem der europäiſchen Pentarchie zu vernichten. Metternich ſagte entrüſtet: „Die Räuber weiſen die Polizei zurück, die Brandſtifter verwahren ſich gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anſpruch anerkennen, der ſo jede Ordnung der Geſellſchaft zerſtört.“ Nüchterner blieb Bernſtorff; er ertheilte an Bülow die Weiſung, den doctrinären Streit auf der Lon- doner Conferenz nicht ohne Noth anzuregen. Aber auch er fand, „in dem neu erfundenen Syſteme der Nicht-Einmiſchung ſei der Grundſatz der anmaßlichſten, übermüthigſten und unzuläſſigſten Einmiſchung aus- geſprochen“; und in ſeinem Auftrage ſchrieb Ancillon nach Wien: „Gewiß, durch den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung und durch den Anſpruch, den Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer Grenzen zu unterſagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit jeder Regierung verloren.“ Czar Nikolaus dagegen brauſte in wildem Zorne

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/68>, abgerufen am 26.11.2024.