Als Leopold gen Brüssel aufbrach, gedachte er Wilhelm's III. von Oranien und seiner kühnen Fahrt nach England. Gleich jenem gefeierten "großen Patrioten der Welt" hoffte er als ein europäischer Staatsmann zugleich den Parlamentarismus zu retten und das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten. Freilich blieb er hinter seinem genialen Vorbilde eben- so weit zurück, wie das kleine Belgien hinter den verbündeten Seemächten der wilhelminischen Tage. Brüssel ward wie einst der Haag eine Stern- warte der Diplomatie; eine Menge amtlicher und persönlicher Agenten unterichtete den Coburger über den Wandel der großen Gestirne am europäischen Himmel. Doch eine wahrhaft selbständige Politik wie einst der große Oranier konnte der König von Belgien nicht führen. Er sah sich auf den Schutz der Westmächte angewiesen und ward darum die Klammer, die ihren Bund zusammenhielt; wie viele kleine Mißverständ- nisse zwischen den beiden ihm gleich nahe verwandten Höfen hat er be- hutsam vermittelnd in der Stille beigelegt. Da er indeß von Frankreich Alles, von England nichts zu fürchten hatte, auch seine Neigung ihn mehr zu dem Heimathlande seiner ersten Gemahlin hinzog, so entsprach seine Haltung in der Regel dem englischen Interesse. Es war Leopold's Werk, daß Belgien nicht unter den beherrschenden Einfluß Frankreichs gerieth. Späterhin trat er auch zu Deutschland in freundlichere Be- ziehungen, weil die in der Revolution zurückgedrängten Vlamen wieder erstarkten und der schwunghafte Handelsverkehr mit dem Osten nicht vernachlässigt werden durfte. Mit der natürlichen Selbstüberschätzung schwacher Völker rühmten sich die Belgier fortan, daß ihr Land den Mittelpunkt der Staatengesellschaft bilde. Wie vormals die Holländer, pflegten sie die Theorie des europäischen Völkerrechts, gleichsam als eine nationale Wissenschaft, mit löblichem Eifer, aber auch mit einer philan- thropischen Einseitigkeit, welche deutlich zeigte, daß waffenlose Nationen die harten Machtfragen des Völkerverkehrs nicht unbefangen würdigen können. Im Grunde war der belgische Staat, so lange sein erster König regierte, nicht wahrhaft neutral wie die Schweiz, sondern, seiner Bestim- mung zuwider, der parteiische Bundesgenosse Englands, und mit gutem Rechte sagte Lord Palmerston: Belgien ist meine Tochter.
Die kleine Krone genügte dem Ehrgeiz Leopold's mit nichten; er benutzte sie zugleich als ein Mittel für die weltumfassenden Pläne seiner Familienpolitik. Dieser kühle Kopf, der so gleichmüthig über das legitime Recht anderer Fürsten hinwegsah und weder durch religiöse noch durch nationale Empfindungen je beunruhigt wurde, kannte nur ein einziges Vorurtheil: den Aberglauben an den historischen Beruf des Coburgischen Hauses; und in dieser fatalistischen Zuversicht lag eine Kraft, welche große Erfolge verbürgte. Ganz so blind wie einst die habsburgischen Ferdinande und Leopolde baute er auf den besonderen Schutz der Vorsehung für sein auserwähltes Geschlecht. Obgleich die Dynastie außer ihm selber nur
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Als Leopold gen Brüſſel aufbrach, gedachte er Wilhelm’s III. von Oranien und ſeiner kühnen Fahrt nach England. Gleich jenem gefeierten „großen Patrioten der Welt“ hoffte er als ein europäiſcher Staatsmann zugleich den Parlamentarismus zu retten und das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten. Freilich blieb er hinter ſeinem genialen Vorbilde eben- ſo weit zurück, wie das kleine Belgien hinter den verbündeten Seemächten der wilhelminiſchen Tage. Brüſſel ward wie einſt der Haag eine Stern- warte der Diplomatie; eine Menge amtlicher und perſönlicher Agenten unterichtete den Coburger über den Wandel der großen Geſtirne am europäiſchen Himmel. Doch eine wahrhaft ſelbſtändige Politik wie einſt der große Oranier konnte der König von Belgien nicht führen. Er ſah ſich auf den Schutz der Weſtmächte angewieſen und ward darum die Klammer, die ihren Bund zuſammenhielt; wie viele kleine Mißverſtänd- niſſe zwiſchen den beiden ihm gleich nahe verwandten Höfen hat er be- hutſam vermittelnd in der Stille beigelegt. Da er indeß von Frankreich Alles, von England nichts zu fürchten hatte, auch ſeine Neigung ihn mehr zu dem Heimathlande ſeiner erſten Gemahlin hinzog, ſo entſprach ſeine Haltung in der Regel dem engliſchen Intereſſe. Es war Leopold’s Werk, daß Belgien nicht unter den beherrſchenden Einfluß Frankreichs gerieth. Späterhin trat er auch zu Deutſchland in freundlichere Be- ziehungen, weil die in der Revolution zurückgedrängten Vlamen wieder erſtarkten und der ſchwunghafte Handelsverkehr mit dem Oſten nicht vernachläſſigt werden durfte. Mit der natürlichen Selbſtüberſchätzung ſchwacher Völker rühmten ſich die Belgier fortan, daß ihr Land den Mittelpunkt der Staatengeſellſchaft bilde. Wie vormals die Holländer, pflegten ſie die Theorie des europäiſchen Völkerrechts, gleichſam als eine nationale Wiſſenſchaft, mit löblichem Eifer, aber auch mit einer philan- thropiſchen Einſeitigkeit, welche deutlich zeigte, daß waffenloſe Nationen die harten Machtfragen des Völkerverkehrs nicht unbefangen würdigen können. Im Grunde war der belgiſche Staat, ſo lange ſein erſter König regierte, nicht wahrhaft neutral wie die Schweiz, ſondern, ſeiner Beſtim- mung zuwider, der parteiiſche Bundesgenoſſe Englands, und mit gutem Rechte ſagte Lord Palmerſton: Belgien iſt meine Tochter.
Die kleine Krone genügte dem Ehrgeiz Leopold’s mit nichten; er benutzte ſie zugleich als ein Mittel für die weltumfaſſenden Pläne ſeiner Familienpolitik. Dieſer kühle Kopf, der ſo gleichmüthig über das legitime Recht anderer Fürſten hinwegſah und weder durch religiöſe noch durch nationale Empfindungen je beunruhigt wurde, kannte nur ein einziges Vorurtheil: den Aberglauben an den hiſtoriſchen Beruf des Coburgiſchen Hauſes; und in dieſer fataliſtiſchen Zuverſicht lag eine Kraft, welche große Erfolge verbürgte. Ganz ſo blind wie einſt die habsburgiſchen Ferdinande und Leopolde baute er auf den beſonderen Schutz der Vorſehung für ſein auserwähltes Geſchlecht. Obgleich die Dynaſtie außer ihm ſelber nur
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Als Leopold gen Brüſſel aufbrach, gedachte er Wilhelm’s III. von
Oranien und ſeiner kühnen Fahrt nach England. Gleich jenem gefeierten
„großen Patrioten der Welt“ hoffte er als ein europäiſcher Staatsmann
zugleich den Parlamentarismus zu retten und das Gleichgewicht der
Mächte zu erhalten. Freilich blieb er hinter ſeinem genialen Vorbilde eben-
ſo weit zurück, wie das kleine Belgien hinter den verbündeten Seemächten
der wilhelminiſchen Tage. Brüſſel ward wie einſt der Haag eine Stern-
warte der Diplomatie; eine Menge amtlicher und perſönlicher Agenten
unterichtete den Coburger über den Wandel der großen Geſtirne am
europäiſchen Himmel. Doch eine wahrhaft ſelbſtändige Politik wie einſt
der große Oranier konnte der König von Belgien nicht führen. Er ſah
ſich auf den Schutz der Weſtmächte angewieſen und ward darum die
Klammer, die ihren Bund zuſammenhielt; wie viele kleine Mißverſtänd-
niſſe zwiſchen den beiden ihm gleich nahe verwandten Höfen hat er be-
hutſam vermittelnd in der Stille beigelegt. Da er indeß von Frankreich
Alles, von England nichts zu fürchten hatte, auch ſeine Neigung ihn
mehr zu dem Heimathlande ſeiner erſten Gemahlin hinzog, ſo entſprach
ſeine Haltung in der Regel dem engliſchen Intereſſe. Es war Leopold’s
Werk, daß Belgien nicht unter den beherrſchenden Einfluß Frankreichs
gerieth. Späterhin trat er auch zu Deutſchland in freundlichere Be-
ziehungen, weil die in der Revolution zurückgedrängten Vlamen wieder
erſtarkten und der ſchwunghafte Handelsverkehr mit dem Oſten nicht
vernachläſſigt werden durfte. Mit der natürlichen Selbſtüberſchätzung
ſchwacher Völker rühmten ſich die Belgier fortan, daß ihr Land den
Mittelpunkt der Staatengeſellſchaft bilde. Wie vormals die Holländer,
pflegten ſie die Theorie des europäiſchen Völkerrechts, gleichſam als eine
nationale Wiſſenſchaft, mit löblichem Eifer, aber auch mit einer philan-
thropiſchen Einſeitigkeit, welche deutlich zeigte, daß waffenloſe Nationen
die harten Machtfragen des Völkerverkehrs nicht unbefangen würdigen
können. Im Grunde war der belgiſche Staat, ſo lange ſein erſter König
regierte, nicht wahrhaft neutral wie die Schweiz, ſondern, ſeiner Beſtim-
mung zuwider, der parteiiſche Bundesgenoſſe Englands, und mit gutem
Rechte ſagte Lord Palmerſton: Belgien iſt meine Tochter.
Die kleine Krone genügte dem Ehrgeiz Leopold’s mit nichten; er
benutzte ſie zugleich als ein Mittel für die weltumfaſſenden Pläne ſeiner
Familienpolitik. Dieſer kühle Kopf, der ſo gleichmüthig über das legitime
Recht anderer Fürſten hinwegſah und weder durch religiöſe noch durch
nationale Empfindungen je beunruhigt wurde, kannte nur ein einziges
Vorurtheil: den Aberglauben an den hiſtoriſchen Beruf des Coburgiſchen
Hauſes; und in dieſer fataliſtiſchen Zuverſicht lag eine Kraft, welche große
Erfolge verbürgte. Ganz ſo blind wie einſt die habsburgiſchen Ferdinande
und Leopolde baute er auf den beſonderen Schutz der Vorſehung für ſein
auserwähltes Geſchlecht. Obgleich die Dynaſtie außer ihm ſelber nur
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/98>, abgerufen am 28.11.2024.
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