Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.Russische Rüstungen. auf, seine Kriegslust war kaum mehr zu bändigen. "Ich habe", sagte erheftig, "von vornherein für die Legitimität kämpfen wollen und mich nur, weil ich der Jüngere bin, der reiferen Erfahrung des Königs gefügt." Jetzt aber glaubte er zu wissen, daß nicht bloß die königlichen Prinzen, sondern auch sein Schwiegervater selber seine Ansicht theile und allein Bernstorff mit den anderen Ministern die lauen Maßregeln Preußens veranlaßt habe.*) Nur schwer gab er diesen Verdacht auf, den wahr- scheinlich Metternich's Mittheilungen an Orlow hervorgerufen hatten. Schon längst hatte er zu rüsten begonnen; nun befahl er neue Aus- Nichts lag dem Könige ferner als der Gedanke einer Annäherung an *) Schöler's Bericht 21. Nov. 1830. **) Schöler, Verbalnote an Nesselrode, 8. November/27. October 1830; Nesselrode, Circular- Depesche 29. October a. St., nebst Begleitschreiben an Schöler. ***) Bernstorff, Memoire sur la position de la grande alliance relativement
a la France et a l'Europe, 24. November 1830. Entwurf dazu v. 9. Nov., nebst "Fragen und Anweisungen" des Königs. Ruſſiſche Rüſtungen. auf, ſeine Kriegsluſt war kaum mehr zu bändigen. „Ich habe“, ſagte erheftig, „von vornherein für die Legitimität kämpfen wollen und mich nur, weil ich der Jüngere bin, der reiferen Erfahrung des Königs gefügt.“ Jetzt aber glaubte er zu wiſſen, daß nicht bloß die königlichen Prinzen, ſondern auch ſein Schwiegervater ſelber ſeine Anſicht theile und allein Bernſtorff mit den anderen Miniſtern die lauen Maßregeln Preußens veranlaßt habe.*) Nur ſchwer gab er dieſen Verdacht auf, den wahr- ſcheinlich Metternich’s Mittheilungen an Orlow hervorgerufen hatten. Schon längſt hatte er zu rüſten begonnen; nun befahl er neue Aus- Nichts lag dem Könige ferner als der Gedanke einer Annäherung an *) Schöler’s Bericht 21. Nov. 1830. **) Schöler, Verbalnote an Neſſelrode, 8. November/27. October 1830; Neſſelrode, Circular- Depeſche 29. October a. St., nebſt Begleitſchreiben an Schöler. ***) Bernſtorff, Mémoire sur la position de la grande alliance relativement
à la France et à l’Europe, 24. November 1830. Entwurf dazu v. 9. Nov., nebſt „Fragen und Anweiſungen“ des Königs. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0069" n="55"/><fw place="top" type="header">Ruſſiſche Rüſtungen.</fw><lb/> auf, ſeine Kriegsluſt war kaum mehr zu bändigen. „Ich habe“, ſagte er<lb/> heftig, „von vornherein für die Legitimität kämpfen wollen und mich nur,<lb/> weil ich der Jüngere bin, der reiferen Erfahrung des Königs gefügt.“<lb/> Jetzt aber glaubte er zu wiſſen, daß nicht bloß die königlichen Prinzen,<lb/> ſondern auch ſein Schwiegervater ſelber ſeine Anſicht theile und allein<lb/> Bernſtorff mit den anderen Miniſtern die lauen Maßregeln Preußens<lb/> veranlaßt habe.<note place="foot" n="*)">Schöler’s Bericht 21. Nov. 1830.</note> Nur ſchwer gab er dieſen Verdacht auf, den wahr-<lb/> ſcheinlich Metternich’s Mittheilungen an Orlow hervorgerufen hatten.</p><lb/> <p>Schon längſt hatte er zu rüſten begonnen; nun befahl er neue Aus-<lb/> hebungen und ließ ſie, „um die Revolution zu ſchrecken“, ganz gegen den<lb/> ruſſiſchen Brauch in den Zeitungen veröffentlichen. Erſt auf Schöler’s<lb/> dringende Vorſtellungen geſtattete er endlich, daß Neſſelrode in einem<lb/> beſchwichtigenden Rundſchreiben an die Geſandtſchaften den Ernſt dieſer<lb/> Drohungen etwas abſchwächte: die angeordneten Vorbereitungen, hieß es<lb/> da, verfolgten nur die Abſicht, den Frieden und die vertragsmäßige Ord-<lb/> nung Europas aufrechtzuerhalten; hoffentlich werde ſchon die Ankündigung<lb/> genügen, um „dieſen Zweck der Erhaltung“ zu erreichen.<note place="foot" n="**)">Schöler, Verbalnote an Neſſelrode, 8. November/27. October 1830; Neſſelrode, Circular-<lb/> Depeſche 29. October a. St., nebſt Begleitſchreiben an Schöler.</note> Unterdeſſen<lb/> erſchöpfte Diebitſch in Berlin ſeine ganze Beredſamkeit, um immer wieder<lb/> zu beweiſen, wie nothwendig der große Krieg und wie leicht er zu führen ſei.<lb/> Doch ſeine diplomatiſchen Künſte, die ſich vor’m Jahre in Adrianopel ſo<lb/> glänzend bewährt hatten, verſagten diesmal. Friedrich Wilhelm blieb feſt,<lb/> und als der Feldmarſchall endlich in den erſten Decembertagen heim-<lb/> kehrte, gab man ihm eine große, ſorgfältig vorbereitete Denkſchrift mit<lb/> auf den Weg, welche dem Czaren noch einmal die leitenden Gedanken<lb/> der preußiſchen Friedenspolitik vor die Augen führen ſollte.<note place="foot" n="***)">Bernſtorff, <hi rendition="#aq">Mémoire sur la position de la grande alliance relativement<lb/> à la France et à l’Europe,</hi> 24. November 1830. Entwurf dazu v. 9. Nov., nebſt<lb/> „Fragen und Anweiſungen“ des Königs.</note></p><lb/> <p>Nichts lag dem Könige ferner als der Gedanke einer Annäherung an<lb/> den liberalen Weſten. Auf dem Bunde der Oſtmächte fußten alle ſeine<lb/> Pläne, und auch der alten übermäßigen Vorliebe für die Ruſſen hatte er<lb/> keineswegs entſagt. „Rußland“, ſo ſagte er, „iſt und bleibt die kräftigſte<lb/> Stütze der Allianz, ſowohl wegen des hochherzigen Charakters ſeines Souve-<lb/> räns, als wegen der Trefflichkeit ſeiner Heere.“ Er wollte nicht den Frieden<lb/> um jeden Preis, ſondern verlangte, die großen Mächte ſollten dem Hofe<lb/> des Palais Royal gemeinſam erklären, daß ſie die Politik der revolutio-<lb/> nären Propaganda nicht dulden würden. Bei offenbarer Feindſeligkeit<lb/> Frankreichs war er bereit, den Krieg ſogar ohne Englands Mitwirkung<lb/> zu beginnen, während man in Petersburg ſelbſt noch immer an die Fort-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0069]
Ruſſiſche Rüſtungen.
auf, ſeine Kriegsluſt war kaum mehr zu bändigen. „Ich habe“, ſagte er
heftig, „von vornherein für die Legitimität kämpfen wollen und mich nur,
weil ich der Jüngere bin, der reiferen Erfahrung des Königs gefügt.“
Jetzt aber glaubte er zu wiſſen, daß nicht bloß die königlichen Prinzen,
ſondern auch ſein Schwiegervater ſelber ſeine Anſicht theile und allein
Bernſtorff mit den anderen Miniſtern die lauen Maßregeln Preußens
veranlaßt habe. *) Nur ſchwer gab er dieſen Verdacht auf, den wahr-
ſcheinlich Metternich’s Mittheilungen an Orlow hervorgerufen hatten.
Schon längſt hatte er zu rüſten begonnen; nun befahl er neue Aus-
hebungen und ließ ſie, „um die Revolution zu ſchrecken“, ganz gegen den
ruſſiſchen Brauch in den Zeitungen veröffentlichen. Erſt auf Schöler’s
dringende Vorſtellungen geſtattete er endlich, daß Neſſelrode in einem
beſchwichtigenden Rundſchreiben an die Geſandtſchaften den Ernſt dieſer
Drohungen etwas abſchwächte: die angeordneten Vorbereitungen, hieß es
da, verfolgten nur die Abſicht, den Frieden und die vertragsmäßige Ord-
nung Europas aufrechtzuerhalten; hoffentlich werde ſchon die Ankündigung
genügen, um „dieſen Zweck der Erhaltung“ zu erreichen. **) Unterdeſſen
erſchöpfte Diebitſch in Berlin ſeine ganze Beredſamkeit, um immer wieder
zu beweiſen, wie nothwendig der große Krieg und wie leicht er zu führen ſei.
Doch ſeine diplomatiſchen Künſte, die ſich vor’m Jahre in Adrianopel ſo
glänzend bewährt hatten, verſagten diesmal. Friedrich Wilhelm blieb feſt,
und als der Feldmarſchall endlich in den erſten Decembertagen heim-
kehrte, gab man ihm eine große, ſorgfältig vorbereitete Denkſchrift mit
auf den Weg, welche dem Czaren noch einmal die leitenden Gedanken
der preußiſchen Friedenspolitik vor die Augen führen ſollte. ***)
Nichts lag dem Könige ferner als der Gedanke einer Annäherung an
den liberalen Weſten. Auf dem Bunde der Oſtmächte fußten alle ſeine
Pläne, und auch der alten übermäßigen Vorliebe für die Ruſſen hatte er
keineswegs entſagt. „Rußland“, ſo ſagte er, „iſt und bleibt die kräftigſte
Stütze der Allianz, ſowohl wegen des hochherzigen Charakters ſeines Souve-
räns, als wegen der Trefflichkeit ſeiner Heere.“ Er wollte nicht den Frieden
um jeden Preis, ſondern verlangte, die großen Mächte ſollten dem Hofe
des Palais Royal gemeinſam erklären, daß ſie die Politik der revolutio-
nären Propaganda nicht dulden würden. Bei offenbarer Feindſeligkeit
Frankreichs war er bereit, den Krieg ſogar ohne Englands Mitwirkung
zu beginnen, während man in Petersburg ſelbſt noch immer an die Fort-
*) Schöler’s Bericht 21. Nov. 1830.
**) Schöler, Verbalnote an Neſſelrode, 8. November/27. October 1830; Neſſelrode, Circular-
Depeſche 29. October a. St., nebſt Begleitſchreiben an Schöler.
***) Bernſtorff, Mémoire sur la position de la grande alliance relativement
à la France et à l’Europe, 24. November 1830. Entwurf dazu v. 9. Nov., nebſt
„Fragen und Anweiſungen“ des Königs.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |