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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
Forderung auf: daß die Kirche in der Schule aufgehen und mit dieser
das Heerwesen sich verschmelzen müsse, dem Volke aber Selbstregierung
und eigene Justiz gebühre. Das Programm der reinen Demokratie war
verkündet. Auch die Zeitgedichte wählten die Person des Königs gern zur
Zielscheibe; ein weit verbreitetes Ghasel des kosmopolitischen Nachtwächters
höhnte: ein König soll nicht witzig sein, ein König soll nicht hitzig sein,
nicht strenge gegen Itzig sein, "er wolle nicht in jedem Ding -- hier schweig'
ich -- altenfritzig sein".

Diesen gewaltigen Ansturm der Opposition dachte Friedrich Wilhelm
hochsinnig nur durch geistige Waffen abzuschlagen. Er verlangte von den
Ministern und den Oberpräsidenten dringend, daß sie literarische Talente
gewinnen, durch belehrende Leitartikel und rasche Bekanntmachung der
Motive neuer Gesetze die Verdächtigungen bekämpfen sollten.*) Minister
Eichhorn ging auf die Absichten des Monarchen eifrig ein, er dachte in
Berlin und in jeder Provinz ein großes, zuverlässiges und doch nicht un-
freies conservatives Blatt zu gründen. Aber wie gänzlich war die Stim-
mung im Lande umgeschlagen. Vor zehn Jahren hatte Preußen neben
den beiden conservativen Zeitschriften Jarcke's und Ranke's keine einzige
liberale Zeitung besessen, jetzt trug fast die gesammte Journalistik liberale
Farben. Das Berliner politische Wochenblatt ging zu Neujahr 1842 ein.
Die Zeitschrift war durch ihren legitimistischen Uebereifer sowie durch ihre
geheimen Beziehungen zur russischen Gesandtschaft allmählich herabge-
kommen,**) und seit ihr rührigster Mitarbeiter Jarcke in Folge des Kölner
Bischofsstreites sich zurückzog, verlor sie Geist und Leben. Bald nach-
her verschwanden auch die Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kri-
tik, das Organ der Althegelianer; sie konnten den Wettkampf mit den
zeitgemäßen Schriften des philosophischen Radicalismus nicht mehr aus-
halten. Als der Minister sie für die Regierung zu gewinnen suchte, lagen
sie schon im Sterben. So galt es denn neue Blätter zu schaffen, da
die Staatszeitung auch unter der Leitung des neu berufenen tüchtigen Pub-
licisten Zinkeisen jene öde Langweiligkeit nicht ablegte, welche in Deutsch-
land fast allen amtlichen Blättern anhaftet.

Unbeirrt durch kleinliche Parteirücksichten, hoffte Eichhorn die besten
Federn der Nation für eine freimüthige Vertheidigung der preußischen Politik
zu gewinnen. Er wollte bei Karl Reimer, dem gleichgesinnten Sohne des
kürzlich verstorbenen hochangesehenen liberalen Buchhändlers, eine Zeitung
erscheinen lassen, und General Thile empfahl dem Könige für die Redac-
tion Dahlmann, "einen Mann von tadelfreier Gesinnung, dessen Name
in Deutschland einen guten Klang hat".***) Als aber Dahlmann, wie sich

*) Cabinetsordre an das Staatsministerium, 16. Jan.; Thile's Bericht, 25. Aug.
1842.
**) s. o. IV. 203.
***) Thile's Bericht an den König, 22. Sept. 1842.

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Forderung auf: daß die Kirche in der Schule aufgehen und mit dieſer
das Heerweſen ſich verſchmelzen müſſe, dem Volke aber Selbſtregierung
und eigene Juſtiz gebühre. Das Programm der reinen Demokratie war
verkündet. Auch die Zeitgedichte wählten die Perſon des Königs gern zur
Zielſcheibe; ein weit verbreitetes Ghaſel des kosmopolitiſchen Nachtwächters
höhnte: ein König ſoll nicht witzig ſein, ein König ſoll nicht hitzig ſein,
nicht ſtrenge gegen Itzig ſein, „er wolle nicht in jedem Ding — hier ſchweig’
ich — altenfritzig ſein“.

Dieſen gewaltigen Anſturm der Oppoſition dachte Friedrich Wilhelm
hochſinnig nur durch geiſtige Waffen abzuſchlagen. Er verlangte von den
Miniſtern und den Oberpräſidenten dringend, daß ſie literariſche Talente
gewinnen, durch belehrende Leitartikel und raſche Bekanntmachung der
Motive neuer Geſetze die Verdächtigungen bekämpfen ſollten.*) Miniſter
Eichhorn ging auf die Abſichten des Monarchen eifrig ein, er dachte in
Berlin und in jeder Provinz ein großes, zuverläſſiges und doch nicht un-
freies conſervatives Blatt zu gründen. Aber wie gänzlich war die Stim-
mung im Lande umgeſchlagen. Vor zehn Jahren hatte Preußen neben
den beiden conſervativen Zeitſchriften Jarcke’s und Ranke’s keine einzige
liberale Zeitung beſeſſen, jetzt trug faſt die geſammte Journaliſtik liberale
Farben. Das Berliner politiſche Wochenblatt ging zu Neujahr 1842 ein.
Die Zeitſchrift war durch ihren legitimiſtiſchen Uebereifer ſowie durch ihre
geheimen Beziehungen zur ruſſiſchen Geſandtſchaft allmählich herabge-
kommen,**) und ſeit ihr rührigſter Mitarbeiter Jarcke in Folge des Kölner
Biſchofsſtreites ſich zurückzog, verlor ſie Geiſt und Leben. Bald nach-
her verſchwanden auch die Berliner Jahrbücher für wiſſenſchaftliche Kri-
tik, das Organ der Althegelianer; ſie konnten den Wettkampf mit den
zeitgemäßen Schriften des philoſophiſchen Radicalismus nicht mehr aus-
halten. Als der Miniſter ſie für die Regierung zu gewinnen ſuchte, lagen
ſie ſchon im Sterben. So galt es denn neue Blätter zu ſchaffen, da
die Staatszeitung auch unter der Leitung des neu berufenen tüchtigen Pub-
liciſten Zinkeiſen jene öde Langweiligkeit nicht ablegte, welche in Deutſch-
land faſt allen amtlichen Blättern anhaftet.

Unbeirrt durch kleinliche Parteirückſichten, hoffte Eichhorn die beſten
Federn der Nation für eine freimüthige Vertheidigung der preußiſchen Politik
zu gewinnen. Er wollte bei Karl Reimer, dem gleichgeſinnten Sohne des
kürzlich verſtorbenen hochangeſehenen liberalen Buchhändlers, eine Zeitung
erſcheinen laſſen, und General Thile empfahl dem Könige für die Redac-
tion Dahlmann, „einen Mann von tadelfreier Geſinnung, deſſen Name
in Deutſchland einen guten Klang hat“.***) Als aber Dahlmann, wie ſich

*) Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 16. Jan.; Thile’s Bericht, 25. Aug.
1842.
**) ſ. o. IV. 203.
***) Thile’s Bericht an den König, 22. Sept. 1842.
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[202/0216] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. Forderung auf: daß die Kirche in der Schule aufgehen und mit dieſer das Heerweſen ſich verſchmelzen müſſe, dem Volke aber Selbſtregierung und eigene Juſtiz gebühre. Das Programm der reinen Demokratie war verkündet. Auch die Zeitgedichte wählten die Perſon des Königs gern zur Zielſcheibe; ein weit verbreitetes Ghaſel des kosmopolitiſchen Nachtwächters höhnte: ein König ſoll nicht witzig ſein, ein König ſoll nicht hitzig ſein, nicht ſtrenge gegen Itzig ſein, „er wolle nicht in jedem Ding — hier ſchweig’ ich — altenfritzig ſein“. Dieſen gewaltigen Anſturm der Oppoſition dachte Friedrich Wilhelm hochſinnig nur durch geiſtige Waffen abzuſchlagen. Er verlangte von den Miniſtern und den Oberpräſidenten dringend, daß ſie literariſche Talente gewinnen, durch belehrende Leitartikel und raſche Bekanntmachung der Motive neuer Geſetze die Verdächtigungen bekämpfen ſollten. *) Miniſter Eichhorn ging auf die Abſichten des Monarchen eifrig ein, er dachte in Berlin und in jeder Provinz ein großes, zuverläſſiges und doch nicht un- freies conſervatives Blatt zu gründen. Aber wie gänzlich war die Stim- mung im Lande umgeſchlagen. Vor zehn Jahren hatte Preußen neben den beiden conſervativen Zeitſchriften Jarcke’s und Ranke’s keine einzige liberale Zeitung beſeſſen, jetzt trug faſt die geſammte Journaliſtik liberale Farben. Das Berliner politiſche Wochenblatt ging zu Neujahr 1842 ein. Die Zeitſchrift war durch ihren legitimiſtiſchen Uebereifer ſowie durch ihre geheimen Beziehungen zur ruſſiſchen Geſandtſchaft allmählich herabge- kommen, **) und ſeit ihr rührigſter Mitarbeiter Jarcke in Folge des Kölner Biſchofsſtreites ſich zurückzog, verlor ſie Geiſt und Leben. Bald nach- her verſchwanden auch die Berliner Jahrbücher für wiſſenſchaftliche Kri- tik, das Organ der Althegelianer; ſie konnten den Wettkampf mit den zeitgemäßen Schriften des philoſophiſchen Radicalismus nicht mehr aus- halten. Als der Miniſter ſie für die Regierung zu gewinnen ſuchte, lagen ſie ſchon im Sterben. So galt es denn neue Blätter zu ſchaffen, da die Staatszeitung auch unter der Leitung des neu berufenen tüchtigen Pub- liciſten Zinkeiſen jene öde Langweiligkeit nicht ablegte, welche in Deutſch- land faſt allen amtlichen Blättern anhaftet. Unbeirrt durch kleinliche Parteirückſichten, hoffte Eichhorn die beſten Federn der Nation für eine freimüthige Vertheidigung der preußiſchen Politik zu gewinnen. Er wollte bei Karl Reimer, dem gleichgeſinnten Sohne des kürzlich verſtorbenen hochangeſehenen liberalen Buchhändlers, eine Zeitung erſcheinen laſſen, und General Thile empfahl dem Könige für die Redac- tion Dahlmann, „einen Mann von tadelfreier Geſinnung, deſſen Name in Deutſchland einen guten Klang hat“. ***) Als aber Dahlmann, wie ſich *) Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 16. Jan.; Thile’s Bericht, 25. Aug. 1842. **) ſ. o. IV. 203. ***) Thile’s Bericht an den König, 22. Sept. 1842.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/216>, abgerufen am 21.11.2024.