dauer des Vierbundes glaubte. Aber er ließ zugleich dem Czaren vor- halten, daß dieser schwere Krieg die öffentliche Meinung der Deutschen entschieden gegen sich habe, vielleicht sogar Aufstände in Deutschland und Polen hervorrufen würde. Auf die alte Freudigkeit der Preußen sei nur zu rechnen, wenn das Volk wisse, daß man alle friedlichen Mittel erschöpft habe. Darum verlangte er eine genaue, unzweideutige Verabredung: wann der Kriegsfall gegeben sei?
Es war die Sprache des ruhigen Verstandes; aber wie konnte sie den blinden Haß überzeugen? Hier der prahlerische Hochmuth des Selbst- herrschers, dort die freche Begehrlichkeit der Revolution, hüben und drüben die wachsende Wucht der Rüstungen -- wer konnte diesen Mächten des Verderbens noch Einhalt gebieten auf ihrer abschüssigen Bahn? Gegen Ende Novembers war die Luft mit Zündstoff überladen; mit der einzigen Ausnahme des allezeit hoffnungsvollen Gentz glaubten gerade die ein- sichtigsten und bestunterrichteten Staatsmänner allesammt, daß der Welt- friede nur noch an einem Faden hänge. --
Da trat ein Ereigniß ein, das die Leidenschaften der Parteien über- all in Europa von Neuem aufstachelte und doch zugleich der Erhaltung des Friedens zu statten kam. Die in aller Welt verbreiteten überspannten Vorstellungen von Rußlands kriegerischer Macht hatten schon durch die Erfahrungen des Türkenkrieges einen ersten Stoß erlitten; sie schwächten sich noch mehr ab, seit in Europa etwas ruchbar ward von den Ver- heerungen der asiatischen Cholera. Die furchtbare Seuche, die erst im Jahre 1817 in ihrem uralten Heimathslande Ostindien von englischen Aerzten beobachtet worden war, drang seit dem Sommer 1829, zumeist den Wasserläufen folgend, im Innern Rußlands unaufhaltsam vor. Da die Heilkunde noch rathlos vor der geheimnißvollen Krankheit stand, so griff der Staat zu den härtesten Vorsichtsmaßregeln: ganze Provinzen wurden abgesperrt, alle Briefe durchstochen, die Reisenden durchräuchert und in Quarantäne gehalten; aber die Roheit des Volks und die Un- zuverlässigkeit der Beamten brach allen Vorschriften die Spitze ab. Im September 1830 kam die Cholera nach Moskau; der Pöbel wüthete gegen die Polen und die anderen Fremden, die den Giftstoff eingeschleppt haben sollten; nur das persönliche Eingreifen des furchtlosen Czaren stellte die Ruhe wieder her. In manchen Theilen des ungeheueren Reiches war alle bürgerliche Ordnung so aufgelöst wie einst in Westeuropa, als der schwarze Tod durch die Lande raste. Freund und Feind begannen schon zu ahnen, ein also heimgesuchter Staat werde schwerlich ein großes Heer über seine Grenzen hinaussenden können. Und diese Vermuthung ward zur Gewißheit, als am 29. November plötzlich der Aufruhr in Warschau ausbrach.
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
dauer des Vierbundes glaubte. Aber er ließ zugleich dem Czaren vor- halten, daß dieſer ſchwere Krieg die öffentliche Meinung der Deutſchen entſchieden gegen ſich habe, vielleicht ſogar Aufſtände in Deutſchland und Polen hervorrufen würde. Auf die alte Freudigkeit der Preußen ſei nur zu rechnen, wenn das Volk wiſſe, daß man alle friedlichen Mittel erſchöpft habe. Darum verlangte er eine genaue, unzweideutige Verabredung: wann der Kriegsfall gegeben ſei?
Es war die Sprache des ruhigen Verſtandes; aber wie konnte ſie den blinden Haß überzeugen? Hier der prahleriſche Hochmuth des Selbſt- herrſchers, dort die freche Begehrlichkeit der Revolution, hüben und drüben die wachſende Wucht der Rüſtungen — wer konnte dieſen Mächten des Verderbens noch Einhalt gebieten auf ihrer abſchüſſigen Bahn? Gegen Ende Novembers war die Luft mit Zündſtoff überladen; mit der einzigen Ausnahme des allezeit hoffnungsvollen Gentz glaubten gerade die ein- ſichtigſten und beſtunterrichteten Staatsmänner alleſammt, daß der Welt- friede nur noch an einem Faden hänge. —
Da trat ein Ereigniß ein, das die Leidenſchaften der Parteien über- all in Europa von Neuem aufſtachelte und doch zugleich der Erhaltung des Friedens zu ſtatten kam. Die in aller Welt verbreiteten überſpannten Vorſtellungen von Rußlands kriegeriſcher Macht hatten ſchon durch die Erfahrungen des Türkenkrieges einen erſten Stoß erlitten; ſie ſchwächten ſich noch mehr ab, ſeit in Europa etwas ruchbar ward von den Ver- heerungen der aſiatiſchen Cholera. Die furchtbare Seuche, die erſt im Jahre 1817 in ihrem uralten Heimathslande Oſtindien von engliſchen Aerzten beobachtet worden war, drang ſeit dem Sommer 1829, zumeiſt den Waſſerläufen folgend, im Innern Rußlands unaufhaltſam vor. Da die Heilkunde noch rathlos vor der geheimnißvollen Krankheit ſtand, ſo griff der Staat zu den härteſten Vorſichtsmaßregeln: ganze Provinzen wurden abgeſperrt, alle Briefe durchſtochen, die Reiſenden durchräuchert und in Quarantäne gehalten; aber die Roheit des Volks und die Un- zuverläſſigkeit der Beamten brach allen Vorſchriften die Spitze ab. Im September 1830 kam die Cholera nach Moskau; der Pöbel wüthete gegen die Polen und die anderen Fremden, die den Giftſtoff eingeſchleppt haben ſollten; nur das perſönliche Eingreifen des furchtloſen Czaren ſtellte die Ruhe wieder her. In manchen Theilen des ungeheueren Reiches war alle bürgerliche Ordnung ſo aufgelöſt wie einſt in Weſteuropa, als der ſchwarze Tod durch die Lande raſte. Freund und Feind begannen ſchon zu ahnen, ein alſo heimgeſuchter Staat werde ſchwerlich ein großes Heer über ſeine Grenzen hinausſenden können. Und dieſe Vermuthung ward zur Gewißheit, als am 29. November plötzlich der Aufruhr in Warſchau ausbrach.
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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
dauer des Vierbundes glaubte. Aber er ließ zugleich dem Czaren vor-
halten, daß dieſer ſchwere Krieg die öffentliche Meinung der Deutſchen
entſchieden gegen ſich habe, vielleicht ſogar Aufſtände in Deutſchland und
Polen hervorrufen würde. Auf die alte Freudigkeit der Preußen ſei nur
zu rechnen, wenn das Volk wiſſe, daß man alle friedlichen Mittel erſchöpft
habe. Darum verlangte er eine genaue, unzweideutige Verabredung:
wann der Kriegsfall gegeben ſei?
Es war die Sprache des ruhigen Verſtandes; aber wie konnte ſie
den blinden Haß überzeugen? Hier der prahleriſche Hochmuth des Selbſt-
herrſchers, dort die freche Begehrlichkeit der Revolution, hüben und drüben
die wachſende Wucht der Rüſtungen — wer konnte dieſen Mächten des
Verderbens noch Einhalt gebieten auf ihrer abſchüſſigen Bahn? Gegen
Ende Novembers war die Luft mit Zündſtoff überladen; mit der einzigen
Ausnahme des allezeit hoffnungsvollen Gentz glaubten gerade die ein-
ſichtigſten und beſtunterrichteten Staatsmänner alleſammt, daß der Welt-
friede nur noch an einem Faden hänge. —
Da trat ein Ereigniß ein, das die Leidenſchaften der Parteien über-
all in Europa von Neuem aufſtachelte und doch zugleich der Erhaltung
des Friedens zu ſtatten kam. Die in aller Welt verbreiteten überſpannten
Vorſtellungen von Rußlands kriegeriſcher Macht hatten ſchon durch die
Erfahrungen des Türkenkrieges einen erſten Stoß erlitten; ſie ſchwächten
ſich noch mehr ab, ſeit in Europa etwas ruchbar ward von den Ver-
heerungen der aſiatiſchen Cholera. Die furchtbare Seuche, die erſt im
Jahre 1817 in ihrem uralten Heimathslande Oſtindien von engliſchen
Aerzten beobachtet worden war, drang ſeit dem Sommer 1829, zumeiſt
den Waſſerläufen folgend, im Innern Rußlands unaufhaltſam vor. Da
die Heilkunde noch rathlos vor der geheimnißvollen Krankheit ſtand, ſo
griff der Staat zu den härteſten Vorſichtsmaßregeln: ganze Provinzen
wurden abgeſperrt, alle Briefe durchſtochen, die Reiſenden durchräuchert
und in Quarantäne gehalten; aber die Roheit des Volks und die Un-
zuverläſſigkeit der Beamten brach allen Vorſchriften die Spitze ab. Im
September 1830 kam die Cholera nach Moskau; der Pöbel wüthete gegen
die Polen und die anderen Fremden, die den Giftſtoff eingeſchleppt haben
ſollten; nur das perſönliche Eingreifen des furchtloſen Czaren ſtellte die
Ruhe wieder her. In manchen Theilen des ungeheueren Reiches war
alle bürgerliche Ordnung ſo aufgelöſt wie einſt in Weſteuropa, als der
ſchwarze Tod durch die Lande raſte. Freund und Feind begannen ſchon
zu ahnen, ein alſo heimgeſuchter Staat werde ſchwerlich ein großes Heer
über ſeine Grenzen hinausſenden können. Und dieſe Vermuthung ward
zur Gewißheit, als am 29. November plötzlich der Aufruhr in Warſchau
ausbrach.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/70>, abgerufen am 26.11.2024.
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