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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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XVII. Canning und Deutschland.
constances avec les doutes, les suppositions et la politique du parti revolution-
naire en Allemagne, et on se demande quelle peut etre la tendance d'une opi-
nion aussi peu fondee et aussi divergeante de celle que professent les autres
cours d'Allemagne.

Demnach wird Rechberg angewiesen, das Verhalten Württembergs in Berlin scharf
zu beobachten. --


XVII. Canning und Deutschland.
Zu Bd. III. 264. IV. 27.

Das wunderliche Bild des weitherzigen, immer neue Welten zur Freiheit aufrufenden
Kosmopoliten Canning würde aus der deutschen Geschichtschreibung längst verschwunden
sein, wenn man bei uns die Satiren kennte, welche Canning in den Jahren 1797 und 98
für William Gifford's Zeitschrift The Anti-Jacobin schrieb. Der Anti-Jacobin ist in
Deutschland schwer aufzutreiben, ich habe erst nach langem Suchen ein Exemplar in der
Bibliothek des Königs Georg zu Hannover aufgefunden. Die satirischen Gedichte aber, die
er enthält, werden unter dem Titel The poetry of the Anti-Jacobin in England noch
immer viel gelesen und neu gedruckt; sie bildeten vor Jahren eine der Quellen, aus denen
der general reader seine Ansichten vom deutschen Leben schöpfte. Die Satire Canning's
The Rovers or the double arrangement nennt Niebuhr in den Vorlesungen über die
Geschichte des Revolutionszeitalters "das infamste Pasquill, das je auf Deutschland ge-
schrieben ist, fast ebenso niederträchtig als Bahrdt mit der eisernen Stirn": Liederlichkeit,
Blutschande, Atheismus würden hier als Charakter des deutschen Wesens dargestellt,
überhaupt verhöhne der Anti-Jacobin "das Würdigste des Auslandes auf das Schänd-
lichste". Niebuhr urtheilte offenbar nach Jugenderinnerungen; er entsann sich noch, wie
tief es ihn einst gekränkt hatte, die ersten Werke unserer werdenden classischen Dichtung
durch das Toryblatt beschimpft zu sehen. Heute sind wir weniger reizbar, aber auch
wir erstaunen noch über die insularische Beschränktheit, den verständnißlosen Hochmuth
des Anti-Jacobin. Canning konnte kein Wort deutsch, wie die lächerlichen deutschen Citate
beweisen. Er hat allem Anscheine nach selbst die Namen von Schiller und Goethe nicht
gekannt, sondern nur aus Zeitungsartikeln und schlechten Uebersetzungen erfahren, daß
in Deutschland einige radicale Dichter ihr Wesen trieben; er ahnte dunkel die Verwandt-
schaft zwischen den Ideen der Revolution und der Schwärmerei unserer literarischen
Stürmer und Dränger. Da er unter den Torys Wunderdinge über das gottlose Göttinger
Burschenleben gehört hatte, so glaubte er im Ernst, daß die ganze Studentenschaft einer
deutschen Hochschule, begeistert durch "die Räuber" zur Wegelagerung auf die Landstraßen
hinausgezogen sei. Goethe's Stella, die bekanntlich in ihrer ursprünglichen Fassung mit
einer Bigamie endigte, Schiller's Räuber, Kabale und Liebe und andere dem Briten nur
dem Namen nach bekannte deutsche Werke boten ihm nun den Anlaß, in der Parodie
The Rovers die deutsche Nation als eine Lumpengesellschaft zu schildern, die Jedem er-
laube "Alles zu thun, was, wo, wann und wie er wolle". Nur die deutschen Flüche
ließ er zartfühlend hinweg, "weil englische Ohren daran noch nicht genugsam gewöhnt
seien". Das Stück ist nicht ohne Witz, an einzelnen Stellen sogar treffend, aber nur
eine Burleske des gemeinen Schlages, im Stile unserer heutigen Witzblätter. Frisches
Leben zeigt sich fast allein in den eingewobenen Schlemperliedern, so in dem bekannten,
von der englischen Jugend einst viel gesungenen:

Alas! Mathilda then was true.
At least I thought so at the U-
Niversity of Gottingen.

XVII. Canning und Deutſchland.
constances avec les doutes, les suppositions et la politique du parti révolution-
naire en Allemagne, et on se demande quelle peut être la tendance d’une opi-
nion aussi peu fondée et aussi divergeante de celle que professent les autres
cours d’Allemagne.

Demnach wird Rechberg angewieſen, das Verhalten Württembergs in Berlin ſcharf
zu beobachten. —


XVII. Canning und Deutſchland.
Zu Bd. III. 264. IV. 27.

Das wunderliche Bild des weitherzigen, immer neue Welten zur Freiheit aufrufenden
Kosmopoliten Canning würde aus der deutſchen Geſchichtſchreibung längſt verſchwunden
ſein, wenn man bei uns die Satiren kennte, welche Canning in den Jahren 1797 und 98
für William Gifford’s Zeitſchrift The Anti-Jacobin ſchrieb. Der Anti-Jacobin iſt in
Deutſchland ſchwer aufzutreiben, ich habe erſt nach langem Suchen ein Exemplar in der
Bibliothek des Königs Georg zu Hannover aufgefunden. Die ſatiriſchen Gedichte aber, die
er enthält, werden unter dem Titel The poetry of the Anti-Jacobin in England noch
immer viel geleſen und neu gedruckt; ſie bildeten vor Jahren eine der Quellen, aus denen
der general reader ſeine Anſichten vom deutſchen Leben ſchöpfte. Die Satire Canning’s
The Rovers or the double arrangement nennt Niebuhr in den Vorleſungen über die
Geſchichte des Revolutionszeitalters „das infamſte Pasquill, das je auf Deutſchland ge-
ſchrieben iſt, faſt ebenſo niederträchtig als Bahrdt mit der eiſernen Stirn“: Liederlichkeit,
Blutſchande, Atheismus würden hier als Charakter des deutſchen Weſens dargeſtellt,
überhaupt verhöhne der Anti-Jacobin „das Würdigſte des Auslandes auf das Schänd-
lichſte“. Niebuhr urtheilte offenbar nach Jugenderinnerungen; er entſann ſich noch, wie
tief es ihn einſt gekränkt hatte, die erſten Werke unſerer werdenden claſſiſchen Dichtung
durch das Toryblatt beſchimpft zu ſehen. Heute ſind wir weniger reizbar, aber auch
wir erſtaunen noch über die inſulariſche Beſchränktheit, den verſtändnißloſen Hochmuth
des Anti-Jacobin. Canning konnte kein Wort deutſch, wie die lächerlichen deutſchen Citate
beweiſen. Er hat allem Anſcheine nach ſelbſt die Namen von Schiller und Goethe nicht
gekannt, ſondern nur aus Zeitungsartikeln und ſchlechten Ueberſetzungen erfahren, daß
in Deutſchland einige radicale Dichter ihr Weſen trieben; er ahnte dunkel die Verwandt-
ſchaft zwiſchen den Ideen der Revolution und der Schwärmerei unſerer literariſchen
Stürmer und Dränger. Da er unter den Torys Wunderdinge über das gottloſe Göttinger
Burſchenleben gehört hatte, ſo glaubte er im Ernſt, daß die ganze Studentenſchaft einer
deutſchen Hochſchule, begeiſtert durch „die Räuber“ zur Wegelagerung auf die Landſtraßen
hinausgezogen ſei. Goethe’s Stella, die bekanntlich in ihrer urſprünglichen Faſſung mit
einer Bigamie endigte, Schiller’s Räuber, Kabale und Liebe und andere dem Briten nur
dem Namen nach bekannte deutſche Werke boten ihm nun den Anlaß, in der Parodie
The Rovers die deutſche Nation als eine Lumpengeſellſchaft zu ſchildern, die Jedem er-
laube „Alles zu thun, was, wo, wann und wie er wolle“. Nur die deutſchen Flüche
ließ er zartfühlend hinweg, „weil engliſche Ohren daran noch nicht genugſam gewöhnt
ſeien“. Das Stück iſt nicht ohne Witz, an einzelnen Stellen ſogar treffend, aber nur
eine Burleske des gemeinen Schlages, im Stile unſerer heutigen Witzblätter. Friſches
Leben zeigt ſich faſt allein in den eingewobenen Schlemperliedern, ſo in dem bekannten,
von der engliſchen Jugend einſt viel geſungenen:

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At least I thought so at the U-
Niversity of Gottingen.
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[732/0746] XVII. Canning und Deutſchland. constances avec les doutes, les suppositions et la politique du parti révolution- naire en Allemagne, et on se demande quelle peut être la tendance d’une opi- nion aussi peu fondée et aussi divergeante de celle que professent les autres cours d’Allemagne. Demnach wird Rechberg angewieſen, das Verhalten Württembergs in Berlin ſcharf zu beobachten. — XVII. Canning und Deutſchland. Zu Bd. III. 264. IV. 27. Das wunderliche Bild des weitherzigen, immer neue Welten zur Freiheit aufrufenden Kosmopoliten Canning würde aus der deutſchen Geſchichtſchreibung längſt verſchwunden ſein, wenn man bei uns die Satiren kennte, welche Canning in den Jahren 1797 und 98 für William Gifford’s Zeitſchrift The Anti-Jacobin ſchrieb. Der Anti-Jacobin iſt in Deutſchland ſchwer aufzutreiben, ich habe erſt nach langem Suchen ein Exemplar in der Bibliothek des Königs Georg zu Hannover aufgefunden. Die ſatiriſchen Gedichte aber, die er enthält, werden unter dem Titel The poetry of the Anti-Jacobin in England noch immer viel geleſen und neu gedruckt; ſie bildeten vor Jahren eine der Quellen, aus denen der general reader ſeine Anſichten vom deutſchen Leben ſchöpfte. Die Satire Canning’s The Rovers or the double arrangement nennt Niebuhr in den Vorleſungen über die Geſchichte des Revolutionszeitalters „das infamſte Pasquill, das je auf Deutſchland ge- ſchrieben iſt, faſt ebenſo niederträchtig als Bahrdt mit der eiſernen Stirn“: Liederlichkeit, Blutſchande, Atheismus würden hier als Charakter des deutſchen Weſens dargeſtellt, überhaupt verhöhne der Anti-Jacobin „das Würdigſte des Auslandes auf das Schänd- lichſte“. Niebuhr urtheilte offenbar nach Jugenderinnerungen; er entſann ſich noch, wie tief es ihn einſt gekränkt hatte, die erſten Werke unſerer werdenden claſſiſchen Dichtung durch das Toryblatt beſchimpft zu ſehen. Heute ſind wir weniger reizbar, aber auch wir erſtaunen noch über die inſulariſche Beſchränktheit, den verſtändnißloſen Hochmuth des Anti-Jacobin. Canning konnte kein Wort deutſch, wie die lächerlichen deutſchen Citate beweiſen. Er hat allem Anſcheine nach ſelbſt die Namen von Schiller und Goethe nicht gekannt, ſondern nur aus Zeitungsartikeln und ſchlechten Ueberſetzungen erfahren, daß in Deutſchland einige radicale Dichter ihr Weſen trieben; er ahnte dunkel die Verwandt- ſchaft zwiſchen den Ideen der Revolution und der Schwärmerei unſerer literariſchen Stürmer und Dränger. Da er unter den Torys Wunderdinge über das gottloſe Göttinger Burſchenleben gehört hatte, ſo glaubte er im Ernſt, daß die ganze Studentenſchaft einer deutſchen Hochſchule, begeiſtert durch „die Räuber“ zur Wegelagerung auf die Landſtraßen hinausgezogen ſei. Goethe’s Stella, die bekanntlich in ihrer urſprünglichen Faſſung mit einer Bigamie endigte, Schiller’s Räuber, Kabale und Liebe und andere dem Briten nur dem Namen nach bekannte deutſche Werke boten ihm nun den Anlaß, in der Parodie The Rovers die deutſche Nation als eine Lumpengeſellſchaft zu ſchildern, die Jedem er- laube „Alles zu thun, was, wo, wann und wie er wolle“. Nur die deutſchen Flüche ließ er zartfühlend hinweg, „weil engliſche Ohren daran noch nicht genugſam gewöhnt ſeien“. Das Stück iſt nicht ohne Witz, an einzelnen Stellen ſogar treffend, aber nur eine Burleske des gemeinen Schlages, im Stile unſerer heutigen Witzblätter. Friſches Leben zeigt ſich faſt allein in den eingewobenen Schlemperliedern, ſo in dem bekannten, von der engliſchen Jugend einſt viel geſungenen: Alas! Mathilda then was true. At least I thought so at the U- Niversity of Gottingen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 732. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/746>, abgerufen am 24.11.2024.