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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
zuletzt noch in dem Schlußvertrage vom 19. April 1839, die vollständige
Neutralität Belgiens ausbedungen hatten, allesammt von der Voraus-
setzung ausgegangen, daß die Unabhängigkeit des jungen Staates nur
von Frankreich her bedroht werden könne. Nun erfuhren sie, auf wie
lockerem Grunde alle diese papierenen Verheißungen standen; sie durften
nicht dulden, daß dies neutrale Land sich erdreistete als europäische Macht
aufzutreten, und ließen daher in Brüssel sehr nachdrücklich erklären: in
der gegenwärtigen Lage bedeute die bewaffnete Neutralität Belgiens nichts
anders als den Anschluß an Frankreich, den Bruch aller europäischen
Verträge.*)

Alle diese Wechselfälle beirrten den König von Preußen nicht in seiner
fast unbedingten Friedfertigkeit. Mit einer Wärme, welche weit über das
Maß seiner wirklichen Gefühle hinaus ging, betheuerte er dem Bürger-
könige beständig seine persönliche Verehrung. Die Londoner Conferenz
wünschte er nach Wien zu verlegen, wo man Frankreich zuziehen könne
und den Uebermuth Palmerston's nicht zu fürchten habe. Als er damit
nicht durchdrang, ließ er dem russischen Hofe aussprechen, wie viel Schmerz
ihm persönlich die ablehnende Haltung Brunnow's bereite.**) Noch deut-
licher schrieb Werther nach Petersburg: Rußland lege dem Julivertrage
einen ausschließlichen und aufreizenden Sinn unter, welchen Oesterreich
und Preußen niemals billigen könnten; ihnen sei es nie eingefallen, Frank-
reich für immer von den orientalischen Verhandlungen auszuschließen.
Rußland stütze sich auf Wüsten und auf friedliche Nachbarn und könne
sich daher wohl die Genugthuung gestatten, das Scheinbild des in Wahr-
heit nicht mehr bestehenden Bundes der Westmächte zu zerstören. Preu-
ßen dagegen, obwohl fest entschlossen einen aufgezwungenen Vertheidigungs-
kampf mit voller Kraft zu führen, müsse den Frieden wünschen, da bei
der Schwäche Oesterreichs und der kleinen Staaten "die ganze Last eines
deutschen Krieges auf Preußen fallen würde. Die Hilfe, welche uns Ruß-
land leisten könnte, würde, wie die Erfahrung gelehrt hat, verspätet, un-
vollständig und von tausend Uebelständen begleitet sein." An der Ver-
nichtung Mehemed Ali's wolle Preußen auf keinen Fall theilnehmen;
sein Ziel sei die Erhaltung des osmanischen Reichs unter Mitwirkung
Frankreichs.***) Ganz ebenso friedlich äußerte sich Metternich, obwohl er
seinen Abscheu gegen "Thiers' verworfene Persönlichkeit" mit starken Worten
bekundete;+) in langen lehrhaften Depeschen versuchte er den Mächten
zu zeigen, wie man Frankreich in das europäische Concert zurückführen könne.


*) Schleinitz's Bericht, London 18. Sept. Liebermann's Bericht, Petersburg 23.
Sept. 1840.
**) König Friedrich Wilhelm an Min. Werther, 26. Aug. 7. Oct. 1840.
***) Werther, geh. Weisung an Liebermann 31. Oct., Bericht an den König 9. Nov.,
Weisungen an Bülow 9. 11. Nov. 1840.
+) Metternich an Werther, 3. Sept. 1840.

V. 2. Die Kriegsgefahr.
zuletzt noch in dem Schlußvertrage vom 19. April 1839, die vollſtändige
Neutralität Belgiens ausbedungen hatten, alleſammt von der Voraus-
ſetzung ausgegangen, daß die Unabhängigkeit des jungen Staates nur
von Frankreich her bedroht werden könne. Nun erfuhren ſie, auf wie
lockerem Grunde alle dieſe papierenen Verheißungen ſtanden; ſie durften
nicht dulden, daß dies neutrale Land ſich erdreiſtete als europäiſche Macht
aufzutreten, und ließen daher in Brüſſel ſehr nachdrücklich erklären: in
der gegenwärtigen Lage bedeute die bewaffnete Neutralität Belgiens nichts
anders als den Anſchluß an Frankreich, den Bruch aller europäiſchen
Verträge.*)

Alle dieſe Wechſelfälle beirrten den König von Preußen nicht in ſeiner
faſt unbedingten Friedfertigkeit. Mit einer Wärme, welche weit über das
Maß ſeiner wirklichen Gefühle hinaus ging, betheuerte er dem Bürger-
könige beſtändig ſeine perſönliche Verehrung. Die Londoner Conferenz
wünſchte er nach Wien zu verlegen, wo man Frankreich zuziehen könne
und den Uebermuth Palmerſton’s nicht zu fürchten habe. Als er damit
nicht durchdrang, ließ er dem ruſſiſchen Hofe ausſprechen, wie viel Schmerz
ihm perſönlich die ablehnende Haltung Brunnow’s bereite.**) Noch deut-
licher ſchrieb Werther nach Petersburg: Rußland lege dem Julivertrage
einen ausſchließlichen und aufreizenden Sinn unter, welchen Oeſterreich
und Preußen niemals billigen könnten; ihnen ſei es nie eingefallen, Frank-
reich für immer von den orientaliſchen Verhandlungen auszuſchließen.
Rußland ſtütze ſich auf Wüſten und auf friedliche Nachbarn und könne
ſich daher wohl die Genugthuung geſtatten, das Scheinbild des in Wahr-
heit nicht mehr beſtehenden Bundes der Weſtmächte zu zerſtören. Preu-
ßen dagegen, obwohl feſt entſchloſſen einen aufgezwungenen Vertheidigungs-
kampf mit voller Kraft zu führen, müſſe den Frieden wünſchen, da bei
der Schwäche Oeſterreichs und der kleinen Staaten „die ganze Laſt eines
deutſchen Krieges auf Preußen fallen würde. Die Hilfe, welche uns Ruß-
land leiſten könnte, würde, wie die Erfahrung gelehrt hat, verſpätet, un-
vollſtändig und von tauſend Uebelſtänden begleitet ſein.“ An der Ver-
nichtung Mehemed Ali’s wolle Preußen auf keinen Fall theilnehmen;
ſein Ziel ſei die Erhaltung des osmaniſchen Reichs unter Mitwirkung
Frankreichs.***) Ganz ebenſo friedlich äußerte ſich Metternich, obwohl er
ſeinen Abſcheu gegen „Thiers’ verworfene Perſönlichkeit“ mit ſtarken Worten
bekundete;†) in langen lehrhaften Depeſchen verſuchte er den Mächten
zu zeigen, wie man Frankreich in das europäiſche Concert zurückführen könne.


*) Schleinitz’s Bericht, London 18. Sept. Liebermann’s Bericht, Petersburg 23.
Sept. 1840.
**) König Friedrich Wilhelm an Min. Werther, 26. Aug. 7. Oct. 1840.
***) Werther, geh. Weiſung an Liebermann 31. Oct., Bericht an den König 9. Nov.,
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[112/0126] V. 2. Die Kriegsgefahr. zuletzt noch in dem Schlußvertrage vom 19. April 1839, die vollſtändige Neutralität Belgiens ausbedungen hatten, alleſammt von der Voraus- ſetzung ausgegangen, daß die Unabhängigkeit des jungen Staates nur von Frankreich her bedroht werden könne. Nun erfuhren ſie, auf wie lockerem Grunde alle dieſe papierenen Verheißungen ſtanden; ſie durften nicht dulden, daß dies neutrale Land ſich erdreiſtete als europäiſche Macht aufzutreten, und ließen daher in Brüſſel ſehr nachdrücklich erklären: in der gegenwärtigen Lage bedeute die bewaffnete Neutralität Belgiens nichts anders als den Anſchluß an Frankreich, den Bruch aller europäiſchen Verträge. *) Alle dieſe Wechſelfälle beirrten den König von Preußen nicht in ſeiner faſt unbedingten Friedfertigkeit. Mit einer Wärme, welche weit über das Maß ſeiner wirklichen Gefühle hinaus ging, betheuerte er dem Bürger- könige beſtändig ſeine perſönliche Verehrung. Die Londoner Conferenz wünſchte er nach Wien zu verlegen, wo man Frankreich zuziehen könne und den Uebermuth Palmerſton’s nicht zu fürchten habe. Als er damit nicht durchdrang, ließ er dem ruſſiſchen Hofe ausſprechen, wie viel Schmerz ihm perſönlich die ablehnende Haltung Brunnow’s bereite. **) Noch deut- licher ſchrieb Werther nach Petersburg: Rußland lege dem Julivertrage einen ausſchließlichen und aufreizenden Sinn unter, welchen Oeſterreich und Preußen niemals billigen könnten; ihnen ſei es nie eingefallen, Frank- reich für immer von den orientaliſchen Verhandlungen auszuſchließen. Rußland ſtütze ſich auf Wüſten und auf friedliche Nachbarn und könne ſich daher wohl die Genugthuung geſtatten, das Scheinbild des in Wahr- heit nicht mehr beſtehenden Bundes der Weſtmächte zu zerſtören. Preu- ßen dagegen, obwohl feſt entſchloſſen einen aufgezwungenen Vertheidigungs- kampf mit voller Kraft zu führen, müſſe den Frieden wünſchen, da bei der Schwäche Oeſterreichs und der kleinen Staaten „die ganze Laſt eines deutſchen Krieges auf Preußen fallen würde. Die Hilfe, welche uns Ruß- land leiſten könnte, würde, wie die Erfahrung gelehrt hat, verſpätet, un- vollſtändig und von tauſend Uebelſtänden begleitet ſein.“ An der Ver- nichtung Mehemed Ali’s wolle Preußen auf keinen Fall theilnehmen; ſein Ziel ſei die Erhaltung des osmaniſchen Reichs unter Mitwirkung Frankreichs. ***) Ganz ebenſo friedlich äußerte ſich Metternich, obwohl er ſeinen Abſcheu gegen „Thiers’ verworfene Perſönlichkeit“ mit ſtarken Worten bekundete; †) in langen lehrhaften Depeſchen verſuchte er den Mächten zu zeigen, wie man Frankreich in das europäiſche Concert zurückführen könne. *) Schleinitz’s Bericht, London 18. Sept. Liebermann’s Bericht, Petersburg 23. Sept. 1840. **) König Friedrich Wilhelm an Min. Werther, 26. Aug. 7. Oct. 1840. ***) Werther, geh. Weiſung an Liebermann 31. Oct., Bericht an den König 9. Nov., Weiſungen an Bülow 9. 11. Nov. 1840. †) Metternich an Werther, 3. Sept. 1840.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/126>, abgerufen am 29.11.2024.