Frohnden abzulösen, den Bauern Grundeigenthum zu geben, ward vom Reichstage verworfen. Eine Zeitlang wiegte man sich noch in dem kind- lichen Wahne, der Czar könne durch friedliche Verhandlungen beschwichtigt, ja sogar zur Einverleibung von Litthauen und Podolien bewogen werden. Bald aber errang sich der Radicalismus das Herrenrecht, das ihm bei Aufständen gebührt. Adam Czartoryski und sein gemäßigter Anhang mußte sich den Geboten Lelewel's, Mochnacki's und der Jacobinerpartei fügen. Am 25. Januar 1831 beschloß der Reichstag die Entthronung des Hauses Romanow.
Die große Woche der Polen ward von der gesammten liberalen Welt Europas kaum minder freudig begrüßt als die Juli-Revolution selber. Der alte Haß gegen die russische Selbstherrschaft, der schon in den ersten Friedensjahren sich geregt und erst während des Türkenkrieges sich etwas vorloren hatte, flammte wieder auf; Niemand wollte bemerken, daß der römische Clerus in Polen fast ebenso eifrig wie in Belgien die Sache des Aufstandes gefördert hatte. Der sarmatische Adel erschien den er- hitzten Köpfen wie ein Vorkämpfer der Freiheit. Auch die menschliche Theilnahme aller weichen Herzen war ihm sicher, da man dies Volk noch überall nach den landläufigen Märchen der französischen Historiker als unschuldiges Opfer einer gewissenlosen Cabinetspolitik bemitleidete. Ein unbefangenes Geschichtswerk über die Theilungen Polens war noch nicht erschienen; selbst Dahlmann wollte in dem selbstverschuldeten Untergange der alten Adelsrepublik nichts sehen als den kalt berechneten Volksmord. Die Polen theilten mit dem römischen Stuhle das Schicksal, daß die ihnen gewidmete Verehrung mit der räumlichen Entfernung wuchs. Ihre Nachbarn in den preußischen Grenzlanden wußten wohl, wie tief der polnische Bauer unter dem russischen stand; im Westen aber, wo Niemand je ein polnisches Dorf betreten hatte, hielt man sich an die herkömmlichen Begriffe von lateinischer und byzantinischer Cultur, und glaubte treuherzig, diese willenlose, von Junkern, Pfaffen, Juden getretene Masse bilde ein starkes Bollwerk gegen die asiatische Barbarei. Die Freiheit der Völker und die Gesittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen Adlers -- so lautete das allgemeine Urtheil.
Der Czar aber ließ sich in seinen vermessenen Entwürfen nicht beirren. Die Warschauer Revolution, so schrieb Nesselrode stolz nach London, "ändert nichts an der Haltung, welche S. Majestät von Anfang an gegenüber den allgemeinen Angelegenheiten Europas eingenommen hat."*) Nikolaus verachtete die Polen, wie jeder echte Moskowiter; auf dem Durch- marsch, in wenigen Wochen sollte sein unbesiegliches Heer diese Empörer zermalmen um dann hinauszufluthen über das rebellische Westeuropa. Auch Diebitsch beharrte in seiner Verblendung. Der meinte selbstzufrie-
*) Nesselrode an Lieven, 4. December (a. St.) 1830.
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Frohnden abzulöſen, den Bauern Grundeigenthum zu geben, ward vom Reichstage verworfen. Eine Zeitlang wiegte man ſich noch in dem kind- lichen Wahne, der Czar könne durch friedliche Verhandlungen beſchwichtigt, ja ſogar zur Einverleibung von Litthauen und Podolien bewogen werden. Bald aber errang ſich der Radicalismus das Herrenrecht, das ihm bei Aufſtänden gebührt. Adam Czartoryski und ſein gemäßigter Anhang mußte ſich den Geboten Lelewel’s, Mochnacki’s und der Jacobinerpartei fügen. Am 25. Januar 1831 beſchloß der Reichstag die Entthronung des Hauſes Romanow.
Die große Woche der Polen ward von der geſammten liberalen Welt Europas kaum minder freudig begrüßt als die Juli-Revolution ſelber. Der alte Haß gegen die ruſſiſche Selbſtherrſchaft, der ſchon in den erſten Friedensjahren ſich geregt und erſt während des Türkenkrieges ſich etwas vorloren hatte, flammte wieder auf; Niemand wollte bemerken, daß der römiſche Clerus in Polen faſt ebenſo eifrig wie in Belgien die Sache des Aufſtandes gefördert hatte. Der ſarmatiſche Adel erſchien den er- hitzten Köpfen wie ein Vorkämpfer der Freiheit. Auch die menſchliche Theilnahme aller weichen Herzen war ihm ſicher, da man dies Volk noch überall nach den landläufigen Märchen der franzöſiſchen Hiſtoriker als unſchuldiges Opfer einer gewiſſenloſen Cabinetspolitik bemitleidete. Ein unbefangenes Geſchichtswerk über die Theilungen Polens war noch nicht erſchienen; ſelbſt Dahlmann wollte in dem ſelbſtverſchuldeten Untergange der alten Adelsrepublik nichts ſehen als den kalt berechneten Volksmord. Die Polen theilten mit dem römiſchen Stuhle das Schickſal, daß die ihnen gewidmete Verehrung mit der räumlichen Entfernung wuchs. Ihre Nachbarn in den preußiſchen Grenzlanden wußten wohl, wie tief der polniſche Bauer unter dem ruſſiſchen ſtand; im Weſten aber, wo Niemand je ein polniſches Dorf betreten hatte, hielt man ſich an die herkömmlichen Begriffe von lateiniſcher und byzantiniſcher Cultur, und glaubte treuherzig, dieſe willenloſe, von Junkern, Pfaffen, Juden getretene Maſſe bilde ein ſtarkes Bollwerk gegen die aſiatiſche Barbarei. Die Freiheit der Völker und die Geſittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen Adlers — ſo lautete das allgemeine Urtheil.
Der Czar aber ließ ſich in ſeinen vermeſſenen Entwürfen nicht beirren. Die Warſchauer Revolution, ſo ſchrieb Neſſelrode ſtolz nach London, „ändert nichts an der Haltung, welche S. Majeſtät von Anfang an gegenüber den allgemeinen Angelegenheiten Europas eingenommen hat.“*) Nikolaus verachtete die Polen, wie jeder echte Moskowiter; auf dem Durch- marſch, in wenigen Wochen ſollte ſein unbeſiegliches Heer dieſe Empörer zermalmen um dann hinauszufluthen über das rebelliſche Weſteuropa. Auch Diebitſch beharrte in ſeiner Verblendung. Der meinte ſelbſtzufrie-
*) Neſſelrode an Lieven, 4. December (a. St.) 1830.
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Frohnden abzulöſen, den Bauern Grundeigenthum zu geben, ward vom
Reichstage verworfen. Eine Zeitlang wiegte man ſich noch in dem kind-
lichen Wahne, der Czar könne durch friedliche Verhandlungen beſchwichtigt,
ja ſogar zur Einverleibung von Litthauen und Podolien bewogen werden.
Bald aber errang ſich der Radicalismus das Herrenrecht, das ihm bei
Aufſtänden gebührt. Adam Czartoryski und ſein gemäßigter Anhang
mußte ſich den Geboten Lelewel’s, Mochnacki’s und der Jacobinerpartei
fügen. Am 25. Januar 1831 beſchloß der Reichstag die Entthronung
des Hauſes Romanow.
Die große Woche der Polen ward von der geſammten liberalen
Welt Europas kaum minder freudig begrüßt als die Juli-Revolution ſelber.
Der alte Haß gegen die ruſſiſche Selbſtherrſchaft, der ſchon in den erſten
Friedensjahren ſich geregt und erſt während des Türkenkrieges ſich etwas
vorloren hatte, flammte wieder auf; Niemand wollte bemerken, daß der
römiſche Clerus in Polen faſt ebenſo eifrig wie in Belgien die Sache
des Aufſtandes gefördert hatte. Der ſarmatiſche Adel erſchien den er-
hitzten Köpfen wie ein Vorkämpfer der Freiheit. Auch die menſchliche
Theilnahme aller weichen Herzen war ihm ſicher, da man dies Volk noch
überall nach den landläufigen Märchen der franzöſiſchen Hiſtoriker als
unſchuldiges Opfer einer gewiſſenloſen Cabinetspolitik bemitleidete. Ein
unbefangenes Geſchichtswerk über die Theilungen Polens war noch nicht
erſchienen; ſelbſt Dahlmann wollte in dem ſelbſtverſchuldeten Untergange
der alten Adelsrepublik nichts ſehen als den kalt berechneten Volksmord.
Die Polen theilten mit dem römiſchen Stuhle das Schickſal, daß die
ihnen gewidmete Verehrung mit der räumlichen Entfernung wuchs. Ihre
Nachbarn in den preußiſchen Grenzlanden wußten wohl, wie tief der
polniſche Bauer unter dem ruſſiſchen ſtand; im Weſten aber, wo Niemand
je ein polniſches Dorf betreten hatte, hielt man ſich an die herkömmlichen
Begriffe von lateiniſcher und byzantiniſcher Cultur, und glaubte treuherzig,
dieſe willenloſe, von Junkern, Pfaffen, Juden getretene Maſſe bilde
ein ſtarkes Bollwerk gegen die aſiatiſche Barbarei. Die Freiheit der
Völker und die Geſittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen
Adlers — ſo lautete das allgemeine Urtheil.
Der Czar aber ließ ſich in ſeinen vermeſſenen Entwürfen nicht beirren.
Die Warſchauer Revolution, ſo ſchrieb Neſſelrode ſtolz nach London,
„ändert nichts an der Haltung, welche S. Majeſtät von Anfang an
gegenüber den allgemeinen Angelegenheiten Europas eingenommen hat.“ *)
Nikolaus verachtete die Polen, wie jeder echte Moskowiter; auf dem Durch-
marſch, in wenigen Wochen ſollte ſein unbeſiegliches Heer dieſe Empörer
zermalmen um dann hinauszufluthen über das rebelliſche Weſteuropa.
Auch Diebitſch beharrte in ſeiner Verblendung. Der meinte ſelbſtzufrie-
*) Neſſelrode an Lieven, 4. December (a. St.) 1830.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/74>, abgerufen am 26.11.2024.
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