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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Krieg in Polen.
den: wäre man in Berlin meinem Rathe gefolgt, so ständen heute das
polnische Heer am Rhein, das russische an der Weichsel; und einem Ab-
gesandten der Warschauer Regierung erwiderte er spöttisch: Ihr habt die
Zeit schlecht gewählt, die Kriegsmacht des Kaisers rückt bereits nach dem
Westen vor! Der Feldmarschall erhielt den Oberbefehl und hoffte schon
im Februar unter den polnischen Empörern aufzuräumen; war dort die
Revolution gebändigt, so sollte Preußen in den großen Kreuzzug für die
Legitimität hineingerissen werden und im Mai das Heer des Türken-
besiegers am Rheine eintreffen. Darum erging Marschbefehl an die
Garden, die erst im März, also nach der erhofften Unterwerfung, in
Polen anlangen konnten, auch die kaiserliche Feld-Equipage war schon
unterwegs. Die Russen zogen freudig in den Kampf gegen die alten
Feinde ihrer Nation; überall ging die Rede: den einzigen Lohn, den
Rußland aus seinem siegreichen Kriege wider ganz Europa davongetragen
hat, lassen wir uns nicht rauben. Sie grollten längst, weil dies eroberte
Land größerer Rechte genoß als die Eroberer selber; jetzt forderten sie
laut die völlige Einverleibung des meuterischen Nebenreiches.*) Nach-
haltigen Widerstand befürchtete Niemand; die meisten Offiziere der Garde
erwarteten gleich dem Feldmarschall einen raschen Siegeszug bis zur Seine,
und mancher sagte beim Abschied, erst aus Paris werde er heimschreiben.
Der Uebermuth der Moskowiter sollte sich hart bestrafen.

Durch die europäischen Kreuzzugspläne des Czaren wurde der polnische
Feldzug schon in seiner Anlage verdorben, wie General Schöler warnend vor-
hersagte. Diebitsch begann den Krieg zu früh, mit ungenügenden Mitteln;
um nur rasch fertig zu werden führte er sogar die litthauischen Truppen,
deren Treue längst verdächtig war, gegen ihre polnischen Landsleute ins
Feuer.**) Das herrische Manifest, das vor ihm herging, verschärfte lediglich
den Haß; auf dem Schlachtfelde vergaßen die Polen ihrer Zwietracht
und bewährten überall den alten Muth. Als Diebitsch gradeswegs gegen
Warschau vorgedrungen, bei Grochow auf dem alten Schlachtenboden des
rechten Weichselufers die Polen geschlagen hatte (25. Februar), da fühlte
er sich nicht mehr stark genug den Sieg zu benutzen, ganz wie einst König
Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1794; er wagte nicht, nach dem Rathe
seines kühnen Generalstabschefs Toll, den Brückenkopf der Hauptstadt,
Praga zu stürmen und also mit einem Schlage den Krieg zu beendigen.
Und ganz wie damals wendete sich das Blatt sobald der günstige Augen-
blick versäumt war. Das russische Heer mußte den Rückzug antreten,
durch weglose Gelände, bei unerwartet frühem Thauwetter; die Cholera
wüthete in seinen Reihen. Zu Ende März brachen die Polen, jetzt von
dem tapferen Skrzynecki geführt, aus den Wällen Pragas hervor, schlugen

*) Schöler's Bericht, 29. Januar 1831.
**) Schöler's Berichte, 16. Januar, 22. März, 2. Mai 1831.

Krieg in Polen.
den: wäre man in Berlin meinem Rathe gefolgt, ſo ſtänden heute das
polniſche Heer am Rhein, das ruſſiſche an der Weichſel; und einem Ab-
geſandten der Warſchauer Regierung erwiderte er ſpöttiſch: Ihr habt die
Zeit ſchlecht gewählt, die Kriegsmacht des Kaiſers rückt bereits nach dem
Weſten vor! Der Feldmarſchall erhielt den Oberbefehl und hoffte ſchon
im Februar unter den polniſchen Empörern aufzuräumen; war dort die
Revolution gebändigt, ſo ſollte Preußen in den großen Kreuzzug für die
Legitimität hineingeriſſen werden und im Mai das Heer des Türken-
beſiegers am Rheine eintreffen. Darum erging Marſchbefehl an die
Garden, die erſt im März, alſo nach der erhofften Unterwerfung, in
Polen anlangen konnten, auch die kaiſerliche Feld-Equipage war ſchon
unterwegs. Die Ruſſen zogen freudig in den Kampf gegen die alten
Feinde ihrer Nation; überall ging die Rede: den einzigen Lohn, den
Rußland aus ſeinem ſiegreichen Kriege wider ganz Europa davongetragen
hat, laſſen wir uns nicht rauben. Sie grollten längſt, weil dies eroberte
Land größerer Rechte genoß als die Eroberer ſelber; jetzt forderten ſie
laut die völlige Einverleibung des meuteriſchen Nebenreiches.*) Nach-
haltigen Widerſtand befürchtete Niemand; die meiſten Offiziere der Garde
erwarteten gleich dem Feldmarſchall einen raſchen Siegeszug bis zur Seine,
und mancher ſagte beim Abſchied, erſt aus Paris werde er heimſchreiben.
Der Uebermuth der Moskowiter ſollte ſich hart beſtrafen.

Durch die europäiſchen Kreuzzugspläne des Czaren wurde der polniſche
Feldzug ſchon in ſeiner Anlage verdorben, wie General Schöler warnend vor-
herſagte. Diebitſch begann den Krieg zu früh, mit ungenügenden Mitteln;
um nur raſch fertig zu werden führte er ſogar die litthauiſchen Truppen,
deren Treue längſt verdächtig war, gegen ihre polniſchen Landsleute ins
Feuer.**) Das herriſche Manifeſt, das vor ihm herging, verſchärfte lediglich
den Haß; auf dem Schlachtfelde vergaßen die Polen ihrer Zwietracht
und bewährten überall den alten Muth. Als Diebitſch gradeswegs gegen
Warſchau vorgedrungen, bei Grochow auf dem alten Schlachtenboden des
rechten Weichſelufers die Polen geſchlagen hatte (25. Februar), da fühlte
er ſich nicht mehr ſtark genug den Sieg zu benutzen, ganz wie einſt König
Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1794; er wagte nicht, nach dem Rathe
ſeines kühnen Generalſtabschefs Toll, den Brückenkopf der Hauptſtadt,
Praga zu ſtürmen und alſo mit einem Schlage den Krieg zu beendigen.
Und ganz wie damals wendete ſich das Blatt ſobald der günſtige Augen-
blick verſäumt war. Das ruſſiſche Heer mußte den Rückzug antreten,
durch wegloſe Gelände, bei unerwartet frühem Thauwetter; die Cholera
wüthete in ſeinen Reihen. Zu Ende März brachen die Polen, jetzt von
dem tapferen Skrzynecki geführt, aus den Wällen Pragas hervor, ſchlugen

*) Schöler’s Bericht, 29. Januar 1831.
**) Schöler’s Berichte, 16. Januar, 22. März, 2. Mai 1831.
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[61/0075] Krieg in Polen. den: wäre man in Berlin meinem Rathe gefolgt, ſo ſtänden heute das polniſche Heer am Rhein, das ruſſiſche an der Weichſel; und einem Ab- geſandten der Warſchauer Regierung erwiderte er ſpöttiſch: Ihr habt die Zeit ſchlecht gewählt, die Kriegsmacht des Kaiſers rückt bereits nach dem Weſten vor! Der Feldmarſchall erhielt den Oberbefehl und hoffte ſchon im Februar unter den polniſchen Empörern aufzuräumen; war dort die Revolution gebändigt, ſo ſollte Preußen in den großen Kreuzzug für die Legitimität hineingeriſſen werden und im Mai das Heer des Türken- beſiegers am Rheine eintreffen. Darum erging Marſchbefehl an die Garden, die erſt im März, alſo nach der erhofften Unterwerfung, in Polen anlangen konnten, auch die kaiſerliche Feld-Equipage war ſchon unterwegs. Die Ruſſen zogen freudig in den Kampf gegen die alten Feinde ihrer Nation; überall ging die Rede: den einzigen Lohn, den Rußland aus ſeinem ſiegreichen Kriege wider ganz Europa davongetragen hat, laſſen wir uns nicht rauben. Sie grollten längſt, weil dies eroberte Land größerer Rechte genoß als die Eroberer ſelber; jetzt forderten ſie laut die völlige Einverleibung des meuteriſchen Nebenreiches. *) Nach- haltigen Widerſtand befürchtete Niemand; die meiſten Offiziere der Garde erwarteten gleich dem Feldmarſchall einen raſchen Siegeszug bis zur Seine, und mancher ſagte beim Abſchied, erſt aus Paris werde er heimſchreiben. Der Uebermuth der Moskowiter ſollte ſich hart beſtrafen. Durch die europäiſchen Kreuzzugspläne des Czaren wurde der polniſche Feldzug ſchon in ſeiner Anlage verdorben, wie General Schöler warnend vor- herſagte. Diebitſch begann den Krieg zu früh, mit ungenügenden Mitteln; um nur raſch fertig zu werden führte er ſogar die litthauiſchen Truppen, deren Treue längſt verdächtig war, gegen ihre polniſchen Landsleute ins Feuer. **) Das herriſche Manifeſt, das vor ihm herging, verſchärfte lediglich den Haß; auf dem Schlachtfelde vergaßen die Polen ihrer Zwietracht und bewährten überall den alten Muth. Als Diebitſch gradeswegs gegen Warſchau vorgedrungen, bei Grochow auf dem alten Schlachtenboden des rechten Weichſelufers die Polen geſchlagen hatte (25. Februar), da fühlte er ſich nicht mehr ſtark genug den Sieg zu benutzen, ganz wie einſt König Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1794; er wagte nicht, nach dem Rathe ſeines kühnen Generalſtabschefs Toll, den Brückenkopf der Hauptſtadt, Praga zu ſtürmen und alſo mit einem Schlage den Krieg zu beendigen. Und ganz wie damals wendete ſich das Blatt ſobald der günſtige Augen- blick verſäumt war. Das ruſſiſche Heer mußte den Rückzug antreten, durch wegloſe Gelände, bei unerwartet frühem Thauwetter; die Cholera wüthete in ſeinen Reihen. Zu Ende März brachen die Polen, jetzt von dem tapferen Skrzynecki geführt, aus den Wällen Pragas hervor, ſchlugen *) Schöler’s Bericht, 29. Januar 1831. **) Schöler’s Berichte, 16. Januar, 22. März, 2. Mai 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/75>, abgerufen am 26.11.2024.